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Siebentes Kapitel

Die Mitteilung des Gärtners, die in Monkbarns so große Bestürzung wachgerufen hatte, war zutreffend. Sir Arthur und seine Tochter waren ihrem ersten Vorsatz gemäß willens gewesen, auf der Landstraße nach Knockwinnock zurückzukehren. Aber als sie die sogenannte grüne Gasse erreichten, sahen sie ein Stückchen vor sich Lovel, der absichtlich langsam zu gehen schien, um mit ihnen zusammenzutreffen.

Fräulein Wardour schlug sofort ihrem Vater vor, einen andern Weg zu gehen und, da es schönes Wetter war, über die Dünen heimzukehren, die unterhalb eines malerischen Kammes von Klippen sich hinstreckend, fast zu allen Zeiten eine angenehmere Verbindung zwischen Monkbarns und Knockwinnock boten als die Landstraße.

Sir Arthur stimmte bereitwillig ein.

Es sei nicht gerade angenehm, sagte er, wenn dieser junge Mann mit ihnen gehen wollte, den Oldbuck ihnen vorzustellen sich die Freiheit genommen habe. Seine altmodische Höflichkeit wußte noch nichts von den bequemen Manieren unserer Zeit, einen, mit dem man eine Woche lang Verkehr gehabt hat, zu »schneiden«, wenn man gerade so gelaunt ist, oder wenn man sich in einer Lage befindet, wo es einem unangenehm ist, sich als einen Bekannten des Betreffenden zu bekennen. Sir Arthur bestimmte nur, daß ein kleiner, zerlumpter Bengel für ein Trinkgeld von einem Penny zum Kutscher laufen und ausrichten sollte, daß die Equipage nach Knockwinnock zurückfahren solle.

Als dies erledigt und der Sendbote abgeschickt war, bogen der Ritter und seine Tochter von der Chaussee ab und schlugen einen Pfad ein, der sich zwischen hügeligen Dünen hinschlängelte. Sie waren zum Teil bewachsen mit Pfriemenkraut und Binsen. Auf diesem Wege erreichten sie bald die Meeresküste. Die Flut konnte bei weitem nicht mehr so fern sein, wie sie erwartet hatten, aber das beunruhigte sie nicht, es gab kaum zehn Tage im Jahre, wo sie so dicht an die Klippen herangekommen wäre, daß nicht noch ein trockener Fußweg geblieben wäre.

Aber zu Zeiten der Springflut, oder wenn die gewöhnliche Flut durch hohe Winde beschleunigt wurde, dann war dieser Weg ganz unter Wasser, und es wurden manche Unglücksfälle berichtet, die dann sich zugetragen hatten. Allein solche Gefahr hielten die beiden für ausgeschlossen, und sie ließen sich dadurch nicht abhalten, am Strande entlang von Monkbarns nach Knockwinnock zu gehen, wie es die meisten andern Leute ja auch taten.

Als Sir Arthur und Fräulein Wardour dahinschritten, den schönen Spaziergang auf dem kühlen feuchten festen Sande angenehm empfindend, bemerkte Fräulein Wardour unwillkürlich, daß die letzte Flut die gewöhnliche Fluthöhe beträchtlich überschritten habe. Sir Arthur machte die gleiche Beobachtung, aber sie erblickten beide hierin keinen Grund, sich zu beunruhigen.

Die Sonne ruhte jetzt mit ihrer riesigen Scheibe am Saume des spiegelglatten Ozeans und vergoldete die Masse aufgetürmter Wolken, durch die sie den lieben langen Tag gewandelt war, und die jetzt von allen Seiten herbeiwallten wie Mißgeschick und Unheil um ein sinkendes Reich und um einen fallenden Monarchen. Aber ihr ersterbender Glanz kleidete in düstre Herrlichkeit und Pracht die wuchtige Dunstmasse, die aus ihrem wesenlosen Dunkel heraus Pyramiden und Türme hervorblicken ließ, hier mit Gold bekleidet, dort von Purpur angehaucht, dort wieder in tiefes, dunkles Rot getaucht.

