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Fünfzehntes Kapitel.

Der Kerker, in welchem der jüngere Philippson sich befand, war eines jener düsteren Verließe, die Schmach über die Unmenschlichkeit unserer Vorfahren herabrufen. Sie scheinen keinen Unterschied zwischen Schuld und Unschuld gemacht zu haben, da die Folgen einer bloßen Anklage in jenen Tagen weit schwerer waren, als es in unseren Tagen die wirkliche Gefangenschaft für ein erwiesenes und strafbares Verbrechen ist.

Die Zelle Arthur Philippsons war sehr lang, doch dunkel und enge, sie war in den festen Felsen gehauen, der das Fundament des Wartturms bildete. Eine kleine Lampe war dem Gefangenen gewährt worden; allein seine Arme waren noch immer gebunden; und als er einen Trunk Wasser begehrte, antwortete einer der grimmigen Schergen, von denen er in den Kerker geführt wurde, die paar Stunden, die er noch zu leben hätte, könnte er wohl dursten. Bei dem matten Schimmer des Lämpchens fand er den Weg zu einer Bank oder einem plumpen, in den Fels gehauenen Sitz; und da seine Augen allmählich an die Dunkelheit sich gewöhnten, fand er eine schaurige Spalte im Boden seines Gefängnisses, die einer Falltür glich, allem Anscheine nach die Mündung eines Schlundes, den die Natur unter leichter Nachhilfe menschlicher Kunst hier gebildet hatte.

»Hier also ist mein Totenbett,« sprach er, »und jener Abgrund vielleicht das Grab, das meinem Leichnam entgegengähnt. Ja, ich habe erzählen hören, wie man Gefangene lebendigen Leibes in solche scheußliche Kluft hinabstürzte, so daß sie unten, wo ihr Wimmern ungehört verklang, mit zerschelltem Leibe, jämmerlich ums Leben kommen mußten.«

Er beugte das Ohr zu der entsetzlichen Spalte und hörte in grauser Tiefe das Geheul eines brausenden und, wie es schien, unterirdischen Stromes. Die lichtlosen Wogen schienen nach ihrem Opfer herauf zu brüllen. Der Tod ist jedem Alter furchtbar; doch in der Blüte der Jugend, wo alle Empfindungen für die Freuden des Lebens rege sind und nach Befriedigung sich sehnen, gewaltsam von der Tafel hinweggerissen zu werden, an der der Mensch sich soeben niedergesetzt hat, ist ganz besonders entsetzlich; selbst wenn es auf gewöhnlichem Wege der Natur geschieht. Allein gleich dem jüngeren Philippson am Rande eines unterirdischen Abgrundes zu sitzen und im gräßlichen Zweifel über die Art und Weise des über ihn verhängten Todes zu grübeln, war ein Zustand, der auch den Mut des Kühnsten hätte erschüttern mögen, und der unglückliche Gefangene war gänzlich unfähig, die Tränen zurückzuhalten, die stromweise aus seinen Augen flossen und die er mit gebundenen Händen nicht abzutrocknen vermochte. Wir haben bereits dargetan, daß Arthur ein wackerer junger Mann war, der in allen Gefahren sich beherzt, bedacht, tatkräftig und ausdauernd zeigte. In dieser Lage aber, in so hilfloser Ungewißheit, in der die Einbildungskraft ihm alle möglichen Schrecken vormalte, ohne ihm einen einzigen Weg zur Rettung zu zeigen, brach seine Kraft zusammen.

