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Von den Menschen und der Atmosphäre

Nur langsam bildet sich der neue Typus des Industriemenschen der Ruhr heraus. Nicht nach dem Bild, das den werkfriedlichen Erziehungsbestrebungen des Unternehmertums vorschwebt und von dem ein Barde der gelben Ideologie schwärmt. »Hier wächst in aller Stille ein neues industrielles Geschlecht heran, klug, stolz versöhnlich und innerlich freier, Träger eines deutschen Ethos aus altgermanischer Zeit.«

Nein, der neue Ruhrmensch ist Realist, ein guter, kollektiv empfindender Kamerad, den die Arbeit in Hütte und Bergwerk mit seinesgleichen zu einheitlicher Lebensführung zusammenpreßt, aus der einheitliche Gedankengänge, einheitliche Weltanschauung sich ergeben müssen. Nichts liegt diesem Arbeitervolk ferner als eine romantisch-altgermanische Blickrichtung oder gar eine kultische Auffassung von der Maschine.

Allerdings ist dieser neue Ruhrmensch besonders in den älteren Generationen noch recht selten. Jeder, der mit der Geschichte und besonderen Soziologie des Ruhrgebiets nicht vertraut ist, wird sich verwundern, wieso gerade in diesem fast ausschließlich proletarischen Gebiet die verwirrenden Einflüsse bürgerlicher Ideologie, Religiosität und nationalistischer Propaganda noch so eine beträchtliche Verbreitung und solch gefährlichen Einfluß besitzen.

Die einheimische westfälische Bevölkerung bestand zum großen Teil aus Bauern, sie war dünn gesiedelt und reichte nicht im entferntesten aus für den enormen Menschenbedarf der ständig wachsenden Werke. Die Industrie des Westens wurde ein Sammelpunkt der vom Land in die Städte strömenden überschüssigen Arbeitskräfte ganz Deutschlands. Sie wurde die Durchgangsstation für Saisonarbeiter aus besonders armen, rückständigen Gegenden, die ihren Landeskindern kein Brot zu geben vermögen, hauptsächlich für Junggesellen. Im allgemeinen sind das Bevölkerungsschichten, die ihre verwandtschaftlichen und anderen Bindungen zu ihrer agrarischen Heimat nie ganz aufgeben, ständig abwandern und wieder zuwandern, und selbst, wenn sie sich ansiedeln, ihre ländliche Genügsamkeit, Wohnungsschweinerei und Bigotterie mitbringen.

Fährt man im Sommer 3. Klasse Personenzug aus dem Industriegebiet nach Berlin, so trifft man unzählige Bergarbeiterfrauen, die mit ihren Kindern nach Schlesien, Ostpreußen, Pommern und noch weiter östlich zu Verwandten fahren. Die Abteile sind gedrängt voller Kinder, die in primitivster Weise, oft nur in ein paar Tücher eingehüllt, an der Brust der Mutter oder in einen zerschlissenen Koffer oder Weidenkorb verpackt, die tagelange Reise überstehen müssen. Natürlich kann man hier von keiner Erholungsreise sprechen. Die Frauen müssen auch in ihrer Heimat in der Wirtschaft zugreifen, die Kinder erwartet auf dem Lande die gleiche Wohnungsnot. Höchstens die Luft und das Essen ist besser, und hin und wieder fällt auch einmal etwas ab, das dem proletarischen Haushalt im Ruhrgebiet zunutze kommt. Andererseits kann man in kein ostpreußisches, in kein polnisches Dorf kommen, ohne Menschen zu treffen, die im »Ruhrpütt« gearbeitet haben.

Diese vier Millionen Menschen, die im Ruhrgebiet arbeiten, sind eben aus allen Teilen des Reiches bunt zusammengewürfelt, und es ist kein Wunder, daß sie sich in dem »Paradies«, das ihnen die Industrie bietet, nicht so fest beheimatet fühlen, um den Kontakt mit ihren bäuerlichen Verwandten schnell aufzugeben. Die dauernde Fluktuation aber zwischen Ruhrgebiet und primitivem Ursprungsland ist ein sehr bedeutungsvoller Faktor für die kulturelle Entwicklung der Ruhrbevölkerung.

Noch ist alles in gärender Bewegung; aber schon die gegenwärtige Generation des Ruhrbezirks kennt wenigstens den Rassenkampf im Proletariat selbst nicht mehr. Noch vor dem Krieg sah der Ruhrprolet voll Verachtung auf die fremdstämmigen Arbeiter herab, und da Polen und Italiener sich geduldig als Lohndrücker mißbrauchen ließen, verachtete er sie ja nicht so ganz ohne Grund.