Die ferne See, unter diesem bunten prunkenden Baldachin hingestreckt, lag fast unheimlich und verderbendrohend still und spiegelte die blendenden wagerechten Strahlen des untergehenden Tagesgestirns wider und die prächtige Färbung der Wolken, in deren Mitte es versank. Näher dem Strande kräuselte sich die Flut in Wellen von blitzendem Silber, die unwahrnehmbar, aber doch reißend schnell höher und höher zur Düne heranfliegen.

Im Geiste in Bewunderung dieses romantischen Anblicks versunken oder vielleicht auch mit einem anderen Gegenstande von beunruhigenderer Art beschäftigt, schritt Fräulein Wardour schweigend neben ihrem Vater her, der in seiner kürzlich gekränkten Würde sich zu keinerlei Gespräch herabließ. Sie folgten den Windungen des Gestades und überschritten einen vorspringenden Punkt oder Klippenansatz nach dem andern. So befanden sie sich jetzt unter einer riesigen langhingedehnten Masse steil abstürzender Klippen, wie sie an den meisten Stellen diese Küste wie ein eiserner Gürtel umschließt und schützt.

Lang vorgestreckt lagen Riffe unter Wasser, die nur hier und da an einer freien herausragenden Spitze oder an den »Weißköpfen« und der Brandung, die über den teilweis unter Wasser befindlichen schäumten, zu erkennen waren.

Infolgedessen war die Bai von Knockwinnock von Lotsen und Schiffseignern gefürchtet. Die Felsen, die zwischen dem Gestade und dem Festlande sich erhoben, zwei- bis dreihundert Fuß hoch, beherbergten in ihren Spalten unzählige Seevögel, die in der schwindelnden Höhe augenscheinlich vor der Raubsucht des Menschen gesichert waren.

Viele dieser wilden Schwärme, getrieben von dem Instinkt, vorm Ausbruch eines Sturmes das Land aufzusuchen, kamen jetzt mit dem schrillen mißtönenden Geschnarr und Geschrei, das Unruhe und Furcht bekundet, ihrem Neste zugeflattert. Ehe die Scheibe der Sonne schon ganz unter den Horizont gesunken war, wurde sie fast völlig verfinstert, und ein früher fahler Schatten von Dunkelheit trübte das heitere Zwielicht eines Sommerabends.

Nun sprang auch ein Wind auf, aber schon lange war sein klagendes wildes Brausen zu hören und schon lange war seine Wirkung auf der Meeresfläche sichtbar, ehe am Strande noch die Brise sich bemerkbar machte. Finster jetzt und drohend begann die Wassermasse sich in breiteren Kämmen zu heben und in tieferen Furchen zusammenzusinken und bildete Wogen, die in lauter Schaum auf den Riffen hoch emporstiegen oder am Strande mit einem Grollen wie feiner Donner barsten.

Erschrocken über diese plötzliche Veränderung des Wetters schmiegte sich Fräulein Wardour eng an ihren Vater und hielt seinen Arm fest umklammert.

»Ich wünschte,« sagte sie endlich, aber in fast flüsterndem Tone, als schäme sie sich ihrer wachsenden Angst, »ich wünschte, wir wären auf der Chaussee geblieben oder hätten in Monkbarns auf die Kutsche gewartet.«

Sir Arthur hielt Umschau, aber er sah nichts oder wollte nichts sehen, was auf bevorstehenden Sturm deutete. Sie würden Knockwinnock, sagte er, längst vor dem Ausbruch des Unwetters erreichen. Dabei ging er aber so eilig, daß Isabella kaum Schritt halten konnte, als ob er sich selber bewußt sei, daß sie sich doch sehr dazuhalten müßten, wenn er mit seiner tröstlichen Versicherung Recht behalten wolle.