Bei alledem waren die Gefühle bei Arthur Philippson nicht selbstsüchtiger Natur. Sie richteten sich auf seinen Vater, dessen biederer, edler Charakter Ehrfurcht erweckte, dessen endlose väterliche Sorgfalt und Zuneigung Liebe und Dankbarkeit verdienten. Und auch dieser rechtschaffene Vater war in den Händen gewissenloser Schurken, die entschlossen waren, ihren Raub unter heimlichen Morde zu verbergen! Arthur gedachte an die schwindelnd hohe Felsspitze des Geiersteins und an den grimmen Raubvogel, der ihn angestarrt hatte, seiner Beute gewiß. Hier war kein Engel, der durch den Nebel gedrungen wäre und ihn auf den Pfad der Sicherheit geführt hätte, hier in dieser unterirdischen Kluft herrschte ewiges Düster, bis zu dem Augenblicke, wo der Gefangene das Messer des Mörders im Schimmer der Lampe blitzen sähe. Diese Ermattung seiner Seele dauerte solange, bis das Fühlen und Denken des unglücklichen Gefangenen zur Raserei ausartete. Er fuhr auf und rang so gewaltsam mit seinen Banden, um sich von ihnen zu befreien, daß man hätte glauben wollen, sie wären von ihm abgefallen wie von den Armen des mächtigen Nazareners. Allein die Stricke waren zu fest angezogen, und nach fast übermenschlichem, wiederholt vergeblichem Kampfe, bei welchem die Stricke ihm das Fleisch zerschnitten, verlor der Gefangene das Gleichgewicht und fiel gewaltsam zu Boden, indem ihn der Schauergedanke durchrieselte, daß er rücklings in den unterirdischen Schlund hinabstürzte.

Glücklich entging er der Gefahr, jedoch nur mit so genauer Not, daß sein Kopf gegen die niedrige, zertrümmerte Umfriedigung stieß, von welcher die Mündung des entsetzlichen Schlundes zum Teil umgeben war. Hier lag er sinn- und regungslos und befand sich, da bei seinem Fallen die Lampe erloschen war, in völliger Finsternis.

Ein knallendes Getöse brachte ihn wieder zur Besinnung. – »Sie kommen, sie kommen, die Mörder! O, Mutter der Gnade! o, allerbarmender Himmel, vergib mir meine Schuld!« – Er blickte auf und sah mit verglasten Augen, daß eine schwarze Gestalt sich ihm näherte, die ein Messer in der einen, eine Fackel in der andern Hand hielt. Wohl hätte man meinen mögen, der Hereinschreitende wäre derjenige, der das letzte Werk an dem unglücklichen Gefangenen tun sollte. Doch er kam nicht allein. Seine Fackel beleuchtete das weiße Gewand eines weiblichen Wesens, und im matten Lichtscheine erkannte Arthur eine Gestalt und Gesichtszüge, deren er nimmer vergessen konnte, obwohl er sie jetzt unter Umständen vor sich sah, wo er sie zu schauen am wenigsten erwarten konnte. »Kann es möglich sein?« murmelte er erstaunt, »hat sie wirklich die Macht eines Elementargeistes? Hat sie diesen finsteren Dämon heraufbeschworen, daß er sich mit ihr vereine, mich zu befreien?«

Es schien, als wäre seine Mutmaßung Wirklichkeit; denn die schwarze Gestalt, die die Fackel Anna von Geierstein, oder doch der, der Anna völlig ähnlichen Erscheinung reichte, beugte sich über den Gefangenen und zerschnitt die Stricke, die ihm die Arme gebunden hielten. Arthurs erster Versuch, sich vom Boden zu erheben, mißlang, und zum zweitenmal war es die Hand Annas von Geierstein, die ihm half aufzustehen und ihn unterstützte, wie sie es damals getan hatte, als der Waldstrom zu beider Füßen donnerte. Ihre Berührung brachte eine Wirkung bei dem Jünglinge hervor, wie der leichte Beistand mädchenhafter Körperstärke es niemals vermocht hätte. Mut ward seinem Herzen, Regsamkeit seinen erstarrten und zerschundenen Gliedmaßen wiedergegeben; so gewaltig vermag die menschliche Seele, wenn sie in ihren Empfindungen gesteigert wird, ihren Einfluß auf die Schwächen des menschlichen Lebens geltend zu machen. Allein die Worte erstarben in des Jünglings Munde, als die geheimnisvolle weibliche Gestalt ihren Finger auf ihre Lippen legte, ihm ein Zeichen gab zu schweigen und ihm zu gleicher Zeit winkte, ihr zu folgen.

Er gehorchte in schweigendem Erstaunen.

Sie schritten durch den Eingang des dunklen Kerkers und durch etliche kurze, sich kreuzende Gänge, die an einigen Stellen in den Fels gehauen, an andern aus Quadersteinen angelegt worden waren und wahrscheinlich zu ähnlichen Verließen leiteten. Bei dem Gedanken, sein Vater sei in einen solchen Kerker gesperrt, blieb der junge Philippson stehen, als er an dem Fuß einer schmalen Wendeltreppe angelangt war, die dem Anscheine nach aus dieser Region des Gebäudes führte.

