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Fünftes Kapitel.

Der Landammann von Unterwalden und der ältere Philippson gingen, als sie die jungen Leute bei ihren Scherzen und Spielen zurückgelassen hatten, gemeinsam weiter, indem sie sich hauptsächlich über die politischen Angelegenheiten Frankreichs, Englands und Burgunds unterhielten, bis das Gespräch sich änderte, als sie in den alten Schloßhof des Geiersteins eintraten, in dessen Mitte sich der einsame, von andern Ruinen umringte Turm erhob. – »Das ist seinerzeit ein stolzer, fester Bau gewesen,« sagte Philippson. – »Es war ein stolzes, machtvolles Geschlecht, dem es gehört hat,« versetzte der Landammann. »Die Grafen von Geierstein haben eine Geschichte, die hinaufreicht bis in die Zeiten der alten Helvetier. Allein alle irdische Größe hat ein Ende, und freie Leute wandeln jetzt auf den Ruinen der Zwingburg ihres Lehnsherrn.« – »Ich gewahre,« sagte der Kaufmann, »auf einem Steine unter jenem Turmgesims, wie mich dünkt, das Wappen der Familie: einen Geier, der auf einem Felsen sitzt.« – »Es ist das alte Wahrzeichen des Hauses,« erwiderte Arnold Biedermann.

»Ich bemerkte auch in Eurem Saale,« fuhr der Handelsmann fort, »einen Helm, der auf seinem Kamme eben dies Wahrzeichen trägt. Er ist wohl auch ein Andenken an einen Sieg der Schweizer Landleute über die Edlen von Geierstein?« – »Nein, lieber Herr. Als die Schweizer sich von der Sklaverei freimachten, wurde zwar manches stolze Schloß aus gerechter Rache des gereizten Volkes geplündert und zerstört, aber den Geierstein traf dieses Schicksal nicht. Das Blut der alten Besitzer dieser Türme fließt noch in den Adern dessen, der heute diese Ländereien besitzt. – »Wie habe ich das zu verstehen, Herr Landammann?« fragte Philippson. »Seid Ihr nicht selbst Besitzer dieser Gegend?«

»Und wahrscheinlich denkt Ihr,« versetzte Arnold, »ich könne nicht von altadeligem Geschlecht abstammen, weil ich gleich andern Hirten lebe, weil ich ein selbstgesponnen und selbstgewebtes Gewand trage und den Pflug mit eigener Hand lenke? Es gibt in diesen Kantonen manchen Bauersmann von adeliger Abstammung, aber diese Edlen haben freiwillig auf ihre Rechte als Lehnsherren verzichtet.«

»Allein,« erwiderte der Kaufmann, der noch nicht mit dem Gedanken vertraut werden konnte, daß sein schlichter Wirt ein Mann von vornehmer Geburt war, »Ihr tragt nicht den Namen Eurer Väter, werter Herr – jene waren, sagt Ihr, Grafen von Geierstein, und Ihr seid.« –