Sie waren jetzt dem Mittelpunkt einer tiefen engen Bucht oder eines Einschnittes nahe, der von zwei vorspringenden Spitzen hoher unersteigbarer Felsen gebildet wurde. Wie die Hörner der Mondsichel ragten sie in die See hinein. Sie wagten beide nicht, einander die Befürchtungen zu gestehen, die sie hegten, daß bei dem reißend schnellen Wachsen der Flut, ihnen der Weg um das Vorgebirge vor ihnen herum. Wie auch die Umkehr auf dem Wege, auf dem sie hierher gekommen waren, abgeschnitten würde.

Während sie so vorwärts schritten – zweifellos von dem Wunsche beseelt, von dem leichten Bogen, den sie bei den Krümmungen der Bucht machen mußten, abzukommen und auf einen geraderen und kürzeren Pfad zu gelangen, wenn sie dabei auch auf die landschaftlichen Schönheiten hätten verzichten sollen, erblickte Sir Arthur eine menschliche Gestalt, die am Strande ihnen entgegenkam.

»Gott sei Dank!« rief er aus. »Wir werden um die Halket-Spitze herum kommen. Der Mann da muß von da herkommen.«

»Ja, wirklich! Gott sei Dank!« sagte halb hörbar, halb bei sich selber seine Tochter, wie um die Dankbarkeit auszudrücken, die sich mächtig in ihr regte.

Die Gestalt, die auf sie zukam, machte viele Zeichen, die sie in der dunstigen Luft, in dem Winde und dem treibenden Regen nicht erkennen oder gar verstehen konnten. Erst kurz vor ihrem Zusammentreffen konnte Sir Arthur den alten Bettler im blauen Kittel, Edie Ochiltree, erkennen.

Man sagt, selbst die rohe Kreatur, selbst die wilden Tiere lassen ihre Feindseligkeiten und Abneigungen fallen, wenn sie von unmittelbarer und gemeinsamer Gefahr gedrängt sind. Der Strand unter der Halket-Spitze, der durch die vorspringende hereinschlagende Springflut und dem Nordwestwind an Breite reißend verlor, war gewissermaßen ein neutraler Boden, auf dem selbst ein Friedensrichter und ein herumstrolchender Bettler sich mit einander vertragen konnten.

»Kehrt um! kehrt um!« rief der Landstreicher. »Warum sind Sie nicht schon umgekehrt, wie ich Ihnen zuwinkte?«

»Wir dachten,« antwortete Sir Arthur, »wir könnten noch um die Halket-Spitze herumkommen.«

»Um die Halket-Spitze? Da braust jetzt schon die Flut wie ein Wasserfall. Es war nachgerade ein Glück, daß ich vor zwanzig Minuten dort herumgekommen bin, da stand das Wasser schon drei Fuß hoch. Wir können aber vielleicht nach Ballyburgh Neß-Point zurückgelangen. Helf uns der liebe Gott! es ist das einzige, was uns noch übrig ist – wir können es nur versuchen.«

»Mein Gott! Mein Kind!« – »Mein Vater! Mein lieber Vater!« riefen Vater und Tochter aus. Die Furcht verlieh ihnen Kraft und beflügelte ihren Schritt, sie drehten um und versuchten den Punkt zu umschreiten, dessen vorspringende Höhe das Südende der Bucht bildete.

