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Achtes Kapitel

Das Geschrei und die Zurufe menschlicher Stimmen wurden bald lauter über ihnen, und das Licht von Fackeln mischte sich in den Schein des Abends, der inmitten der Finsternis des Sturmes noch immer nicht völlig erloschen war. Es wurde ein Versuch gemacht, eine Verständigung zwischen den Leuten oben, die Hilfe brachten, und den Duldern unten, die noch immer an ihrer gefahrvollen Steinplatte hingen, herzustellen. Aber bei dem Geheul des Sturmes blieb ihre Verständigung auf Schreie beschränkt, die so unartikuliert waren, wie die der gefiederten Bewohner des Felsens, die entsetzt über den wiederholten Klang menschlicher Stimmen hier, wo sie nur selten vernommen wurden im Chore kreischten.

Am Rande des Abgrunds hatte sich nun eine angstvolle Gruppe versammelt. Oldbuck war der vorderste und besorgteste. Mit ungewohnter Kühnheit wagte er sich bis an die Schneide des Absturzes, Hut und Perücke hatte er durch ein ums Kinn geschlungenes Taschentuch festgemacht. So reckte er den Kopf über die schwindelnde Tiefe mit einer Miene der Entschlossenheit, die seinen etwas furchtsamen Gefährten großen Respekt einflößte.

»Sehen Sie sich vor, sehen Sie sich vor, Monkbarns,« rief Caxon, indem er seinen Gönner an den Rockschößen festhielt und ihn, soweit seine Kräfte erlaubten, vor Gefahr schützte. – »Um Gottes Willen, sehen Sie sich vor! Sir Arthur ist schon ertrunken, und wenn Sie noch über die Klippe hinabstürzen, dann ist bloß noch eine Perücke im Sprengel da, nämlich dem Geistlichen seine.«

»Geben Sie acht auf den Fels da!« rief Mucklebackit, ein alter Fischer und Schmuggler. »Steenie Wilks, bring das Tau her – ich steh dafür, daß wir sie in einer halben Stunde alle an Bord haben, Monkbarns, wenn Sie nur aus dem Wege gehen wollten.«

»Ich seh sie,« sagte Oldbuck, »ich seh sie dort unten auf dem flachen Steine. Hilli-Halloh!«

»Ich sehe sie selber gut genug,« sagte Mucklebackit, »sie sitzen da unten wie Krähen im Nebel. Aber bilden denn Sie sich ein, Sie helfen ihnen, wenn Sie da herumschreien wie ein alter Seerabe vorm Unwetter? – Steenie, stell den Mast auf, paßt auf, ich kriege sie herauf, wie wir immer die Branntweinfässer heraufgeleiert haben – bring die Hacke her – mach den Sitz an der Strickleiter fest – Nun stramm ans Werk.«

Die Fischer hatten den Mast eines Bootes mitgebracht, und da die Hälfte der Bauernburschen aus der Umgegend teils aus Neugierde, teils aus Eifer mitgekommen war, so war der Mast bald in die Erde gesenkt und genügend fest gemacht. Eine quer auf dem Mast befestigte Segelstange und ein an ihr entlang gefühltes Tau, das an beiden Enden durch einen Block gesteckt war, bildeten einen primitiven Kran, an welchem ein sicher festgebundener Lehnstuhl nach einem flachen Stein, auf dem die Dulder hockten, heruntergelassen werden konnte.

Ihre Freude, als sie oben die Vorbereitungen zu ihrer Befreiung treffen hörten, sank beträchtlich, als sie die unsichere schwankende Vorrichtung sahen, mittels der sie in die Luft emporgehoben werden sollten. Der Lehnstuhl schaukelte eine Elle weit von dem Flecke, auf dem sie saßen; jedem Zuge des Sturmes gehorchend, die leere Luft rings um ihn her, so hing er nur an dem Halt eines Taues, das bei der zunehmenden Finsternis zu einem fast unerkenntlichen.

An sich war es ein Wagnis, ein menschliches Wesen in solch einem haltlosen Beförderungsmittel der leeren Luft zu übergeben, aber es kam noch die furchtbare Gefahr hinzu, daß der Stuhl und die Person auf ihm entweder durch den Sturm oder durch die Schwingungen des Seiles gegen die rauhe Felswand geschleudert und zerschellt würden. Um aber die Gefahr so weit wie möglich zu vermindern, hatte Faden eingeschrumpft war der erfahrene Seemann mit dein Stuhle ein zweites Seil hinuntergelassen, das daran befestigt und von den Leuten unten festgehalten werden sollte. Auf diese Weise wurde der Aufzug stetiger und war weniger der Gewalt des Sturmes preisgegeben.