»Kommt,« sagte er, »teuerste Anna, führt mich, daß ich meinen Vater befreie. Ich darf ihn nicht verlassen.« – Die Gestalt schüttelte ungeduldig das Haupt und winkte dem Jüngling abermals. – »Wenn Eure Macht sich nicht so weit erstreckt, meines Vaters Leben zu retten, so will ich bleiben, ihn retten oder sterben! Anna, teuerste Anna«! – Sie antwortete nicht, allein ihr Begleiter entgegnete mit einer dumpfen Stimme, die seinem düstern Aeußern völlig entsprach: »Junger Mann, redet mit denen, denen es gestattet ist, Euch Antwort zu geben; oder besser noch, schweigt und hört auf meine Weisungen, die einzig und allein Euch dahin führen können, Eurem Vater Freiheit und Sicherheit zu verschaffen.«

Sie stiegen die Treppe hinan, indem Anna von Geierstein voranging, während Arthur ihr auf dem Fuße folgte. Er hatte nicht viel Zeit, über ihre Anwesenheit oder ihr Wesen zu grübeln, indem das Mädchen mit leichteren Tritten die Treppe hinanschwebte, als er ihr zu folgen vermochte, so daß er sie nicht mehr erblickte, als er die oberste Stufe erreichte. Ob sie aber in die Luft entschwebte oder in einem der Seitengänge verschwunden war, diese Frage zu beantworten, blieb ihm auch nicht ein Augenblick Zeit übrig.

»Dies ist Euer Weg,« sagte sein finsterer Führer, indem er das Licht auslöschte, Philippsons Arm ergriff und ihm durch eine lange, dunkle Galerie voranschritt. Den Jüngling wandelte allerdings eine vorübergehende Furcht an; denn er gedachte der unheimlichen Blicke seines Führers und daß dieser mit einem Dolche bewaffnet war, den er ihm plötzlich hätte ins Herz stoßen können. Doch konnte er auch wiederum nicht glauben, daß er von jemand, den er mit Anna von Geierstein hatte kommen sehen, Verräterei zu fürchten hätte; und entschlossen überließ er sich seinem Führer, der mit leisen Schritten vorwärts ging und ihn, flüsternd ermahnte, ein gleiches zu tun.

»Hier,« sprach er endlich, »endet unsere Wanderung.« – Bei diesen Worten öffnete er eine Türe, und sie traten in ein düsteres gotisches Gemach, das mit großen eichenen Wandschränken ausgestattet war, in denen sich dem Anscheine nach Bücher und Handschriften befanden. Als Arthur umherblickte, geblendet von dem plötzlich ihm entgegenstrahlenden Tageslicht, war die Tür nicht mehr zu sehen, durch die sie eingetreten waren. Dies überraschte ihn jedoch nicht sehr, da er wahrnahm, daß die Tür die Gestalt der umherstehenden Schränke haben mochte und also, nachdem sie geschlossen, von diesen nicht mehr zu unterscheiden war. Jetzt konnte er auch seinen Befreier genau betrachten, der, beim Lichte des Tages besehen, die Gestalt und Kleidung eines Geistlichen zeigte, ohne das mindeste von jenem übernatürlichen Schauer einzuflößen, den er im Dämmerlichte und in der schreckensvollen Umgebung des Kerkers dem Jüngling verursacht hatte.

Freier atmete der junge Philippson, gleich einem Menschen, der aus scheußlichem Traume erwachte; und die gespenstischen Eigenschaften, die seine Einbildungskraft Anna von Geierstein zugeschrieben hatte, begannen zu schwinden, so daß er imstande war, seinen Befreier also anzureden: »Damit ich, frommer Vater, meinen Dank darbringen möge, so laßt mich von Euch erfahren, wo Anna von Geierstein –« – »Redet von dem, was zu Euch und dem Eurigen gehört,« antwortete der Priester so rasch wie vorhin. »Habt Ihr so schnell Eures Vaters Gefahr vergessen?« – »Beim Himmel, nein!« erwiderte der Jüngling, »sagt mir nur, was ich tun soll, um ihn zu befreien, und Ihr sollt sehen, wie ein Sohn für seinen Vater zu fechten vermag!« – »So ist's recht, denn so ist's nötig,« sprach der Priester. »Lege dies Gewand an und folge mir.« – Das dargereichte Gewand war das eines Novizen. – »Ziehe die Kappe über Dein Gesicht,« sagte der Geistliche, »und antworte keinem, wer Dir auch begegne. Ich werde sagen, Du hättest ein Gelübde getan. Möge der Himmel dem unwürdigen Tyrannen vergeben, der uns zu einer so unheiligen Verstellung zwingt! Folge mir auf dem Fuße und gib acht, daß Du kein Wort redest.«