»Ich hatte gehört, daß Sie hier entlang gegangen waren – der Bursche, den Sie nach Ihrer Kutsche geschickt haben, hat mirs gesagt,« sagte der Bettler, indem er rüstig etwa einen Schritt hinter Fräulein Wardour dreinschritt. »Und ich mußte daran denken, in was für eine Gefahr die schmucke junge Dame geraten müsse, die schon zu allen Unglücklichen, die in ihre Nähe gekommen sind, lieb und freundlich gewesen ist. So sah ich denn nach der Fluthöhe und hab mich davon überzeugt, daß ich noch rechtzeitig hinunterkommen könnte, um Ihnen eine Warnung zu bringen, und daß dann noch alles gut ablaufen könnte. Aber ich befürchte, ich befürchte, ich habe mich verrechnet! denn hat' wohl je ein Sterblicher die Flut so reißend schwellen und steigen sehen wie jetzt? Sehen Sie da drüben die Rattenklippe, sie hat sonst immer mit der Spitze übers Meer geschaut – jetzt ist sie ganz unter Wasser.«

Sir Arthur warf einen Blick in die Richtung, nach der der alte Mann deutete. Ein gewaltiger Felsen, der gewöhnlich, selbst wenn Springflut war, einen Kamm gleich dem Kiele eines großen Schiffes zeigte, stand jetzt ganz unter Wasser, und sein Standort war nur durch die kochenden brandenden Wogen, die sich an dem Widerstände brachen, gekennzeichnet.

»Halten Sie sich dazu, schnell, schnell, gute Name, und es gelingt uns am Ende noch!« fuhr der Alte fort. »Halten Sie sich an meinem Arme – ein alter gebrechlicher Arm ists jetzt, aber er war einmal straff und kraftvoll. Halten Sie sich an meinem Arme fest, meine holde Dame! Sehen Sie den schwarzen Fleck dort unter den wallenden Wogen? Heute morgen noch war er so hoch wie der Mastbaum einer Brigg – jetzt ist er recht klein – aber wenn ich auch jetzt nur noch so viel Schwarzes dort herumsehe wie mein Hutdeckel dahier, so denke ich doch, wir werden trotz alledem noch um Ballyburgh-Neß herumkommen.«

Isabella nahm schweigend den Beistand des alten Mannes an, da Sir Arthur noch weniger imstande war, sie zu stützen. Die Wellen waren jetzt so weit auf dem Strande vorgedrungen, daß sie den festen und glatten Pfad, auf dem sie über den Sand hergekommen waren, nicht mehr gehen konnten und einen weit rauheren Pfad dicht am Fuße der Felsenabstürze einschlagen mußten, der stellenweise sogar auf die niedrigeren Kamme hinaufführte.

Ohne die Führung und die Ermutigung des Bettlers, der schon oft bei hoher Flut hier gewesen war, wenn auch, wie er zugab, noch nie in einer so entsetzlichen Nacht, wäre es für Sir Arthur und seine Tochter ganz unmöglich gewesen, sich in diesen Scheren zurechtzufinden.

Es war in der Tat ein fürchterlicher Abend. Das Heulen des Sturmes, in das das Gekreisch der Seevögel hineinklang, tönte wie das Grablied der drei todgeweihten Wesen, die – mitten innen zwischen zweien der prachtvollsten und doch auch entsetzlichsten Bildungen der Natur, einer rasenden See und einem unübersteigbaren Felsabsturz, eingekeilt waren – und auf ihrem mühsamen und gefahrvollen Pfade dahinschritten, oft bespritzt von einer riesigen Welle, die höher zum Gestade herausschlug als ihre Vorgänger.

Mit jeder Minute gewann ihr Todfeind sichtlich Boden vor ihnen. Nicht willens, der letzten Hoffnung auf Leben zu entsagen, hingen sie mit den Blicken noch immer an dem schwarzen Felsen, auf den Ochiltree deutete. Noch immer war er deutlich in der Brandung zu sehen und blieb sichtbar, bis sie an eine Biegung ihres spärlichen Pfades gelangten, wo ein vorspringender Felsen ihn ihren Blicken entzog.

Na ihnen nun der Anblick der Warte fehlte, auf die sie sich verlassen hatten, empfanden sie die doppelte Qual des Entsetzens und der Spannung. Sie kämpften sich weiter vorwärts, aber als sie den Punkt erreichten, von dem aus sie den Felsen wieder hätten erblicken müssen, da war er nicht mehr zu sehen. Ihr Wahrzeichen der Rettung war unter tausend brandenden Wellen verschwunden, die an der Spitze des Vorgebirges zerschellten und in riesigen Massen schneeigen Schaumes emporschlugen gegen die finstre Wand des Absturzes, so hoch, wie der Mast eines Kriegsschiffes erster Klasse.