Es ist nicht einfach, über die Stammeszugehörigkeit der Ruhrbevölkerung richtiges und anschauliches Zahlenmaterial zu finden. Das ganze Völkergemisch ist dauernd im Kommen oder Gehen; jede Konjunktur, jede Krise, jede außen- oder innenpolitisch veränderte Situation, jede Zechenstillegung, jeder Auftrag, den die Schwerindustrie neu hereinholt, verursacht neue Verschiebungen. 1912 arbeiteten im Ruhrgebiet 150 000 aus Ostelbien und über 22 000 aus der Donaumonarchie, hauptsächlich aus Kroatien und der Slowakei, zugewanderte Bergarbeiter. Auch Berliner, sächsische und thüringische Proletarier beschäftigte die Ruhrindustrie. Hierzu kamen noch Tausende von holländischen, russischen, italienischen und belgischen Grubenarbeitern, viele Hunderte von versprengten Existenzen aus allen Teilen der Welt und ein Heer von Polen. Im Jahre 1910 zählte man im Industriegebiet 247 461 Polen.

Heute ist eine starke Rückwanderung eingetreten, aber es beginnt auch eine rassische und gesellschaftliche Vermischung der ansässigen Bevölkerung mit den Zugewanderten. Zahlreiche Eingewanderte haben sich naturalisieren lassen, viele haben ihre fremdländisch klingenden Namen ins Deutsche abgeändert. Ortschaften und Viertel rein polnischen Charakters, deren es früher im Revier eine Menge gab, findet man heute nicht mehr. Die einheitlichen tarifvertraglichen Regelungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch die Gewerkschaften erleichtern den Assimilierungsprozeß. Dennoch ist er heute noch nicht so weit vollzogen, daß sich eine einheitliche, moderne Weltanschauung, eine Kultur, wie sie dem heutigen Produktionsprozeß entspräche, in der breiten Masse hätte entwickeln können.

Mit welchem Bewußtseins- und Kulturniveau hat man beim heutigen Durchschnitt des Ruhrproleten zu rechnen? Ein Blick in irgendeine Straße dieser »Großstädte« (man darf natürlich nicht eine der prunksüchtigen Citystraßen wählen) wird dieses Niveau recht deutlich widerspiegeln.

Ein holpriges Pflaster, ein mit Steinplatten belegter, rissiger Bürgersteig, der sich gesenkt hat, wird von düsteren, schwarz gerußten Häuserzeilen begleitet. Die dunkle Silhouette eines riesigen Stahlwerks mit Kühlanlagen, Hochöfen und Fabrikschloten steht an dem einen Ende der Straße, an ihrem andern Ende verstellt der massive rote Backsteinbau einer katholischen Kirche die Aussicht. Die grauen Fronten der Häuserreihen zwischen diesen beiden Polen kapitalistischer Kultur werden nur von Kneipen unterbrochen, deren Glasfenster Vereinsankündigungen katholischer Verbände zieren, Sparvereinstafeln und genaue schriftliche Angaben, ob sich in den verräucherten Hinterräumen eine Damenkapelle oder nur ein abgebrauchtes elektrisches Klavier befindet. Beachtet man noch in einer Querstraße den Programmaushang eines Vorstadtkinos, der in grellen Farben und klebriger, muckerischer Geilheit Mord, Totschlag und das verherrlicht, was der Bürger so Liebe nennt, dann hat sich das Bild gerundet, und die Möglichkeiten bürgerlicher Kulturförderung sind erschöpft.

Das Industriegebiet im Westen ist die erwählte Schund- und Kitsch-Abladestelle der ehrsamen Kapitalisten und königlichen Kaufleute des übrigen Reiches. Nirgends ist das Brot schlechter als in den Industriestädten, Gemüse, Fleisch und alle notwendigen Lebensmittel sind durchweg an Qualität geringer als anderswo; die Preise sind höher als in Mitteldeutschland oder Berlin. Die Textilien sind in der Mehrzahl häßliche und minderwertige Massenprodukte, Bluffware, die sonst nirgends abzusetzen wäre. Was die Güte der Ware betrifft, kann man die erstaunliche Kongruenz zwischen den elendsten Krämerläden in ostpreußischen oder schlesischen Dörfern und den größten Kaufhäusern des Ruhrgebiets feststellen. Was die armseligen Läden in den unzähligen kleinen Straßendörfern hier bieten, kann man sich danach vorstellen.

 

Der große Ausschußbetrieb bestimmt die Programme der Varietés und Kinos. Übelster Schund bei teueren Eintrittspreisen überwiegt. Der Provinzialismus züchtet die Sensationslust. Die bürgerliche Presse hat sich geschickt darauf eingestellt und serviert spaltenlang jeden Tag Kriminalaffären und Ehebrüche. Die Anhäufung der Menschenmassen und die Wohnungsnot steigern die Kriminalität, die Erwerbslosigkeit führt im Ruhrgebiet rascher zu Demoralisierung und Verlumpung als anderswo. Der Bürger hat – ohne ihre Quellen genau zu kennen – seine Freude an diesen Exzessen, und seine Presse appelliert systematisch an die übelsten Instinkte, weil diese Methoden die Verantwortlichkeit für die Zustände verschleiern.