Aber um sich inmitten eines heulenden Sturmes von Regen und Wind, einem solchen Sitz anzuvertrauen, über sich den überhängenden Felsen, unter sich den tosenden Abgrund, dazu gehörte der Mut, den nur die Verzweiflung einzugeben vermag, Sa wild aber auch der Lärm und der Anblick der Gefahr waren, über ihnen, unter ihnen und um sie her, und so bedenklich und gefahrvoll der Rettungsweg erschien, so kamen Lovel und der alte Bettler nach kurzer Beratung und nachdem der erstere unter großer Gefahr für sein Leben sich durch einen kräftigen Ruck an dem Tau davon überzeugt hatte, daß es fest war, dahin überein, daß es das beste sei, Fräulein Wardour auf dem Stuhle festzubinden und der Fürsorge der Leute oben anzuvertrauen, die sie gewiß wohlbehalten auf die Höhe hinaufziehen würden.

»Lassen Sie meinen Vater zuerst hinauf,« rief Isabella. »Um Gottes Willen, meine Freunde, bringen Sie ihn zuerst in Sicherheit.«

»Es kann nicht sein, Fräulein Wardour,« sagte Lovel. »Ihr Leben muß zuerst gerettet werden. Das Tau kann wohl Ihre Last aushalten, aber es könnte –«

»Ich will auf einen so selbstsüchtigen Grund nicht hören.«

»Aber Sie müssen darauf hören, gute Dame,« sagte Ochiltree, »denn unser aller Leben hängt davon ab. Wenn Sie hinaufkommen, können Sie den Leuten genau beschreiben, wie es hier auf unsrer Zuflucht aussieht, und das ist, glaube ich, jetzt von Sir Arthur nicht zu erwarten.«

Dies leuchtete ihr ein und sie rief:

»Wahr, sehr wahr! Ich bin bereit und will als erste den Versuch machen – was soll ich unser Freunden oben sagen?«

»Bloß daß sie sich vorsehen sollen, daß ihr Tau nicht an der Felswand schurrt, und den Stuhl herablassen und fein behutsam wieder hinaufziehen sollen. Wenn wir hier fertig sind, rufen wir.«

Mit der bedachtsamen Aufmerksamkeit eines Vaters zu seinem Kinde, band Lovel mit seinem Taschentuch, Halstuch und dem ledernen Leibriemen des Bettlers Fräulein Wardour an die Rücken- und Armlehnen des Stuhles fest, sorgsam prüfte er die Festigkeit jedes Knotens, während Ochiltree Sir Arthur beruhigte.

»Was tut Ihr da mit meinem lieben Kinde? – Sie soll nicht von mir weggenommen werden – Isabella, bleibe bei mir, ich befehle es dir!«

»Ums Himmels Willen, Sir Arthur, halten Sie den Mund und danken Sie lieber Gott, daß klügere Leute als Sie die Sache in die Hände genommen haben.«

»Lebe wohl, mein Vater – leben Sie wohl, meine Freunde,« murmelte Isabella, dann schloß sie die Augen, dem Rat des erfahrenen Ochiltree folgend, und gab das Zeichen Lovel, der es wieder denen oben weiter gab. Sie stieg empor. während der Stuhl durch das Seil, das Lovel unten hielt, in ruhiger Lage gehalten wurde. Mit klopfendem Herzen folgte er dem wehenden Fleck ihres weißen Kleides, bis der Fahrstuhl in einer Höhe mit dem Rande des Abgrundes war.

»Vorsichtig nun, Jungens, vorsichtig!« rief der alte Mucklebackit, der als Kommodore tätig war, »laßt die Raa ein wenig nach! So, nun sitzt sie wohlbehalten auf dem Trockenen!«

Lauter Jubelruf meldete ihren Leidensgefährten unten das glückliche Gelingen, sie antworteten unverzüglich mit frohem Halloh. Monkbarns zog in seiner übergroßen Freude den Mantel aus, um die junge Dame einzuhüllen, und hätte zu demselben Zweck noch Rock und Weste ausgezogen, wenn ihn der vorsichtige Caxon nicht davon abgehalten hätte.

»Sehen Sie sich vor, Herr, Sie erkälten sich auf den Tod! Der Wagen steht ja da unten, zwei Burschen mögen, die junge Dame dorthin tragen.«

»Sie haben recht,« sagte der Altertümler und schob Ärmel und Kragen seines Rockes wieder zurecht, »Caxon, Sie haben recht. Fräulein Wardour, ich will Sie nach dem Wagen bringen.«

»Nicht um die Welt! erst will ich meinen Vater gerettet sehen!«

Mit ein paar klaren Worten, die deutlich ausdrückten, wie ihre Entschlossenheit selbst die tödliche Furcht vor einem so auflegenden Wagnis überwunden hatte, schilderte sie die Lage unten und die Wünsche Lovels und Ochiltrees.