Der Alte wurde totenbleich. Isabella stieß einen schwachen Schrei ans.

»Der Herr erbarme sich unser!« murmelte feierlich ihr Führer, und von Sir Arthurs Lippen klang es in kläglichem Tone: »Mein Kind! mein Kind! – solch eines Todes zu sterben!«

»Mein Vater, mein lieber Vater!« rief seine Tochter, »und auch Ihr, der Ihr Euer Leben verliert in dem Bemühen, das unsere zu retten!«

»Das ist nicht der Rede wert,« sagte der alte Mann. »Mein Leben war so, daß ich es lange schon satt habe, und hier oder dort – ob in einem Schneesturm oder in der brandenden Flut – was besagt es, wie der alte Bettler stirbt?«

»Guter Mann,« sagte Sir Arthur, »habt Ihr keinen Ausweg? – keine Hilfe mehr? – ich will Euch reich machen – ich will Euch eine Farm geben – ich will–«

»Wir werden bald einer so reich sein wie der andere,« sagte der Bettler, mit einem Blick auf die wogende See. »Ja, wir sind es schon, denn ich habe kein Land, und Sie würden all Ihre schönen Güter und Ihre Baronie hingeben für einen Fuß breit Felsen, der zwölf Stunden lang trocken bliebe.«

Während sie so sprachen, machten sie auf dem Felsenrande Rast, so hoch sie hatten hinansteigen können. Denn nun schien es, als ob jeder Versuch, weiter vorzudringen, ihr Verderben nur beschleunigen mußte, hier standen sie nun und warteten das sichere langsame Steigen des rasenden Elements ab.

Noch diese furchtbare Pause gab Isabella Zeit, die Kräfte eines von Natur starken mutigen Gemütes zu sammeln, die sich eben an den Schrecken dieser furchtbaren Lage stählten.

»Müssen wir das Leben lassen,« sagte sie »ohne einen Kampf? Ist denn kein Pfad, und wäre er noch so entsetzlich, auf dem wir die Klippe erklimmen oder wenigstens zu einer Höhe gelangen könnten, die über der Flut läge und wo wir warten könnten bis zum Morgen, oder bis Hilfe käme? Sie müssen sich denken können, in welcher Lage wir uns befinden und werden das ganze Land aufbieten, uns zu erlösen.«

Sir Arthur, der die Frage seiner Tochter hörte, aber kaum begriff, wandte sich instinktiv und begierig nach dem Alten, als ob ihr Leben in seiner Hand läge.

Ochiltree hielt inne.

»Ich war ein kühner Kletterer,« sagte er, »wie ich noch jung war. Manches Vogelnest habe ich ausgenommen unter diesen schwarzen Felsen hier, aber das ist schon lange her, lange, lange her! Und da kann kein Sterblicher ohne ein Tau hinauf – und wenn ich eins hätte – mein Auge ist schwach und meine Hand und mein Fuß sind nicht mehr sicher und fest – wie sollte ich Sie retten können? Aber einen Pfad hats hier einmal gegeben, freilich, wenn wir ihn sehen könnten, so würden Sie vielleicht lieber bleiben, wo Sie sind. – Gelobt sei sein Name!« rief er plötzlich aus. »Da kommt einer den Felsen herunter!«

Dann strengte er seine Stimme an und rief dem tollkühnen Kletterer Ratschläge und Weisungen zu, die seine frühere Übung und die Erinnerung an die örtlichen Verhältnisse ihm eingaben.