Bergmann und Metallarbeiter geben dem Straßenbild in viel höherem Maße das Gepräge als etwa die Arbeiterschaft Berlins das vermag, wo größere Fabriken meist in den Vororten liegen und die ungeheuere Schar der bessergekleideten kaufmännischen Angestellten sich der großstädtischen Mode befleißigen müssen. Im Ruhrgebiet beherrscht der Arbeiter die Straße, leider nicht so sehr politisch wie als Ausdruck seiner Überzahl. Der Bürger – von einer nennenswerten großbürgerlichen Schicht ist im Industriebezirk keine Rede, der Industrielle zieht es vor, seinen Wohnsitz in weniger mit Schweiß und Ruß getränkte Gegenden zu verlegen –, der Bürger verschwindet völlig in dieser grauen Masse. Die scheinbare Toleranz, die durch die Vermischung Kleinbürger – Arbeiter im Städtebild zum Ausdruck kommt, die Loyalität, die in friedlichen Zeiten mit viel liberalem Gesinnungsschmalz der fette Bürger und Kaufmann dem Kumpel entgegenzubringen pflegt, macht im Augenblick unerhörtester Brutalität Platz, wenn es um die Macht geht, die die Bourgeoisie besitzt und für alle Zeiten auch behalten will.

 

Als das hervorstechendste Merkmal des Ruhrgebietes wird dem Eingeweihten – nicht dem durchreisenden oberflächlichen Beobachter – die unglaubliche Stupidität und Langweiligkeit des ganzen Industriebezirks erscheinen, über die auch das lärmende Treiben der Kneipen und Tingeltangel, die zur und von der Arbeit strömenden Menschenzüge und der starke Verkehr auf die Dauer nicht hinwegtäuschen können. Der Bürger, der den Arbeitsprozeß verherrlicht (weil er ihn nicht kennt), entzückte Feuilletons über Wunder der Technik und präzise Werkorganisation liest und schreibt, der sich vom Leben und Treiben in den Kneipen und billigen Bordellen angeekelt abwendet, er sieht niemals das Spezifische dieser proletarischen Welt: die unerträgliche, hoffnungslose Monotonie, die über dem ganzen Gebiet lastet.

 

Sieht man ab vom Getriebe der wenigen großen Städte, das auch nur ein talmigroßstädtisches ist, so bleibt das typische Bild provinzieller Enge und Langeweile. Über diesen hundert Kilometern dicht bewohnter Straßen brütet der bleierne Alltag. Das ist der Boden, auf dem der gelbe Zechenverein wächst, mit goldbetreßten Bergmannsuniformen und Brimborium, mit Freibier und nationalistischer Propaganda. Kremserfahrten mit schwarzweißroten Fähnchen werden arrangiert; aber die Teilnehmer dazu wirbt hauptsächlich das Gefühl des Zwanges, die dunkle Hoffnung, so dem Überfahrenwerden durch die Maschine der Rationalisierung zu entgehen, oder der Mangel an anderen Zerstreuungen. Vielfach ist bei solchen »Festen« der polnische Kumpel zu finden, der sich betont deutschnational gibt, weil der Ausweisungsbefehl ständig über seinem Haupte schwebt.

Noch erdrückender ist die Öde, die in den kleinen Ortschaften herrscht, die ein paar Ackerstreifen aufzuweisen haben. Hier finden sich die Bergleute, die einen kleinen »Kotten«, ein Häuschen nebst Garten, besitzen. Es sind in der Mehrzahl alteingesessene oder schon mehrere Generationen am Ort wohnende Kumpels. Sie haben fast keine Berührung mit den Zentren und arbeiten in einer außerhalb der Städte liegenden Zeche, die auf eine Wegstunde im Umkreis die Haupteinnahmequelle vieler solcher Bergarbeiterdörfer ist. Jahrelang kommen die Leute nicht aus ihrem Kaff heraus. Ein Zechenkonsumverein, ein paar übelste Krämerläden sorgen für die Nahrungsmittel und den Textilbedarf, die Zeitung für Sensation und Klatschgeschichten, die unzähligen Kneipen für die Zerstreuung der Männer, die Kirchen und die katholischen Vereine für die Beeinflussung der Frauen. Das Leben geht einen einförmigen, beschwerlichen Gang. Morgenschicht, Mittagschicht, Nachtschicht. Die freie Zeit wird dem Stückchen Land gewidmet, einem armseligen Köter, einem halben Dutzend Hühnern. Regelmäßig im Sommer findet Kirmes und Rummel auf einem größeren Platz statt – so ziemlich das einzige Ereignis im ganzen Jahr. Ein paar bessere Häuser gehören den höheren Zechenbeamten, dem Pfarrer, dem Knappschaftsarzt, dem Lehrer. Die Kinder sind mit 14 Jahren bereits der Zeche verschrieben. Jeder kennt jeden. Fremde Saisonarbeiter und Kostgänger ziehen meist größere Städte vor, wo sie Menagen finden und Belegschaften, die weniger engstirnig, weniger nur nach alter Überlieferung denken.