Das Kleid war rasch angelegt, der Pfarrherr von St. Paul, denn das war der Geistliche, schritt weiter, und Arthur folgte ihm, wobei er, so gut er es vermochte, den bescheidenen Gang und das demütige Benehmen eines Klosternovizen nachahmte. Als sie die Bücherei oder das Studiergemach verlassen hatten und eine kurze Treppe hinabgestiegen waren, befand sich Arthur Philippson auf einer Straße von La Ferette. Er konnte dem Drang zurückzublicken nicht widerstehen, hatte jedoch nur soviel Zeit zu sehen, daß das Haus, das er verlassen, ein sehr kleines Gebäude im gotischen Geschmack war, an dessen einer Seite sich die St. Pauls-Kirche erhob, an dessen anderer Seite aber das finstere, schwarze Torgebäude oder der Eingangsturm stieß.

»Folge mir, Melchior,« sagte mit dumpfer Stimme der Priester. Seine blitzenden Augen waren dabei auf den vermeintlichen Novizen gerichtet, und ein Blick derselben erinnerte unsern Arthur augenblicklich daran, sich seinem Stande gemäß zu benehmen. – Sie schritten weiter, ohne daß jemand auf sie achtete, außer daß man den Pfarrherrn schweigend und ehrfurchtsvoll, bisweilen auch wohl murmelnd grüßte, bis, als sie fast die Mitte des Oertchens erreicht hatten, der Führer plötzlich von der geraden Straße ablenkte und, nordwärts sich einem kurzen Gäßchen zuwendend, eine Stufenreihe erreichte, die, wie es in befestigten Städten häufig der Fall ist, zu einem Wege hinter den mit einem Türmchen besetzten Brustwehren führte.

Auf den Wällen befanden sich Schildwachen; allein die Posten waren, wie es schien, keine Kriegsknechte, sondern Bürger, die einen Spieß oder ein Schwert in der Hand trugen. Der erste Wachhabende, an dem sie vorübergingen, flüsterte dem Geistlichen zu: »Geht alles gut?« – »Es geht,« erwiderte der Pfarrer von St. Paul. – » Benedicite!« – » Deo gratias!« antwortete der bewaffnete Bürger und schritt wieder auf und ab.

Die übrigen Schildwachen schienen es zu vermeiden, die Vorübergehenden anzublicken, denn sie zogen sich zurück, als diese ihnen näher kamen, oder gingen an ihnen vorbei, ohne sie anzusehen. Endlich leitete ihr Gang sie zu einem alten Turme, der das Haupt hoch über den Wall erhob, in einer entlegenen Ecke führte eine kleine Tür auf die Brustwehr hinaus. In einer gut bewachten Festung steht an solch einem Ausgang stets eine Schildwache; hier war jedoch keine wahrzunehmen.