»Arnold Biedermann, Euch zu dienen,« versetzte der Landammann, »doch brauche ich nur den Helm dort aufzusetzen oder eine Falkenfeder auf meine Mütze zu stecken, so kann ich mich Arnold, Graf von Geierstein nennen. Schon mein Großvater Heinrich von Geierstein, machte gemeinsame Sache mit den verbündeten Bauern, um de Courey's räuberische Schar zu verjagen, wie ich Euch schon erzählte, und als der Krieg mit Oesterreich wieder anfing, focht mein Ahnherr im Gegensatz zu vielen Adeligen, die es mit Kaiser Leopold hielten, an der Spitze der verbündeten Schweizer und trug durch seine Geschicklichkeit und Tapferkeit zu dem entscheidenden Siege bei Sempach bei. Mein Vater dachte ebenso wie mein Großvater, schloß sich eng an den Kanton Unterwalden, wurde Mitglied der Eidgenossenschaft und tat sich so hervor, daß er zum Landammann der Gemeinde gewählt wurde. Er hatte zwei Söhne, mich und meinen jüngeren Bruder, Albert, und äußerte bei seinem Tode den Wunsch, daß einer seiner Söhne Graf von Geierstein bleiben, der andere als freier Insasse von Unterwalden leben und seinen Mitbürgern sich widmen sollte. Er bot mir, als seinem ältesten Sohne die weite Besitzung von Geierstein an, und schlug meinem jüngeren Bruder vor, schweizerischer Bauer und Bürger zu werden. Der aber erhob Einspruch. »Nein, Vater,« sprach er, »Geierstein ist ein Reichslehn, und nach dem Gesetz habe ich ein Anrecht, auf die Hälfte des Besitztums. Soll mein Bruder ein Graf von Geierstein sein, so bin ich nicht minder Graf Albert von Geierstein; und ich werde eher den Kaiser anrufen, als mir Rang und Stand nehmen lassen, sei es auch durch meinen Vater.« – »Geh,« sagte dieser voller Zorn, »stolzer Knabe, klage gegen Deinen Vater bei einem willkürlichen Fürsten. Geh, doch komm mir nicht wieder vor Augen und fürchte meinen ewigen Fluch!« Schon wollte Albert heftig antworten, da erklärte ich mich mit dem Wunsche meines Vaters einverstanden und bereit, Bauer und Bürger von Unterwalden zu werden. So ward denn Albert zum Erben des Schlosses und Ranges unter dem Titel Graf Albert von Geierstein erklärt, und ich wurde Besitzer dieser Felder und reichen Matten, aus deren Mitte mein Haus sich erhebt, und meine Nachbarn benannten mich Arnold Biedermann. Mein Bruder erhielt noch andere Besitzungen in Schwaben und Westfalen und kam nur selten auf sein väterliches Schloß, das er von einem Vogt verwalten ließ, der sich bei den Untergebenen des Grafen höchst verhaßt machte. Aber auch mein Bruder, wenn er bisweilen den Geierstein besuchte, wußte sich durchaus nicht beliebt zu machen. Er hörte nur auf seinen grausamen, eigennützigen Vogt, Ital Schreckenwald genannt, und selbst meine Vorstellungen waren in den Wind geredet. Mich sah er für einen rohen und beschränkten Bauer an, der das edle Blut seines Stammes durch gemeine Neigungen besudelte. Bei jeder Gelegenheit ließ er gegen seine Landsleute merken, wie tief er sie verachtete. Mit Vorliebe trug er auf der Mütze eine Pfauenfeder, obgleich er wußte, daß dies Abzeichen des Hauses Oesterreich im Schweizerlande tödlich gehaßt wurde und. daß mancher schon bloß deshalb erschlagen worden war, weil er dieses Abzeichen getragen. Inzwischen heiratete ich meine Berta, die jetzt eine Heilige im Himmel ist und mir sechs Söhne schenkte, von denen Ihr heute fünf an meinem Tische gesehen habt. Auch Albert nahm eine Frau – eine Adelige aus Westfalen. Er hatte nur eine Tochter: Anna von Geierstein. Dann brach der Krieg zwischen unseren Waldstätten und der Stadt Zürich aus, die sich zu Oesterreich schlagen wollte. Mein Bruder ergriff nicht nur die Waffen für des Kaisers Sache, sondern nahm auch in die Feste Geierstein eine Schar österreichischer Söldner auf, mit denen der gottlose Ital Schreckenwald die ganze Umgebung, mit Ausnahme meines kleinen väterlichen Erbes, verwüstete. Ich zog gegen diese Räuber und Strauchdiebe, und der Kampf wurde mit wechselndem Glücke geführt. Während meiner Abwesenheit brannte der Vogt von Geierstein mein Haus nieder und erschlug meinen jüngsten Sohn, der seinen väterlichen Herd verteidigte. Meine Aecker wurden verwüstet, meine Herden weggetrieben. Dafür, glückte es dann mir, mit Hilfe einer Schar Bauern aus Unterwalden, das Schloß Geierstein zu erstürmen. Die Burg wurde entfestigt.«

»Und was sagte Euer Bruder dazu?« – »Er war sicherlich des Glaubens, ich hätte sein Schloß in der Absicht genommen, mich dadurch zu bereichern. Er schwur sogar, mich in offener Feldschlacht aufzusuchen und mit eigener Hand zu erschlagen. Wirklich fochten wir beide in der Schlacht bei Freienbach; aber mein Bruder war durch einen Pfeil verwundet worden und mußte weggetragen werden. Nachher nahm ich noch an den blutigen Gefechten auf dem Hirzelberge und bei der Sankt Jakobskapelle teil, nach denen Zürich zur Nachgiebigkeit genötigt und Oesterreich nochmals gezwungen war, Friede mit uns zu schließen. Nach diesem Kriege, der dreizehn Jahre währte, erließ der Reichstag ein Urteil lebenslänglicher Verbannung gegen meinen Bruder Albert und hätte auch seine Besitzungen konfisziert, nur daß man in Rücksicht auf die Dienste, die ich dem Lande geleistet hatte, davon absah. Als der Spruch dem Grafen von Geierstein mitgeteilt ward, gab er eine trotzige Antwort; jedoch nicht lange Zeit nachher zeigte uns ein Umstand, daß Albert doch noch an seinem Vaterlande hing und auch meiner unverändert gebliebenen Liebe zu ihm Gerechtigkeit widerfahren ließ.«