Der ewig und überall gleichmäßig ablaufende Arbeitsprozeß mit seinem riesenhaften, unbarmherzigen Kräfteverbrauch erzwingt es von diesen zusammengepferchten enormen Menschenmassen, daß sie einen Ausgleich der unerträglichen und monotonen Spannung im Exzeß, oder in der Religiosität, oder in der Vereinsmeierei suchen.

In den Randgebieten des industriellen Westens herrscht schon seit Jahrhunderten die katholische Tradition. Ein starker ländlicher Gürtel mit seinen Bischofs- und Kirchenstädten Münster, Soest, Paderborn legt sich in Osten und Norden um das Ruhrgebiet. Die aus den »frömmsten« Gegenden in den Ruhrbezirk Zugewanderten brachten nicht die nötige geistige Selbständigkeit mit, die kapitalfreundliche, die herrschende Klasse begünstigende Mission der Kirche zu durchschauen. Bei dem Ruhrproletariat vollzieht sich das Hinüberwechseln aus der dörflichen Horizontenge in die Atmosphäre der Großstadt mit ihrem intellektuelleren Arbeitstempo, ihren vielseitigen geistigen Anregungen, ihren neuartigen Wohn- und Lebensverhältnissen, ihrem höheren Organisationsstand wesentlich langsamer und gehemmter als in Berlin und den übrigen Großstädten des Reiches.

Es ist paradox, aber der Industrieproletarier erweist sich trotz der Zusammenballung der Massen, trotz der elenden Lebensverhältnisse im Ruhrgebiet sehr häufig als Bewahrer zahlreicher kleinbürgerlicher Ideologien und Gebräuche. Der provinzielle Charakter der Menschen erschlägt den technischen Fortschritt der Stadt und erschwert die Überwindung klassenfeindlicher Bindungen und Anschauungen. Die kirchliche Propaganda macht sich in ihrer Scheinheiligkeit diese Zustände zunutze. Der katholischen Bevormundung gelingt es, das kulturelle Niveau, die Moralauffassung, das Privat- und Familienleben eines Landes auf den Standard von 1850 zurückzuschrauben, eines Landes, dessen technische Produktionsformen der Gegenwart fast vorauseilen.

 

Die muckerische katholische Rückständigkeit revoltiert gegen die kleinsten errungenen Freiheiten, gegen die harmlosesten, vernünftigsten Lebensfreuden. Gegen Familienbäder in den Städten zum Beispiel. Mit großen Protestversammlungen und ausführlichen Resolutionen verlangen katholische Elternbeiräte getrennte Badezeiten für Männer und Frauen. »In der Abschaffung der getrennten Badezeiten würden wir einen Mangel an gewöhnlichstem Schicklichkeitsgefühl erblicken«, erklärt man; und weiter »Durchdrungen vom Verantwortungsgefühl für unsere Kinder müßten wir diese warnen und ihnen verwehren, in ein Bad zu gehen, wo alles vernichtet werden kann, was eine christliche, häusliche Familienerziehung sich bemüht aufzubauen, wo den unvergänglichen Wahrheiten und den unabänderlichen Gesetzen über körperliche Gesundung und Ertüchtigung und seelische Reinheit hohngesprochen wird.«

So publiziert in der Stadt Herne, im Jahre des Heils 1929. Gegen die Schande und Gefahr der Wohnungsnot mit ihren Folgen von Krankheit, Entmutigung, Geschlechtsnot und Vergewaltigung protestieren die Frommen nicht.

So muß eine von sozialistischen und kollektivistischen Erkenntnissen berührte Jugend mit den menschenfeindlichen Moralbegriffen des kapitalgläubigen Zentrums ringen. Und die nach großem Unternehmervorbild muckerische Frumbigkeit des protestantischen Kleinbürgertums tut das Ihre hinzu, um das geistige Niveau dem Muff aus den Traktätchenfabriken des Wuppertals anzupassen. Diese Reaktion arbeitet nicht fruchtlos. In weiten Kreisen des Proletariats, bis hinein in die klassenbewußten Reihen grassieren Verspießung und kleinbürgerliche Lebensgewohnheiten.