»Jetzt habt acht!« sprach der Pfarrer, »denn Eures Vaters Leben und, wie es wohl der Fall sein mag, noch manches anderen Menschen Leben hängt von Eurer Aufmerksamkeit und nicht minder von Eurer Hurtigkeit ab. – Könnt Ihr laufen? – Könnt Ihr springen?« – »Ich fühle keine Ermüdung mehr, ehrwürdiger Vater, seit Ihr mich befreit habt,« antwortete Arthur, »und der schwarzbraune Hirsch, den ich oftmals jagte, soll's mir nicht im Rennen zuvor tun.« – »Sieh Dir diesen Turm an,« fuhr der schwarze Priester von St. Paul fort: »eine Treppe führt darin zu einer kleinen Ausfallpforte. Ich bringe Dich in den Turm. Die Pforte ist von innen nicht verschlossen. Durch sie gelangst Du in den fast ganz trocknen Graben. Bist Du über den Graben hinweg, so befindest Du Dich im Bezirk der Außenwerke. Du wirst Schildwachen erblicken – sie aber werden Dich nicht sehen – rede nicht mit ihnen, sondern suche Deinen Weg über die Spitzpfähle, so gut Du's eben vermagst. Ich denke, Du wirst über einen unbesetzten Wall klettern können.« – »Ich habe schon einen Wall erstiegen, der besetzt war,« sagte Arthur. »Was liegt mir ferner ob? All dies ist leicht.« – »Du wirst vor Dir ein Dickicht sehen, eile dorthin, so schnell Du kannst. Bist Du dort, so wende Dich ostwärts, allein sieh Dich bei Deinem Laufe nach dieser Richtung vor, daß Du nicht von den burgundischen Freisassen gesehen wirst, die auf jenem Teile des Walles Wache stehen. Ein Hagel von Pfeilen ereilt Dich sonst, eine Schar Reiter setzt Dir nach, und ihre Augen sind gleich denen des Aars, der aus der Ferne seine Beute erspäht. Jenseits des Dickichtes wirst Du einen Fußpfad oder vielmehr einen Schafsteig finden, auf dem Du die Heerstraße erreichst, die von La Ferette nach Basel führt. Eile Dich, daß Du die Schweizer triffst, die heranziehen. Sage Ihnen, daß Deines Vaters Stunden gezählt sind, und daß sie sich sputen müssen, wenn sie ihn retten wollen, sage auch dem Rudolf von Donnersberg im geheimen, daß der schwarze Priester von St. Paul am nördlichen Ausfallpförtchen seiner harrt, um ihn den Segen zu erteilen. Verstehst Du mich?« – »Vollkommen!« antwortete der Jüngling.

Der Pfarrer von St. Paul stieß nun das niedrige Tor des Turmes auf, und Arthur war schon bereit, die Treppe, die vor ihm lag, hinabzueilen, – »Halt, noch einen Augenblick,« sagte der Geistliche, »leg das Novizenkleid ab, das Dir nur beschwerlich sein kann.« – Im Nu warf er es von sich und wollte hinabeilen. »Noch einen Augenblick!« fuhr der schwarze Priester fort. »Dieses Gewand könnte zum Verräter werden – halt also, und hilf mir mein Oberkleid ausziehen.«

Innerlich glühend vor Ungeduld, sah Arthur dennoch ein, daß er seinem Führer gehorchen müsse; und als er ihm das lange, weite Obergewand hatte ablegen helfen, sah er den Greis in einem Rock von schwarzer Serge, wie Geistliche ihn zu tragen pflegen, vor sich stehen; doch war der Pfarrherr nicht mit einem seinem Stande zukommenden Gürtel bekleidet, sondern trug ein ganz ungeistliches Gehänge, in welchem ein kurzes doppelschneidiges Schwert steckte, das sich zum Hiebe wie zum Stiche eignete. – »Jetzt gib mir das Novizenkleid,« sagte der ehrwürdige Pater, »und über dasselbe ziehe ich sodann meinen Priesterrock. Da ich für den Augenblick etliche Kennzeichen eines Laien an mir trage, so ist es rätlich, sie mit einem gedoppelten geistlichen Gewand zu verdecken.« – Bei diesen Worten lächelte er grinsend, und sein Lächeln war weit erschreckender und abstoßender als die ernsten Runzeln auf seiner Stirn, die besser zu seinen Gesichtszügen paßten, »Und nun,« fragte er dann, »welcher Narr säumt, wenn Leben und Tod von seiner Eile abhängen?«

Der junge Bote wartete keinen zweiten Wink ab, sondern sprang die Treppe hinunter, als hätte sie nur eine einzige Stufe gehabt, fand die Pforte, wie der Priester ihm gesagt hatte, nur verriegelt, hatte sie im Handumdrehen geöffnet und schritt weiter zu dem sumpfigen Graben. Ohne erst zu untersuchen, ob er tief oder flach wäre, ja, fast ohne des Schlammes zu achten, bahnte sich der junge Engländer einen Weg und erreichte die entgegengesetzte Seite, ohne die Aufmerksamkeit zweier wackeren Bürger von La Ferette zu erregen, die diesen Punkt zu bewachen hatten.

