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Das Ruhrproletariat dichtet

Gerade an der Ruhr schafft sich das neue Werden, das dem alten System der Ausbeutung den Todesstoß versetzen wird, in den proletarischen Massen in einem Schrifttum seinen Ausdruck, das mit mehr Recht als andere »Arbeiter-Dichtung« eine proletarische Dichtkunst genannt werden darf. Die Namenlosen in Schacht, Hütte und Fabrik könnten aus ihren Reihen mehr gestalterische, sinngebende Kräfte entwickeln, als man heute zu ahnen vermag. Diese Kräfte werden erst dann zur vollen Auswirkung kommen, wenn ihnen die wirtschaftlich sichere Basis durch eine gerechte Verteilung der Güter dieser Erde gegeben ist. Wenn es heute einem Proletarier gelingt, den Adlerflug des Geistes anzutreten, so braucht er dazu mehr als nur geistig gestaltende Kräfte, es braucht dazu ein Übermaß an Energien und körperlichen Kräften, und es braucht dazu jenen blinden, dummen und brutalen Zufall, den die kapitalistische Gesellschaft als »göttliche Weltordnung« schalten und walten läßt.

Der Bericht über das Schrifttum eines Industriegebietes, das nicht nach »göttlicher Weltordnung«, sondern nach einer durch den Menschen geordneten Produktionsorganisation arbeitet, würde also wohl anders aussehen als das, was wir hier zu berichten haben. Wieviel Gestaltungskraft und Gestaltungswille im Ruhrproleten steckt, hat schon ein Versuch Ernst Hardts in der Arbeiterstunde des Westdeutschen Rundfunks bewiesen; da wurden Gedichte und Gesänge einfacher Kumpel durch den Äther in die Welt gesendet. Ohne jegliche publizistische Ambitionen, ohne jegliche Kenntnis des bürgerlichen Literatur-Betriebes niedergeschrieben, waren das doch so erschütternde Dokumente des Strebens nach einer künstlerischen Formung, nach einer Bewältigung des Erlebten und Erlittenen mit Hilfe des vergeistigten Werkzeugs der Sprache, daß man wohl von dichterischer Gestaltung sprechen darf. Das erwachende Bewußtsein, das erstarkende Ringen um eine Kultur zwingt diese Bergleute, die täglich und stündlich dem Tod ins Auge schauen und in mühevoller Arbeitsqual der Erde ihr schwarzes Brot abtrotzen, in – manchmal rührend unbeholfenen – Versen, dem Sinn und Zweck ihres Daseins, dem Bild und Gleichnis ihres Lebens nachzutasten. Mit diesen Worten in der erhöhten Sprache der gebundenen Rede fühlt sich der einzelne zum Sprecher des Kollektivs seiner zahllosen Arbeitsbrüder werden; so versucht er, seinen Rufen nach Freude, nach Sicherheit, Klarheit, nach allem Schönen und Echten dieser Welt weiterreichende Tragkraft, lauteren Widerhall zu geben. Die tagelange, einsame Arbeit, ständig im Kampf mit der Natur und ihren unberechenbaren Gewalten, macht die Menschen zu Grüblern; nur daß ihnen die Mittel des Ausdrucks nicht in die Hand gegeben werden, wie man ihnen ihre Keilhau in die Hand drückt, verhindert die Entstehung wirklicher Volksdichtung, im heute noch nicht ausgeschöpften vollen Sinn dieses Wortes. Einen großen Raum in den Dichtungen der Ruhrbergleute nimmt die Frage der Neugestaltung ihres eigenen Schicksals ein. In allen diesen Menschen lebt die Sehnsucht nach einer glücklicheren Welt. Sie wollen nicht ständig im Dunkeln stehen. Ans Licht wollen sie, herauswachsen aus der Enge des grauen, sinnlosen Alltags. In vielen dieser stammelnden Verse spiegelt sich ein sieghafter Optimismus, den kein melancholischer Pessimismus – und sei er noch so naheliegend – ganz zu erdrücken vermag. Was das Herz vor dem Kohlenflöz klopfte, was klopfender Sprachkörper wurde, will festgehalten sein. Nach der Schicht wird es niedergeschrieben, vielleicht auf ein schmutziges Stück Papier, das zum Einwickeln des Margarinebrotes diente. So kommen diese Gedichte zustande, und was ihnen an Bewußtseinserläuterung und kristallisierender Kunstfertigkeit fehlen mag, das ersetzen sie durch Erlebnisnähe und urtümliches Empfinden.