Eine ganz prächtige Sache sind auch die katholischen Knappenvereine verschiedener Art, die sich hauptsächlich durch ihr pompöses Uniformgeklunker voneinander unterscheiden. Am Fronleichnamstage in den Prozessionen, wenn die ganze Stadt auf den Beinen ist und die Elektrischen nicht verkehren, da sieht man sie hinter den weihrauchkesselschwingenden Knaben einherziehen. Jeder Verein hat einen noch prächtigeren Federbusch am Tschako, eine noch phantastischere Uniform und ein noch blanker poliertes Paradeschutzleder vor dem Gesäß.

Auch die Seuche der Vereine wütet in erschreckendem Ausmaß im Ruhrgebiet und erweist sich auch hier als ein stark retardierendes Moment für jegliche Erkenntnis und jeglichen Fortschritt. In den Straßen der Arbeiterviertel reiht sich Kneipe an Kneipe. Und diese Kneipen sind alle Vereinslokale. Bunte Schilder an Türen und Fenstern verkünden, was hier alles in buntem Wechsel tagt und Vorstandssitzungen für nötig hält. Neben den vielfältigst nuancierten Stammtischen gibt es Geselligkeitsvereine und Junggesellenklubs, deren Mitglieder bunte Studentenmützen tragen – eine Spezialität des Ruhrgebiets. So verkleiden sich hier junge Proletarier in den kargen Stunden ihrer Erholung in Bürgersöhne, über Komment mit Lied und Suff und tragen die Narrenkappen derjenigen, die sie an der Maschine und im Schacht auspowern.

Nirgendwo in Deutschland gibt es so viele Brieftaubenzüchter wie im Kohlenpott. Dieser Sport muß, wenn man aus dem Verhalten der ihm Verfallenen schließen will, tiefe Erregungen vermitteln, die eine unsichere Zukunft vergessen lassen. Sonntag vormittag sitzt der Kontrolleur im Vereinslokal eines Bergarbeiterdorfes an der Kontrollmaschine und registriert den Einflug der irgendwo weitab aufgelassenen Tauben. Der, dessen Taube zuerst in den heimatlichen Schlag landet, ist an dem Tage die wichtigste Person am Ort. Wer möchte nicht mal an seiner Stelle sein? Der Lokalteil meldet lakonisch, daß wegen Fälschungen an der Kontrollmaschine eines Brieftaubenvereins (Urkundenfälschung!) der Elektriker XYZ drei Monate Gefängnis bekam.

Im Vereinslokal ißt man westfälische Sülze und Soleier, trinkt Dortmunder Bier und spielt im Schachverein – wie ginge es ohne Verein? – Schach. Wilde Athleten-, Turn-, Schwimmvereine wuchern; natürlich haben sie alle ihre Spitzenorganisationen, wenn es auch nicht die Deutsche Turnerschaft oder der Arbeiter-Turn- und -Sportbund ist. Und wer zählt die Lotterie- und Skatklubs?

Die Lokalteile und die Vereinsnotizen eines einzigen Tages aus den Zeitungen des Ruhrgebiets gesammelt, ergeben ein sehr anschauliches und lehrreiches Material zu diesem Thema. Wenn man nicht die Hintergründe durchschaute, könnte man staunen, was dem heutigen Industriemenschen alles noch wichtig ist und ihn bewegt.

Da ist der landsmannschaftliche Zusammenhalt, der gepflegt wird. Der Bericht über eine Fahnenweihe des Bayernvereins schildert das in unübertrefflicher Weise: »Die zahlreiche Gästeschar zum großen Teil in Nationaltracht, die Herren in Kniehosen, Wadenstrümpfen, weißen Hemden und Seppelhütchen, nur die Nagelschuhe fehlten, dann wäre der Originalbayer fertig gewesen. Gegen 3 Uhr brachten Ehrenjungfrauen unter Vorantritt der Bayernkapelle mit Musik die verhüllte Fahne auf die Bühne. Das Kuhglöckle ertönte und bot dem Redeschwall der Festteilnehmer Einhalt. Es folgte die Weihe der neuen Vereinsfahne. In malerischem Bild nahmen die einzelnen Fahnendeputationen auf der Bühne Aufstellung. Es wäre, so führte der Redner aus, ein lang gehegter Wunsch des Bayern-Vereins gewesen, als Symbol seiner Zusammengehörigkeit und des festen Zusammenschlusses eine eigene Fahne zu besitzen; das heißersehnte Ziel sei endlich erreicht worden ...« Schön, daß sie ei-i-ne Vereinsfahne hab'n!