Als Arthur sah, daß er, wie der Priester es ihm vorher gesagt hatte, nichts von der Wachsamkeit dieser Posten zu befürchten hätte, sprang er an den Palisaden hinauf, in der Hoffnung, den Rand oben zu fassen und mit einem kühnen Satz sich hinüber zu schwingen. Doch dabei überschätzte er seine Kräfte, oder diese waren durch die jüngst erlittene Kerkerhaft geschwächt worden. Er fiel rücklings auf den Boden, und als er sich wieder aufrichtete, gewahrte er in der Nähe einen in Gelb und Blau, die Leibfarben des Hagenbachers, gekleideten Kriegsknecht, der auf ihn losgerannt kam und den trägen und unaufmerksamen Schildwachen zurief: »Paßt auf! paßt auf, Ihr faulen Schweine! Haltet den Hund auf, oder Ihr seid beide des Todes!«

Der Bürger, der zunächst war, zog sein Schwert, schwang es und näherte sich mit sehr gemäßigter Eile unserm Flüchtling. Der zweite war jedoch weit unglücklicher, denn in seiner Eile, seiner Pflicht nachzukommen, rannte er, als sei es ganz unabsichtlich, dem Kriegsknechte gerade in den Weg. Letzterer, der aus Leibeskräften lief, erlitt von dem Bürgersmann einen so heftigen Stoß, daß beide zu Boden fielen. Da aber der Bürger ein derber, wohlbeleibter Mann war, so blieb er da liegen, wo er hingefallen war, während der Krieger über den Rand des Grabens hinrollte und im Schlamm und Sumpf versank. Die Bürger schritten bedächtig heran, um dem unwillkommenen Soldaten Beistand zu leisten, während Arthur, angespornt durch das Bewußtsein, daß Gefahr im Verzuge sei, mit mehr Geschicklichkeit und Kraft als vorhin über die Palisaden hinwegsetzte und auf dem ihm bezeichneten Wege mit größter Eile und Umsicht den Schutz der naheliegenden Gebüsche suchte. Er erreichte sie, ohne irgend welchen Lärm von den Wällen her zu vernehmen. Doch wußte er recht wohl, daß seine Lage höchst mißlich war, indem seine Flucht mindestens einem Menschen in der Stadt kund war, und zwar einem, der nicht ermangeln würde, Lärm zu machen, sobald er nur aus dem Sumpfe heraus sein würde. Diese Besorgnis lieh seinen Beinen noch größere Schnelligkeit, und er befand sich bald in dem lichteren Teile des Gebüsches, von wo aus er, wie der schwarze Priester es ihm beschrieben hatte, den östlichen Wartturm mit den anliegenden Brustwehren – »gedrängt besetzt mit Feinden und mit Waffen«– erblickte. Es erforderte von seiten des Flüchtlings große Geschicklichkeit sich so in Deckung zu halten, daß er von denen nicht erblickt werden konnte, die er so deutlich sah. Es gelang ihm aber, aus ihrem Gesichtskreise unbemerkt hinauszukommen, und indem er vorsichtig dem Schafsteige nachging, den der Priester ihm bezeichnet hatte, erreichte er nach kurzer Frist die offene, stark besuchte Landstraße, auf der sein Vater und er sich am Morgen dieses Tages der Stadt genähert hatten, und hatte das Glück, bald darauf den Vortrab der Schweizer Gesandtschaft zu treffen.

Nicht lange währte es, so war er der Schar nahe, die aus etwa zehn Mann bestand, Rudolf von Donnersberg an der Spitze. Die mit Schlamm bedeckte, hin und wieder mit Blut befleckte Gestalt Philippsons (denn sein Fall im Kerker hatte ihm eine leichte Wunde zugezogen) erregte Verwunderung bei allen, die ihn umringten, um seine Kunde zu vernehmen. Rudolf allein schien unbewegt zu sein. Gleich dem Angesichte der alten Bildsäulen von Herkules, zeigte sich das Antlitz des plumpen Berners breit und derb, mit einer Miene von Gleichgültigkeit und fast starrer Erstorbenheit, die sich nur in Augenblicken der wildesten Aufwallung änderten.