Die zufälligen Dichter dieser Gedichte stehen zu ihrem Schicksal, wurzeln in ihrer Klasse, in ihrem Tagewerk. Was sie schreiben, ist lebenstrotzend, blutwarm, keine leichthin gelogenen Worte. Was sie sehen, sehen sie genau und spüren seinen inneren Sinn: ihr Häuschen in der Bergarbeiterkolonie, die vierstöckigen Mietskasernen in den engen Straßen der Industriestadt, den kleinen Garten, dessen Pflanzen durch den Ruß so kümmerlich geraten, die staubigen Gassen, in denen so sehr viele blasse Kinder spielen, Rauchschwaden, Schornsteine, Kirchtürme, Hütten und beherrschend über dem Ganzen: der Förderturm, der die Bergleute nach den mageren Stunden der Ruhe wieder in die schwarze Tiefe befördert. Dieses unmittelbare, reale Erleben formt dieser und jener Mund aus der Masse zu schwergeborenen, holprigen Wortmelodien um. In allen Ohren dröhnt der taktende Marschschritt der Arbeiterformationen: Eins, zwei! Eins, zwei! Unabsehbare graue Kolonnen sind im Anzug, wissen, fühlen ihr Recht, ihre gerechte Forderung nach Generationen harter ausbeutender Arbeit. Da und dort spricht es einer aus. Suchend und zögernd noch klopft der Rhythmus der Sprache. Hier einer und dort einer aus der bisher wortunbegabten Masse, der man die Zunge gebunden hat, erlebt die symbolhaltige Gleichniskraft des Wortes; einer und noch einer erlebt, daß Erkenntnis Waffe ist. Er spürt plötzlich die Kraft des in das Wort gezwungenen Geistes – neu noch, unsicher geht er diesen Weg, jeder wie zum erstenmal, seitdem Menschen sind, jeder ganz für sich allein – nein, doch nicht für sich allein – für alle!

 

Wem es gelingt, das Wort zu formen, der will Sprachrohr sein. Wenn er der arbeitenden Masse entstammt, wenn seine Augen seine Klasse sehen gelernt haben, wird er ihr treu bleiben. Man braucht nur jene jungen proletarischen Dichter, die sich in den letzten Jahren einen »Namen« gemacht haben, denen es geglückt ist, sich die schriftstellerischen Produktionsmittel an Bildung und Sprachbeherrschung zu erobern, ansehen, um zu wissen, die Dichter und ihre Klasse sind eine Einheit, es wird ein neues, es wird ein proletarisches Schrifttum an der Ruhr. Die Jungen lassen sich nicht mehr so leicht kaufen von der Bürgerlichkeit. Sie wissen, daß sie im Gemeinschaftsgefühl des Kollektivs wurzeln, aus dem sie hervorgegangen sind. Sie pfeifen auf die bürgerliche Isolierung des einsamen Genies, das auf der Menschheit Höhen wohnt und mit dem König gehen soll. Sie wissen, daß es ihre Pflicht und Höhe ist, klingend auszusprechen, was die Brüder und Schwestern nur heiser stöhnen oder dumpf murmeln oder unklar stammeln können. Und sie tun es.