Anderen Orts wohnen wiederum Eichsfelder, und auch sie schließen sich landsmannschaftlich zusammen, genau so wie die heimattreuen Oberschlesier oder die Bildungsbeflissenen slavo-böhmischer Zunge.

Aber man vergesse nicht, es sind Proletarier, die solche Sorgen haben, und es ist symptomatisch für ihre geistige Situation, wenn die Kumpel oberbayrisch, in landsmannschaftlicher Treue und Sepplhosen, mit Gebirglerhüterl und der im Bergbaugebiet unvermeidlichen Kaffee-Töte an der Hüfte zum Pütt fahren. Wie viele sind zuerst mal Mitglieder eines Gebirgstrachten-Erhaltungsvereins, ehe sie Gewerkschafter sind?

Das Vereinsleben ist eben für die Werktätigen im Ruhrgebiet die große und fast die einzige Art der Geselligkeit mit Abendgesellschaften, Tanzreunions und Liebhabertheater im Winter und mit gemeinsamen Ausflügen im Sommer. Wenn auch die Vereinsmeierei mit Sport gemischt nach Otto Flake das deutsche Greuel ergibt, so zeigt sie doch, wie sehr der arbeitende Mensch nach dem Gruppenerlebnis drängt. Daß er das Gruppenerlebnis noch nicht in aufbauender Arbeitsfreude, geistiger Weiterentwicklung und wirklicher Kameradschaft finden kann, ist schließlich nur Schuld der herrschenden Umstände.

Die herrschende Klasse verpflanzt ihre Art zu denken und zu erleben, das für ihre Herrschaft nützliche Bezugs-System für alle Werte in die Hirne der Werktätigen. Von nichts und niemand anderem darf die Durchdringung der Massen mit nützlichen und schöpferischen Ideen erwartet werden, als von dem Mündigwerden dieser Massen selbst.

Darum kommt auch, was künstlerisch im Revier geleistet wird, selten über das Geschmäcklerische hinaus. Die Kunstbeamten sind bestenfalls neutral und kuschen sofort, wenn die Dunkelmänner zetern. Und die zetern stets, wenn Themen erörtert werden, die die Macht des bekutteten Gewissenszwanges erschüttern könnten. Was da für Mächte im Spiel sind, das zeigt sich besonders deutlich an den Theatern des Ruhrgebiets. Hier, mehr wie irgendwo, hätten die Bühnen die Aufgabe, neue Ideen zu durchleuchten, Ideen, die die Massen angehen. Die Tempelwächter eines vermotteten Spießertums aber rebellieren gegen jede geistige Äußerung einer neuen Zeit zu neuen Problemen. Sie wünschen, daß es in den Hörsälen, Kunstausstellungen, Theatern so aussähe, als gäbe es kein Abtreibungsproblem, keine Arbeitslosigkeit, keine Klassenjustiz, keine existenzenmordende Rationalisierung. Und sie bringen das Wunder fertig! Man spielt den harmlosen Schwank, die anspruchslose Operette, die Revue, soweit sie nackte Beine vermeiden kann.

Das Surrogat von Kunst und Bildung: ein feingeistig tuender Aufkläricht, ist das beste Opiat für die unbeweglichen Mittelschichten und die indifferente Arbeiterschaft. Man will abgelenkt werden von dem Elend des Tages, der im Kohlenrevier besonders trist und grau ist. Man ist darum nur zu bereit, nach schillernden Seifenblasen zu greifen, um ein wenig Freude im harten Daseinskampf zu ergattern. Der Hunger nach leichten Vergnügen und »feiner« Geselligkeit ist die natürliche Reaktion auf die Realität des erbarmungslosen Ausbeutungsprozesses und die Tatsache, daß Autoritäts- und Konkurrenzbegriffe bis unter die Kameraden ein und desgleichen Lohnjoches getragen werden. Die Herrschenden müßten dümmer sein, als sie sind, wenn sie nicht alles mögliche dazu täten, die Massen vom Klassenbewußtsein und von ihren realen Aufgaben auf kulturellem Gebiet abzulenken.

Besonders unterstützt werden alle reaktionären Strömungen des Ruhrgebiets von den Frauen, die vor allem die treuen Bewahrer einer kleinbürgerlichen Tradition sind, so wenig das auch zu ihrem proletarischen Dasein paßt. Das Industriegebiet im Westen hat nur verschwindend wenig Arbeitsstellen für Frauen. Die weiblichen Berufsmöglichkeiten sind außerordentlich beschränkt. Verarbeitende Industrien gibt es hier kaum. So weit im belgischen Borinage, wo auch Frauen Bergmannsarbeit verrichten müssen, haben es die Ruhr-Unternehmer doch noch nicht gebracht. Nur im Krieg arbeiteten Frauen auch in der deutschen Schwerindustrie. Die weiblichen Angestellten der Handelsbranche, Kaufhäuser, Verwaltungsbüros sind zahlenmäßig von keiner großen Bedeutung, außerdem rekrutieren sie sich wohl hauptsächlich aus Angehörigen des Kleinbürgertums. Es sind die Töchter der Werkmeister, Angestellten, Beamten. So bleibt außer Hausangestellten für Proletarierinnen nur der Beruf der Hausfrau übrig.