»Sehr recht, sehr recht. Ich möchte selber, den Sohn von Sir Gamelyn de Guardover aufs trockne gebracht sehen. Ich vermute, er würde gern auf die Ragman-Liste verzichten und zugeben, daß es mit der Königin Maria doch nicht weit her sei, wenn er nur wieder neben meiner Flasche alten Portwein sitzen könnte, von der er weggelaufen ist – kaum angebrochen war sie! Aber er ist nun in Sicherheit, und da kommt er an – da kommt er an –« (denn der Stuhl war wieder heruntergelassen und Sir Arthur darauf befestigt worden, der freilich fast ganz ohne Besinnung war) – »seid vorsichtig mit ihm, Jungens, ein Stammbaum von hundert Gliedern hängt jetzt an diesem Tau – die ganze Baronie von Knockwinnock hängt an dem Seile! – Willkommen, willkommen, mein guter alter Freund, auf festem Lande, wenn ich auch nicht sagen kann auf warmem Lande oder auf trockenem Lande!«

Während Oldbuck so sprach, wurde Sir Arthur, der wohlbehalten oben angelangt war, von seiner Tochter in die Arme geschlossen. Dann befahl sie ein paar Burschen, ihn nach dem Wagen zu bringen, indem sie versprach, ihm binnen kurzem zu folgen. Sich am Arme eines alten Bauern haltend, blieb sie noch auf der Klippe. Wahrscheinlich wollte sie nun auch erst die beiden andern, deren Gefahren sie geteilt hatte, gerettet sehen.

»Was haben wir denn hier?« rief Oldbuck, als der Stuhl noch einmal emporstieg. »Was für ein zerzaustes verwittertes Ding kommt denn da an?«

Dann fiel der Fackelschein auf das alte rauhe Antlitz und das graue Haar Ochiltrees.

»Was? du bists! Na, komm nur her, alter Gaukler, ich, muß schon gut Freund mit dir sein – aber wer zum Teufel hat dir denn noch Gesellschaft geleistet?«

»Einer, der noch einmal soviel wert ist wie wir beide zusammen, Monkbarns – der junge Fremde ists, den sie Lovel nennen – und er hat sich in dieser verdammten Nacht so tapfer gezeigt, als hätte er drei Leben, auf die er bauen könnte, und als wolle er alle drei willig hingeben, ehe er andre Leute in Gefahr ließe! – Zieht vorsichtig, es ist niemand mehr unten, der das zweite Tau halten kann.«

»Ja, seht Euch vor, Mucklebackit! Was, es ist mein Reisegefährte aus dem Omnibus? – nehmt Euch in acht, Mucklebackit!«

»So sehr in acht, als wenn 'ne Tonne Branntwein dranhinge,« versetzte der Fischer. »Joho, meine Jungens, herauf mit ihm!«

Lovel schwebte in der Tat in weit größerer Gefahr als irgend einer seiner Vorgänger. Sein Gewicht war nicht schwer genug, als daß es sich bei dem heftigen Sturm ruhig und sicher hätte hinaufziehen lassen, und er schaukelte wie ein Pendel, jeden Augenblick in der tödlichen Gefahr, am Felsen zerschmettert zu werden. Aber er war jung, beherzt und gewandt, und mit Hilfe des starken spitzen Stabes Ochiltrees, den er auf den Rat des Bettlers hin unten behalten hatte, gelang es ihm, sich von dem Felsen und den noch schärfer hervorspringenden Klippen abzuhalten. Im leeren Räume hin und her gewirbelt wie eine leichte, wesenlose Feder, in so heftiger Bewegung, daß jeder andere vor Furcht und Schwindel die Besinnung hätte verlieren müssen – verlieh ihn die flinke Gewandtheit und die Geistesgegenwart nicht. Erst als er glücklich auf der Höhe der Klippe angelangt war, befiel ihn vorübergehend ein Unwohlsein und Schwindel.

Als er aus einer leichten Ohnmacht wieder zu sich gekommen war, sah er sich hastig um. Die, die er so gern noch erblickt hätte, war schon fast aus dem Gesicht, und ihr weißes Kleid war gerade noch zu sehen, während sie auf dem Wege dahin eilte, den ihr Vater bereits gegangen war. Sie hatte so lange gewartet, bis der letzte ihrer Unglücksgefährten aus der Gefahr errettet war und bis Mucklebackit ihr versichert hatte, daß er mit heilen Gliedern heraufgekommen sei und nur eine leichte Betäubung ihn befallen habe.