»Ich möchte meinen Kredit verwetten,« sagte der Handelsmann, »daß das, was nun folgt, Eure Nichte betrifft.« – »Ganz richtig,« versetzte der Landammann. »Wir hörten also, daß mein Bruder am Hofe des Kaisers in hohen Gnaden gestanden hätte, jedoch vor kurzem verdächtigt und in die Verbannung geschickt worden wäre. Kurze Zeit, nachdem uns diese Kunde geworden, und es sind, wie mich dünkt, jetzt etwa sieben Jahre her, kehrte ich von der Jagd am jenseitigen Flußufer zurück, war wie gewöhnlich über die schmale Brücke geschritten und ging durch den Hofraum, als eine Stimme in deutscher Sprache ausrief: »Ohm, habt Mitleid mit mir!« Als ich mich umschaute, gewahrte ich ein Dirnlein von zehn Jahren, das aus den Ruinen scheu hervortrat und mir zu Füßen sank. Bittend hob sie die Händlein zu mir auf. »Bin ich Dein Ohm, kleines Mädchen,« sagte ich, »wie kannst Du Furcht vor mir hegen?« – »Weil Ihr das Haupt der gottlosen und schändlichen Bauern seid, die ihre Freude daran finden, das Blut der Edlen zu vergießen,« versetzte die Dirne mit einem Mute, der mich überraschte. – »Wie heißt Du, mein kleines Mädchen?« fragte ich, »wer hat Deinen Verwandten so bei Dir angeschwärzt, und wer brachte Dich hierher?« – »Ital Schreckenwald,« sagte das Kind, das nur zur Hälfte meine Fragen verstehen mochte. – »Ital Schreckenwald!« denn schon der Name dieses Verhaßten brachte mich in Wut. Eine Stimme, die wie das dumpfe Echo aus einem Grabe erscholl, rief aus den Ruinen: »Ital Schreckenwald!« und der Schuft trat aus seinem Schlupfwinkel hervor und stand mir gegenüber. Ich hatte meinen Bergstecken in der Hand – schon wollte ich ihn niederschlagen – allein er war unbewaffnet, eine Bote meines Bruders, – ich durfte mich nicht an ihm vergreifen. Er begann in der ihm eigenen Verwegenheit: »Vasall des edlen, hochgeborenen Grafen von Geierstein, vernimm die Worte Deines Herrn und leiste ihnen Gehorsam! Zieh' die Mütze ab und horche; denn ist auch die Stimme mein, so sind es doch die Worte des edlen Grafen.« – »Gott und Menschen wissen,« versetzte ich, »ob ich meinem Bruder Hochachtung und Unterwürfigkeit schuldig bin; es ist viel, wenn ich aus Rücksicht gegen ihn seinem Botschafter nicht die Peitsche gebe. Fahre fort, und befreie mich möglichst bald von Deiner verhaßten Gegenwart.« – »Albert von Geierstein, Dein Herr und mein Herr,« fuhr Schreckenwald fort, »sendet seine Tochter, die Gräfin Anna, und vertraut sie Deiner Obhut, bis er soweit seine Zwecke erreicht haben wird, daß er sie von Dir zurückfordern mag. Er verlangt, daß Du zu ihrem Unterhalte die Renten und Erträgnisse der Ländereien von Geierstein verwendest, die Du ihm entrissen hast.« – »Wenn die Umstände, wie Du sagst, es meinem Bruder unmöglich machen,« antwortete ich, »seine Tochter bei sich zu behalten, so werde ich ihr ein Vater sein, und es soll ihr an nichts mangeln. Die Ländereien von Geierstein aber sind dem Staate verfallen, das Bergschloß ist zerstört worden, wie Du siehst, und daran trägt die größte Schuld Deine Schändlichkeit. Und somit hast Du Deine Botschaft – geh von hinnen, so Dir Dein Leben lieb ist; denn gefährlich ist's, höhnisch zum Vater zu reden, während Deine Hände mit dem Blute seines Sohnes gefärbt sind.« Der Elende entwich, als ich so sprach, und erlöste mich aus der schweren Versuchung, unter der ich rang, mit seinem Blute den Ort zu benetzen, wo er viele seiner Grausamkeiten und Verbrechen verübt hatte. Ich begleitete meine Nichte in mein Haus und überzeugte sie bald, daß ich ihr treuester Freund war. Gleich als wäre sie meine Tochter, machte ich sie vertraut mit der Lebensweise auf unseren Bergen. Jetzt gilt Anna von Geierstein mit Recht für die Krone des Bezirkes; dabei zweifle ich nicht, daß, wenn sie einen würdigen Mann zum Gatten wählen sollte, der Staat ihr ein reiches Heiratsgut aus ihres Vaters Besitzungen zufließen läßt, da es bei uns nicht Grundsatz ist, das Kind um der Fehler seiner Eltern willen zu strafen.«