Und das Ruhrgebiet ist auch wirklich das Gebiet der proletarischen »Hausfrau«. Wohl nirgends beherrscht die Frau so ausschließlich den Haushalt wie beim Bergmann. Hat der Haushalt noch verwertbaren Wohnraum, so wird meistens ein Kostgänger genommen. Wenn der, was öfters vorkommen soll, nicht nur den Tisch, sondern auch das Bett teilt – Vollkost, voll, nennt man das unter Eingeweihten –, so weiß er dann wohl auch besonders gut, was ein Mann von einer Frau an Bedienung verlangen kann. Die Frau muß mit der Essenkocherei für sämtliche Familienmitglieder irgendwie zustande kommen. Sie teilt die elenden Löhne ein. Sie ist für Instandhaltung der Wäsche und des Arbeitszeuges verantwortlich, kurzum, auch wenn sie den Klassenkampf nicht in vorderster Front führt, so ist sie darum um nichts weniger ausgebeutet, dafür aber um so mehr zur Verdummung und Verspießung verdammt. Mit viel zu wenig Geld und viel zu vielen Kindern, zu denen jedes Jahr ein neues kommt, einen Haushalt führen müssen, das ist wahrscheinlich sogar die gründlichste Ausbeutung eines Menschen, die es in unserer auf Ausbeutung aufgebauten Gesellschaft gibt.

 

Die Frauen im Ruhrgebiet, sofern sie den proletarischen Schichten entstammen, heiraten früh. Das Industriegebiet ist das einzige in ganz Deutschland, wo nicht nur kein Frauenüberschuß vorhanden ist wie im übrigen Reich, sondern sogar ein recht erheblicher Männerüberschuß. Das Überangebot männlicher Bewerber spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Soziologie des Ruhrgebiets. Fast ausnahmslos kommt jedes Mädchen unter die Haube, ob körperlich mißgestaltet oder sonst mit Mängeln behaftet. Schwangerschaft ist fast immer der Grund, die Ehe einzugehen. Die sexuelle Not des jungen Kostgängers, seine durch die mordende Arbeit auf der Kohlenzeche oder Hütte geförderte Sehnsucht, sich so bald als möglich einen Ruhepunkt zu schaffen, erlaubt ihm keine große Auswahl.

Die einzige Konzession, die das Bürgertum zur Lösung des Geschlechtsproblems zu machen bereit ist, besteht in einer umfangreichen Prostitution. In allen Städten des Ruhrbezirks gibt es Bordellstraßen. Außerdem sind Mord und Totschlag, Liebesaffären, Kostgängerdramen und Skandale an der Tagesordnung. Hierzu kommt die geradezu ungeheuerliche Wohnungsnot und die Unmöglichkeit für eine Frau, Arbeit zu erlangen, mit der sie sich selbständig ernähren könnte. So machen die menschenunwürdigen Verhältnisse die Frau zur doppelten Sklavin, zur Sklavin des Mannes, von dessen Lohn sie ganz und gar abhängig ist, und zur Sklavin des Unternehmers, dem sie mit ihrem Kindersegen, ihren kleinbürgerlichen Haustier-Eigenschaften, ihrem demütigen Sichfügen in die Ideologie der herrschenden Klasse, mit ihrer unpolitischen Geistesrichtung den größten Dienst erweist, nämlich: den Mann vom Klassenbewußtsein und Klassenkampf fern zu halten.

Dem Soziologen zeigt die Mode gewisse durch ökonomische und politische Veränderungen hervorgerufene Umgestaltungen der Ideologien an; nun, der Konservatismus auch in Modefragen ist im Ruhrgebiet unbeschreiblich. Auch in der Mode ist das Ruhrgebiet rückständiger als die entlegenste agrarische Provinz. Seit Jahrzehnten tragen die Frauen die alte Haartracht und Kleidung, unberührt von den wechselnden Formen im übrigen Reiche, die doch wenigstens vorübergehend für die Frau eine gewisse körperliche Befreiung mit sich brachten. Im Gegenteil, den Abscheu vor den »unmoralischen Neuerungen« tragen just die Proletarierinnen an der Ruhr besonders deutlich zur Schau.