»So ist recht! so ist recht! da gehts hindurch – jawohl! Machen Sie Ihr Seil am Kuhhorn fest – das ist der schwarze Stein da – zweimal herumgeschlungen – so ist recht! Nun wenden Sie sich ein kleines Stück mehr nach Osten – noch ein bißchen mehr bis zu dem andern Steine da – wir haben die Stelle immer das Katzenloch genannt – da hat sonst eine Eiche gewurzelt – so ist recht! – Nun behutsam, Bursch! Behutsam! Geben Sie acht und nehmen Sie sich Zeit! – Um Himmels willen, lassen Sie sich doch Zeit! – Sehr gut so! – Nun müssen Sie hinüber zu Liesels Schürze – das ist der breite flache blaue Stein dort – und dann denk ich, mit Ihrer Hilfe und dem Tau kann ich zu Ihnen gelangen, und dann wird es uns möglich sein, die junge Dame und Sir Arthur hinaufzuholen.«

Der Wagehalsige hatte die Weisungen des alten Edie befolgt und warf ihm jetzt das Tauende zu, das dieser um Fräulein Wardour wand, nachdem er sie in seinen blauen Kittel gewickelt hatte, um ihr möglichst wenig weh zu tun. Dann hielt er sich an dem Tau fest, das am andern Ende festgemacht worden war, und begann an den Felsen empor zu klimmen – ein unsicheres schwindeliges Unterfangen, aber nach ein paar Fehltritten gelangte er wohlbehalten auf den breiten flachen Stein neben unseren Freund Lovel.

Mit vereinten Kräften konnten sie dann Isabella zu dem sicheren Fleck emporziehen, den sie erreicht hatten. Dann stieg Lovel hinab, um Sir Arthur festzumachen, um den er das Tau schlang. Wieder stieg er zu ihrem Zufluchtsort empor, und mit Hilfe Ochiltrees und Sir Arthurs eigenen Bemühungen brachten sie nun auch ihn über den Bereich der Wellen empor.

Das Bewußtsein der Rettung vor nahem und augenscheinlich unvermeidlichem Tode hatte die gewöhnliche Wirkung. Vater und Tochter fielen einander in die Arme, küßten sich und weinten vor Freude, wenn auch ihr Entkommen die Aussicht mit sich brachte, am steilen Abhänge eines Felsens eine stürmische Nacht zu verbringen. Kaum war Platz genug zum Stehen für die vier zitternden Wesen, die nun wie die Seevögel um sie her hier hingen und hofften, vor dem verschlingenden Element, das unter ihnen tobte, geborgen zu sein.

Der Sprühregen der Wellen, die in furchtbarem Vordringen den Fuß des Abgrunds erreicht hatten und das Gestade überfluteten, auf dem sie eben noch gestanden hatten, flog selbst bis zu ihrem jetzigen Zufluchtsorte hinauf, und das betäubende Getöse, mit dem sie gegen die Felsen unten prallten, klang, als verlangten sie noch nach den Flüchtlingen, als nach einer ihnen bestimmten Beute. Es war eine Sommernacht, gewiß, aber es bestand wenig Wahrscheinlichkeit, daß ein so zartes Wesen wie Fräulein Wardour bis zum Morgen in dem durchnässenden Sprühregen standhalten würde, und der strömende Regen, der jetzt mit voller Gewalt losbrach, und die tiefen schweren Windstöße erhöhten noch die Qual und Gefahr ihrer Lage.

»Die Dame, die arme Dame,« sagte der Alte, »Manche Nacht daheim und in der Fremde hab ich in Sturm und Wetter unter freiem Himmel zugebracht, aber, Gott sei mit uns! wie soll sie es überstehen?«

Er teilte seine Befürchtungen in gedämpftem Tone Lovel mit.

»Ich will wieder zur Klippe hinauf,« sagte dieser, »es ist hell genug, daß ich sehen kann, wo ich den Fuß hinsetze. Ich will hinauf und mehr Hilfe holen.«

»Tun Sie das, tun Sie das, ums Himmels willen!« rief Sir Arthur.