Ohne Gemütsbewegung hörte er die Erzählung des atemlosen Philippson an, wie dessen Vater sich im Kerker befände und zum Tode verurteilt wäre. – »Und was sonst habt Ihr erwartet?« fragte der Berner frostig. »Wart Ihr nicht gewarnt? Es wäre leicht gewesen, das Unheil vorher zu sehen; allein es möchte unmöglich sein, es nun abzuwenden.« – »Ich gestehe, ich gestehe,« sagte Arthur händeringend, »daß Ihr weise wart und daß wir töricht waren. Doch gedenkt nicht unserer Torheit in diesem Augenblick unserer Bedrängnis! Seid der tapfere und hochherzige Kämpe, den Eure Kantone in Euch verehren! schenkt uns Euren Beistand zu diesem tödlichen Streite!« – »Aber wie und auf welche Weise?« fragte Rudolf, noch immer zögernd. »Wir haben die Baseler entlassen, die uns willig Beistand geleistet hätten; solche Gewalt hat Euer pflichtgemäßes Beispiel über uns. Wir zählen jetzt kaum zwanzig Mann – wie könnt Ihr von uns begehren, eine feste Stadt anzugreifen, die durch Wälle geschirmt wird und eine Besatzung zählt, welche sechsmal stärker ist als wir?« – »Ihr habt Freunde innerhalb der Brustwehren,« sagte Arthur. »Der schwarze Priester sendet Euch – Euch, Rudolf von Donnersberg – die Botschaft, daß er Eurer harrt am nördlichen Ausfallpförtchen, um Euch den Segen zu erteilen.«

»Ei, freilich,« sagte Rudolf, indem er tat, als ob er sich dem Versuche Arthurs, im geheimen mit ihm zu reden, entzöge, und so laut sprach, daß alle Umstehenden ihn hören konnten, »freilich wird am nördlichen Ausfalltor ein Priester mich beichten lassen und der Sünde ledig sprechen, ehe eben dort der Henker mir die Gurgel abschneidet. Wenn sie dort einen englischen Krämer abschlachten, der ihnen nichts getan hat, was werden sie mit den Bären von Bern anfangen, dessen Klauen und Tatzen Archibald von Hagenbach stets gefühlt hat.«

Bei diesen Worten schlug der junge Philippson die Hände zusammen, und hob sie auf gegen den Himmel, gleich einem, den alle Hoffnung außer der verläßt, die nach unmittelbarer Hilfe von oben schreit. Tränen schossen in seine Augen, und die Fäuste ballend und die Zähne zusammenbeißend, kehrte er plötzlich den Schweizern den Rücken. – »Was soll diese Heftigkeit?« fragte Rudolf. »Wohin wollt Ihr jetzt?« – »Meinen Vater erlösen oder mit ihm sterben,« sagte Arthur und wollte wie wahnsinnig nach La Ferette zurückrennen, als eine derbe, jedoch wohlmeinende Faust ihn zurückhielt.

»Warte ein wenig, bis ich mein Knieband festgebunden habe,« sagte Sigismund Biedermann, »dann gehe ich mit Dir, König Arthur.« – »Du? Hoho!« rief Rudolf; »Du? und das ohne Befehl?« – »Schaut nur, Vetter Rudolf,« sprach der Jüngling, der mit großer Gelassenheit fortfuhr, sein Knieband zu befestigen. »Ihr schwatzt uns immer vor, daß wir Schweizer freie Leute sind; und welchen Nutzen hat denn ein Mensch von seiner Freiheit, so er nicht tun kann, was ihm beliebt? Ihr seid mein Hauptmann, solange es mir gefällt, aber nicht länger. Den jungen Burschen hier habe ich lieb, denn er schalt mich immer einen Narren oder Strohkopf, wenn meine Gedanken vielleicht langsamer kamen als die Gedanken anderer Leute. Und auch seinen Vater habe ich lieb – der alte Mann gab mir dies Band hier und dies Jägerhorn. Der biedere Alte befindet sich jetzt in des Hagenbachers Klauen! Du sollst ihn frei machen, Arthur, so zwei Männer das vermögen. Du sollst mich fechten sehen, so lange eine Stahlplatte und ein Eichenschaft zusammenhalten.«

Aufrichtige und eindringliche Worte sind niemals bei unverderbten, hochherzigen Gemütern verloren. Mehrere der umherstehenden Jünglinge zollten der Rede Sigismunds laut Beifall und erklärten, man müsse alles tun, den älteren Philippson zu befreien.