Da ist Franz Krey, der zum Dichten kam, als er vor ein paar Jahren mit dem Beginn der Rationalisierung aus dem Betrieb entlassen wurde, der sich selbst »Dichter aus Arbeitslosigkeit« nennt, obgleich er so allmählich sogar von Berufsliteraten als Kollege angesehen wird. Er hat die seltene Gabe, in seinen Versen das Wortmaterial in strengster Kargheit zu gebrauchen und doch größte Anschaulichkeit damit zu erzielen. Krey ist vornehmlich ein Lyriker des Gedanklichen. Er sinnt über die letzten Dinge dieser Welt. So formt er ein Bergarbeitergebet aus der unterirdischen Arbeitsstätte, das eine göttliche Gerechtigkeit ad absurdum führt, die nach dieser irdischen Hölle noch andere Höllenqualen nötig zu haben glaubt:

Herr, Gott, Vater, ich habe gehört, es gäbe eine Hölle.
In ihr wäre alles aus Eisen und glühend.
Unsere Welt ist voller Feuer und Eisen!
Teufel sollen in der Hölle die Seelen quälen.
Ist die Welt die Hölle?
Doch hörte ich, nur Schlechte und Sündige nähme die Hölle auf.
Waren wir sündig und schlecht?
Konnten wir im Mutterleib sündigen?
Warum sind wir in der Hölle? Gott! Warum?

Krey gelingt die Gestaltung brennender Empörung, die eindringliche Schilderung der gequälten Kreatur, die Aufdeckung innerster Zusammenhänge, ohne daß er dabei in aufdringliche Tendenz verfiele. In modernen Balladen wird der Namenlose zum Helden, die Masse zum Subjekt. Die Kurzgeschichten Kreys sind in ihrer Gestaltung zwingend, ihre Form ist erarbeitet, und auch sie verzichten auf jede billige Schablone. Kreys veristische Technik und sein scharfer Blick für die Auswirkungen der Klassenkämpfe werden den Ruhrproblemen gerecht. Sicherlich kann man von diesem jungen Dichter der Arbeiterklasse noch manches erwarten. Seine Kraft und sein Gestaltungswille sind ungebrochen. Die Arbeit im Büro, in der Werkstatt, in der Grube haben ihn mit Stoff gefüllt, den er verarbeiten wird.

In einem Bergarbeiterdorf bei Essen lebt auch der Bergmann Hans Marchwitza, dessen Name dem Ohr des Bücherkundigen allmählich bekannt zu werden beginnt. Er hat Jahrzehnte seines Lebens unter Tag vor Kohle gelegen und war längst ein reifer Mann geworden, ehe es ihm gelang, das druckreif niederzuschreiben, was bei der Arbeit sein Herz bewegte. In seinen Gedichten lebt die harte, unheimliche, unterirdische Welt, der Stollen, der Modergeruch der Tiefe, der alte Grubengaul, Not und Kampf und Lebenswille und Hoffnung der Bergleute. Dieser Dichter hat das Schicksal härtester Proletarierjugend in Oberschlesien getragen; Arbeit von Kind an, Hunger und Not. Es ist ein Zeugnis für seinen eisenharten Willen zum geistigen Aufstieg, daß es Marchwitza trotz dürftigster Schulbildung gelungen ist, einwandfreie Verse zu feilen und sprachlich wie dramatisch wirkungsvolle Kurzszenen zu bauen, die außerordentlich bühnentauglich sind und auch viel von Arbeiterlaienspielern aufgeführt werden. Marchwitza berichtet, wie er zu schreiben begann: »Im Gerassel der Bohrhämmer, im Gedonner der Sprengschüsse, im Lärm der sausenden Rutschen, beim Flackern des nachtmüden Lampenlichts, beim Herunterwürgen des hitzegetrockneten Brotes, das oft von kleinen, langgeschwänzten Mitbewohnern der Kohlenschächte angenagt war, fühlte ich wie tausend andere die Verlassenheit, das Entsetzliche unseres Seins. Man hat das Bedürfnis, seine Qual hinauszuschreien, sich jemand mitzuteilen, Freunde und Kameraden zu suchen, die Verständnis auch für den Menschen in uns haben ... Aber alle, die um mich waren, trugen schwer, waren wenig zugänglich, verschlossen und verbittert. Ein kleines Tagebuch ersetzte mir den gesuchten Kameraden. Darin schrieb ich meine ersten, ungelenken Wünsche ...« So wird man ein proletarischer Dichter. Diese Tagebuchseiten lieferten den Stoff für Erzählungen und Skizzen. Ein Roman aus dem Kapp-Putsch im Ruhrgebiet, der den Kampf zwischen den Arbeitern und der bewaffneten Macht schildert, zeigt Marchwitza schon als Erzähler, der einem größeren Stoff und einer größeren Form gewachsen ist.