Ein anderes Beispiel dafür, wie die auf häusliche und Wohnarbeit beschränkten Frauen im Ruhrgebiet eine Hauptstütze der Reaktion werden: Nirgends ist die Aufklärungsarbeit über die Paragraphen 218/219 so wenig beachtet, nirgends so wenig erfolgreich geblieben wie im Ruhrgebiet.

In Hamborn zum Beispiel, einer reinen Bergarbeiterstadt, gibt es zahlreiche schlesische Familien mit Kinderzahlen, die zwischen 5 und 20 schwanken. Die Eltern kennen sich noch vom Dorf her. Die katholische Kirche unterstützt die Auffassung von der Heiligkeit dieses Kindersegens und stellt sich konsequent in den Dienst der kapitalistischen Bevölkerungspropaganda. Die Wohnungsvermittlung richtet sich ganz nach dem Wunsch und Programm des Unternehmers, der willige, durch die Größe der Familie an die Arbeitsstelle und den Hungerlohn gefesselte Arbeiter sehr zu schätzen weiß. Darum beeinflußt die Kinderzahl auch die schnelle oder langsamere Zuweisung einer Wohnung. Und die rechtlose Frau wird stets versuchen, die Kinder als Mittel zu nützen, den Mann zu halten. Die Sorge um die Kinder ist die eiserne Kette, die den Mann an die Hölle des Bergwerks kettet, sie ist zugleich ein Druckmittel, das die Frau anwendet, sich in ihrer Sklavenstellung irgendwie Geltung zu verschaffen.

 

Nach alledem wird es weiter niemanden erstaunen, daß im Ruhrgebiet kaum irgendeine politische Frauenbewegung zu finden ist, daß der Prozentsatz der in Parteien und Gewerkschaften organisierten Frauen, im Gegensatz zu dem Prozentsatz der in katholischen Vereinen zusammengeschlossenen, katastrophal gering ist; daß Klatsch, erotische Sensationslust, muckerische Brutalitäten, religiöse Verwirrungen blühen, daß erzieherische Rückständigkeit gegenüber den Kindern das Gebräuchliche und Normale ist.

Die aufgeklärte Industriearbeiterschaft versucht eine Klärung und Scheidung der Geister herbeizuführen. Die fortschrittliche Masse schafft sich in den proletarischen Parteien, Gewerkschaften, Sport- und Jugendorganisationen neue Formen einer kämpferischen Bildung und Unterhaltung. Arbeiterspieltrupps machen politisches Kabarett aus den Lebensbedingungen des Reviers heraus. Sprech- und Bewegungschöre der Jugend stellen die Ausbeutung in der Grube, die Hetze im Walzwerk, die stumpfe Trostlosigkeit im Haushalt, die Jagd nach Profit, den Kampf der Massen um eine bessere Zukunft auf die Bühne. Im Dröhnen der Maschinen entflammen die proletarischen Dichter und Erzähler. Es sind Ansätze genug da, die zu einer bodenständigen Kultur des Ruhrbezirks entwickelt werden könnten; trotz des vielen Falschen und Verlogenen, das nebenher läuft. Wenn die Massen nur erst erkannt haben werden, was sie sind und was ihnen nützt, dann werden sie sich Macht und Wirkung jeder Art zu erzwingen wissen.

Unaufhaltsam aber ist der Prozeß, der die Klassensolidarität und die Erkenntnis von der Gleichheit des Schicksals aller Expropriierten vertieft und verbreitert. Die großen Arbeitskämpfe und Aussperrungen nach dem Krieg haben das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Erkenntnis der Klassenlage weiter geklärt und gestählt. Im Kapp-Putsch haben die grauen Heere der Namenlosen sich über die trennenden Schranken verschiedener Weltanschauungen hinweg zur wuchtigen Abwehr der Willkür putschistischer Militärhaufen zusammengeschlossen. In Massengräbern liegen die Opfer der entfesselten weißen Soldateska, die hunderte Arbeiter standrechtete und füsilierte.

Allen bürgerlichen Vergiftungs- und Spaltungsversuchen zum Trotz: Arbeiterblut und Arbeiterschweiß kittet. In Krieg und Nachkrieg wurde eine Industriebevölkerung geboren, die dem Ziel entgegenwächst: über landsmannschaftliche und religiöse Schranken hinweg zu einer Einheit zu verschmelzen.

Wie aus vielen Dialekten und Argotworten jenes eigenartige Platt wurde, das an der Ruhr Umgangssprache ist, so werden die hier zusammengewehten Menschen zu einem kollektiv handelnden Industrievolk werden, das seine besonderen und ureigenen Beziehungen zu den Erdschätzen, zu den Maschinen, zur Umwelt hat. Ohne die Summe dieser Energien und ohne die Verbindung aller dieser Menschen mit ihr, gäbe es den gewaltigen Organismus nicht, der sich die Großwirtschaft an der Ruhr nennt.


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