»Sind Sie von Sinnen?« sagte der Bettler. »Der kühnste Kletterer dürfte sich nach Sonnenuntergang nicht auf die Halket-Spitze hinauswagen. Es ist eine Gnade Gottes und ein Wunder, daß Sie nicht bei Ihrem Abstieg bis hierher in die brüllende See gestürzt sind. Ich hab's nicht für möglich gehalten, daß ein Mensch überhaupt an den Klippen herabklimmen könne, wie Sie es fertig gebracht haben. Ich bezweifle sehr stark, daß ich es selber zu dieser Stunde und bei diesem Wetter selbst in der vollsten Jugendkraft vermocht hätte. Aber sich wieder hinauf zu wagen, – das heißt denn doch Gott versuchen!«

»Ich fürchte mich nicht,« antwortete Lovel, »ich habe mir beim Abstieg die Trittstellen alle genau gemerkt, und es ist noch Licht genug da, daß man sie alle gut sehen kann – ich bin überzeugt, ich kann es ohne alle Gefahr tun. Bleiben Sie hier, guter Freund, bei Sir Arthur und der jungen Dame!«

»Der Teufel soll mir in die Glieder fahren,« antwortete der Bettler entschlossen, »wenn Sie gehen, geh ich mit, denn es wird Arbeit genug sein für uns beide!«

»Nein, nein, bleiben Sie hier und geben Sie acht auf Fräulein Wardour, Sie sehen, Sir Arthur ist völlig erschöpft!" »So bleiben Sie selber und lassen Sie mich gehen,« sagte der Alte, »der Tod mag das grüne Korn verschonen und das reife nehmen.«

»Bleiben Sie beide, ich bitte Sie,« sagte Isabella schwach. »Ich fühle mich wohl und kann die Nacht hier sehr gut zubringen. Ich fühle mich völlig bei Kräften.«

Mit diesen Worten erstarb ihr die Stimme – sie sank zu Boden und würde abgestürzt sein, wenn nicht Lovel und Ochiltree sie gehalten hätten. Sie brachten sie in eine halb liegende, halb sitzende Lage neben ihrem Vater, der, von einer so ungewohnten und aufreibenden Anspannung des Leibes und Gemütes bis aufs äußerste erschöpft, sich schon in einer Art von Betäubung auf einen Stein hingesetzt hatte.

»Ich kann sie unmöglich verlassen,« sagte Lovel. »Was ist zu tun? – Horch, – horch! Mir wars, als hörte ich einen Zuruf!«

»Es ist der Schrei des Seetauchers,« antwortete Ochiltree. »Ich kenne den Schrei gut!«

»Nein, beim Himmel,« sagte Lovel, »es war eine Menschenstimme.«

Ein ferner Zuruf ward vernommen, der Laut war deutlich zu unterscheiden inmitten der verschiedenen Laute und all des Getöses der Elemente und des Geschreies der Seemöwen um sie her. Der Bettler und Lovel erhoben vereint ihre Stimmen zu einem lauten Halloh, und der erstere ließ von seinem Stabe Fräulein Wardours Taschentuch wehen, daß man es von oben sollte sehen können.

Obwohl der Schrei wiederholt wurde, dauerte es doch noch eine Weile, bis Antwort auf ihren Ruf gegeben wurde, und die unglücklichen Dulder verblieben noch in Ungewißheit, ob bei der Finsternis und in dem steigenden Unwetter die Leute, die sicherlich über die Höhe des Felsens herkamen, um ihnen Hilfe zu bringen, den Platz entdecken würden, wo sie Zuflucht gefunden hatten.

Endlich wurde ihr Halloh regelmäßig und deutlich beantwortet, und ihr Mut stieg von neuem unter der Gewißheit, daß sie in Hörweite waren, wenn auch nicht in Armesnähe, von Freunden, die ihnen Hilfe brachten.


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