Einer der repräsentativsten, ortsansässigen Vertreter des proletarischen Schrifttums ist der Dortmunder Erich Grisar. Auch ihm, dem ehemaligen Metallarbeiter, ist es gelungen, seinen Dichtungen über seine engere Heimat hinaus Gehör zu verschaffen. Dabei hat er dem Revier und das Revier ihm viel zu danken. Grisar hat sich durch die wuchtige Sangbarkeit seiner Lyrik die Resonanz der ganzen deutschen Arbeiterschaft errungen. Aus ihm strömt eine unerschöpfliche Quelle von Vitalität; alles an ihm und seiner Dichtung ist Kraftgefühl, Lebenswille und Glücksforderung. Grisar opponiert in seiner überschäumenden Daseinsbejahung sogar gegen eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung von den Verdammten dieser Erde, wenn er in dem Gedicht »Wir schreiten stolz« sagt:

Ich glaube nicht, daß wir Verdammte sind,
Wenn wir auch hungern und im Elend schrein,
Und um uns steile Wände sind:
Im Elend sind wir nicht allein!

So schreien Grisars Gedichte die Sehnsucht des Industriearbeiters nach Freude, Schönheit, Kameradschaft und Erlösung in die Welt. Auch er hat sich die Form Stück um Stück und Wort um Wort mühsam erkämpfen müssen, die jetzt den bürgerlich überkommenen Rahmen sprengt und dem überströmenden Inhalt gerecht werden kann.

Die jungen, proletarischen Schriftsteller und Dichter des Ruhrgebiets können niemals entrückte Schönheitssucher und Nur-Ästheten sein. Sie überlassen es bürgerlichen Autoren als Barden der sinnfälligen Impressionen von lohenden Essen, glühendem Eisen, fettschwarzer Kohle aufzutreten. Sie kennen aus der Erfahrung an ihrem eigenen Leib den Mörtel, der das ganze stolze Gemäuer der heutigen Industrie zusammenhält: Arbeiterschweiß und Arbeiterblut, Hunger, Freudlosigkeit, Stumpfheit und harte Fron. So finden bei ihnen auch die Untergründe der sachlichen Potenzen eines Hüttenwerkes, einer Kokerei den proletarischen verdichteten, gedichteten wortbildnerischen Ausdruck. Ihre Helden sind keine Idealgestalten, Adonisse als Kohlenarbeiter, Märchenprinzessinnen als Arbeiterfrauen. Ihre Figuren sind Wesen aus Fleisch und Blut, mit Irrtümern, Dumpfheit, mit Kümmernissen, Sehnsucht beladen, wie sie ein Leben Arbeit im Kohlenpütt auf einem arbeitsgekrümmten Rücken häufen; oder es sind Erwerbslose, faulend und gärend in dem Vollsaft müßiger, junger Arbeitskraft, oder versklavte, zu tierischer Demut heruntergedrückte Frauen oder hungernde Kinder. Sogar die Lyrik des Proletariats an der Ruhr ist hart und kantig wie die Kohlenbrocken, die unten im Stollen losgehackt werden. So wie in dieser Kohle liegt die Glut auch in den rauhen Versen erstarrt und gefangen. Eines Tages, da wird wohl ein großes Brennen anheben ...

Bis dahin überläßt das Proletariat die Jubel- und Triumphgesänge über die Siege der Technik und darüber, wie herrlich weit es die Menschheit gebracht hat, jenen idealisierenden Poeten, die für schwerindustrielle Mäzene nach Maß Haus- und Festgedichte liefern.


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