Aber Lovel wußte nichts davon, daß sie soviel Anteil an seinem Schicksal bekundet hatte, und wenn es auch nur eben soviel war, wie einem Fremden zukam, der ihnen in solcher Stunde der Gefahr geholfen hatte, so hatte doch Lovel dafür noch weit mehr sein Leben aufs Spiel gesetzt, als er an diesem Abend getan hatte.

Dem Bettler hatte sie schon befohlen, am Abend noch nach Knockwinnock zu kommen. Er hatte sich entschuldigt.

»Wann laßt Euch morgen sehen.«

Der alte Mann hatte versprochen zu gehorchen. Oldbuck schob ihm etwas in die Hand. Ochiltree sah sichs beim Fackelschein an und sagte, indem er es ihm wieder zurückgab:

»Nein, nein, Gold nehme ich nie, – und außerdem, Monkbarns, morgen würde es Ihnen leid tun.« Dann wandte er sich an die Schar von Fischern und Bauern.

»Na,« sagte er, »wer will mir ein bißchen Abendbrot und eine Schütte frisches Stroh geben?«

»Ich!« und »Ich!« und »Ich!« rief manche Stimme bereitwillig.

»Na, da es so ist, und ich nur in einer Hütte auf einmal schlafen kann, so will ich mit Saunders Mucklebackit nuntergehn – er hat auch eine gute Suppe zu Hause. Und liebe Leute, es trifft sich vielleicht noch, daß ich bei euch andern allen mal eine Nacht einsprechen und euch daran erinnern kann, daß ihr mir Quartier und milde Gabe versprochen habt.«

Oldbuck hielt Lovel mit starker Hand fest.

»Heute nacht dürfen Sie mir nicht erst noch nach Fairport, junger Mann, Sie müssen mit mir nach Monkbarns gehen. Ei, Mann, Sie sind ein Held gewesen – ein richtiger William Wallace in allen Stücken. Kommen Sie, mein guter Junge, halten Sie sich an meinem Arme fest, ich bin freilich keine sehr standfeste Stütze in solchem Sturme, aber Caxon wird uns helfen – hier, Sie alter Idiot, kommen Sie auf die andere Seite. Und wie zum Teufel find Sie auf diese Felsenplatte hinuntergekommen?«

»Ich bin ein geübter Bergsteiger und ich habe seit langem schon die Vogeljäger beobachtet, wenn sie hier heruntergestiegen sind.«

»Aber wie bei allem, was wunderbar ist, haben Sie die Gefahr des kindischen Barons und seiner weit tüchtigeren Tochter erkennen können?«

»Ich sah sie vom Rande des Abgrundes aus.«

»Vom Rande? Hat Sie der leibhaftige Teufel geplagt, daß Sie sich bis an den Rand des Abgrundes gewagt haben?«

»Nun – ich sehe gern, wie ein herannahender Sturm sich grollend entfacht, – oder um mit ihrer klassischen Redeweise zu sprechen, Herr Oldbuck, suave mari magno, und so weiter – doch hier biegt der Weg nach Fairport ab, ich wünsche Ihnen guten Abend.«

»Nicht einen Schritt, nicht einen Fuß, nicht einen Zoll, nicht eines Schuhes Breite –«

»Aber, mein lieber Herr, ich muh wirklich heim, ich bin bis auf die Haut naß.«

»Sie sollen meinen Schlafrock haben und meine Pantoffel, Mann – nein, ich weiß schon, was dahinter steckt, Sie fürchten, Sie könnten dem alten Junggesellen Unkosten machen. Aber von der gloriosen Hühnerpastete ist noch ein gutes Stück da, und meo arditrio, schmeckt die kalt besser als warm. Und dann ist auch noch die Flasche von meinem ältesten Portwein da, aus der der alberne schwachsinnige Baron – ich kann ihm nicht mehr verzeihen, seit er sich um ein Haar das Genick gebrochen hat – gerade ein Glas getrunken hat, als er in seiner Blödsinnigkeit wegen Sir Gamelyn de Guardove in Wolle geriet.«

Mit diesen Worten zog er Zovel mit bis zu dem Tore seines Hauses. Nie vielleicht waren zwei Männer hindurch gegangen, die der Ruhe bedürftiger gewesen wären, denn Monkbarns war so abgespannt, wie er seit erdenklicher Zeit nicht wieder gewesen war, von der so ganz seinen sonstigen Gewohnheiten widersprechenden Anstrengung, und sein jüngerer und kraftvollerer Gefährte hatte an diesem Abend eine Gemütserregung erlitten und überstanden, die ihn mehr als seine gewohnheitsmäßigen Leibesübungen mitgenommen und erschöpft hatte.


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