»Es wird natürlich Euer sehnliches Verlangen sein, mein würdiger Gastfreund,« entgegnete der Engländer, »Eurer Nichte eine Heirat zu sichern, wie ihre Geburt und Ansprüche, vor allem aber ihr Verdienst es erheischen.« – »Das ists eben, mein ehrlicher Gast,« sagte der Landammann, »was schon oft meine Gedanken beschäftigt hat. Allzunahe Verwandtschaft verbietet es mir, Anna einen meiner eigenen Söhne heiraten zu lassen. Jener Rudolf von Donnersberg ist tapfer und geachtet bei seinesgleichen, aber zu ehrgeizig und streberhaft, auch jähzornig, wenn auch von Herzen gut. Doch werde ich wohl, wenn auch auf etwas unangenehme Weise, von aller Sorge befreit werden, denn mein Bruder, der sie sieben Jahre lang anscheinend vergessen hatte, schrieb mir kürzlich, ich solle Anna zurückgeben. – Ihr könnt lesen, werter Herr, denn Euer Gewerbe verlangt das. Seht, hier ist die Rolle. Lest laut, ich bitte Euch!«

Demzufolge las der Kaufmann: »Bruder – ich danke Euch für die Sorge, die Ihr für meine Tochter getragen habt, denn sie ist in Sicherheit gewesen, während sie ohne Euch in Gefahr hätte leben müssen. Ich bitte Euch jetzt, sie mir zurückzuliefern, und hoffe, sie wird gern bereit sein, die Gewohnheiten einer Schweizer Bäuerin gegen die Anmut eines hochgeborenen Fräuleins zu vertauschen. – Lebt wohl, ich danke Euch nochmals für Eure Sorgfalt, die ich Euch vergelten würde, so es in meiner Macht stände. Ich verbleibe Euer Bruder

Geierstein.« –

»Der Brief,« setzte der Engländer hinzu, »ist überschrieben: »An den Grafen Arnold von Geierstein, genannt Arnold Biedermann.« Eine Nachschrift bittet Euch, das Mädchen an den Hof des Herzogs von Burgund zu senden. – Dies, lieber Herr, scheint mir die Sprache eines stolzen Mannes zu sein, der zwischen Erinnerung an frühere Beleidigung und wiedererwachtem Pflichtgefühl schwankt. Wollt Ihr nun, das schöne, liebenswürdige Mädchen dem, wie es scheint, halsstarrigen Vater zurückgeben, ohne vorher zu fragen, was er mit ihr im Sinne hat, oder wie sie überhaupt bei ihm aufgehoben sein wird?« – Der Landammann versetzte hastig: »Das Band, das Vater und Kind verknüpft, ist das älteste und heiligste. Ich wollte das Mädchen nur nicht allein reisen lassen, sonst wäre meines Bruders Wunsch schon erfüllt. Da ich jetzt aber selbst an den Hof Karls ziehen muß, so habe ich beschlossen, Anna mitzunehmen. Da ich selbst einmal meinen Bruder sprechen will, den ich seit vielen Jahren nicht gesehen habe, so werde ich ja hören, was er mit seiner Tochter vorhat. Vielleicht kann ich ihn dazu bestimmen, daß er das Mädchen auch fernerhin bei mir läßt.«

Indem sie also miteinander sprachen, erreichten sie den Rasen vor Arnold Biedermanns Wohnung wieder, wo die Jünglinge nach beendetem Wettstreit ein Tänzchen machten. Kaum jedoch erschien der Landammann mit seinem Gaste, so war Anna, die mit dem jungen Philippson getanzt hatte, die erste, die diese Gelegenheit ergriff, den Tanz abzubrechen und sich mit ihrem Verwandten wegen einer unter ihrer Aufsicht stehenden Wirtschaftsangelegenheit zu besprechen. Philippson gewahrte, daß sein Wirt achtsam auf die Frage seiner Nicht hörte und nach seiner gewohnten freimütigen Weise mit einem Kopfnicken sein Einverständnis zu erkennen gab.

Nach dem Abendessen führte man die Gäste in ein Schlafgemach, wo Philippson und der junge Arthur ein und dasselbe Lager einzunehmen hatten, und bald darauf waren sämtliche Insassen des Hauses in tiefen Schlaf versunken.


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