»Still, ihr naseweisen Herren!« sagte Rudolf, indem er mit einer Miene von Ueberlegenheit umherblickte; »und Ihr König Arthur, geht zu dem Landammanne, der hinter uns drein zieht; Ihr wißt, er ist unser Oberbefehlshaber, ist nicht minder Eures Vaters Freund, und was immer er beschließen möge zu Gunsten Eures Vaters, das soll von uns allen auf das bereitwilligste ins Werk gesetzt werden.«

Seine Gefährten schienen in diesen Ratschlag einzustimmen, und der junge Philippson sah ein, daß ihm nichts anderes übrig bliebe, als sich drein zu fügen. Freilich mutmaßte er noch immer, daß der Berner, der mit den Schweizer wie mit den Baseler Jünglingen in heimlichen Verabredungen stand, was auch aus den Worten des Priesters von St. Paul hervorging, ihm in diesen Bedrängnissen beizustehen die Macht hätte; dennoch vertraute er weit mehr auf die einfache Redlichkeit und schlichte Treue des Landammannes, zu dem er hineilte, ihm seinen traurigen Bericht abzustatten und ihn um Beistand zu bitten.

Von der Höhe eines Rasens, den er in wenigen Minuten, nachdem er von Rudolf und dem Vortrabe geschieden war, erreichte, erblickte er den ehrwürdigen Arnold Biedermann und dessen Gefährten, von wenigen Jünglingen geleitet. Hinter ihnen kamen etliche Maultiere mit dem Gepäcke und die beiden bekannten Tiere, die bei dem früheren Teil ihrer Wanderung Anna von Geierstein und deren Begleiterin trugen. Auf jedem derselben saß eine weibliche Gestalt, und so gut Arthurs scharfes Auge es zu erkennen vermochte, hatte die erste derselben Annas Kleider an, vom grauen Staubschleier bis zu der Reiherfeder, die sie, seit sie auf deutschem Boden war, gemäß der Landessitte und als Abzeichen ihres Standes angesteckt hatte. Wie hatte er sich nun wieder das rätselhafte Erscheinen genau derselben Gestalt vor kaum einer halben Stunde im unterirdischen Kerker von La Ferette zu erklären?

Doch bevor er Zeit hatte, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, war er dem Landammann und dessen Schar schon nahe. Hier erregte sein Erscheinen wie sein Zustand das nämliche Erstaunen, wie vorhin bei dem Vortrabe. Auf die wiederholten Fragen des Landammannes gab er kurzen Bericht über seine eigene Einkerkerung und über seine Flucht, ohne dabei mit einem einzigen Worte der weiblichen Erscheinung zu gedenken, die dem Pfarrherrn in seinem menschenfreundlichen Werke Beistand geleistet hatte. Auch über einen zweiten Punkt schwieg Arthur. Er sah keine Notwendigkeit, dem Landammann die Botschaft mitzuteilen, die der Priester ihm ausschließlich für Rudolfs Ohr mitgeteilt hatte. Ob Gutes oder Schlimmes daraus hervorgehen möchte, er hielt es für eine heilige Pflicht, das Schweigen nicht zu brechen, das ihm von einem Manne auferlegt war, von dem er soeben den wichtigsten Beistand erhalten hatte.

Der Landammann erstarrte einen Augenblick vor Kummer und Verwunderung.

»Laßt uns fürbaß eilen,« sagte er dann zu dem Bannerträger von Bern und den anderen Abgeordneten. »Laßt uns unsere Vermittelung anbieten, zwischen dem Tyrannen von Hagenbach und unserm Freund, dessen Leben gefährdet ist. Er muß es hören, denn ich weiß, daß sein Herzog Verlangen trägt, diesen Philippson an seinem Hofe zu sehen. Der alte Mann gab mir darüber so manchen Wink. Da wir im Besitze eines solches Geheimnisses sind, so wird Archibald von Hagenbach unserer Rache nicht trotzen dürfen.«


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