Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die City der werdenden Ruhrstadt

Im Wettkampf um die Vorherrschaft der Ruhrstädte liegt Essen an der Spitze. Essen hat die günstigsten geographischen Bedingungen. Es ist das Zentrum schon seiner Lage nach, und außerdem durch seine Eisenerzeugung und Kohleförderung auch in wirtschaftlicher Hinsicht der Mittelpunkt. Im Mittelpunkt des Mittelpunkts hat Essen seinen Krupp, immer noch, dem Ansehen und dem Klang des Namens nach, der repräsentativste Betrieb des Ruhrgebiets.

Obgleich durch die Eingemeindungen Essen 1929 sogar zur drittgrößten Stadt Preußens wurde, ist es noch immer dem rheinischen Regierungsbezirk Düsseldorf zugehörig, und damit der Provinz Rheinland, deren Hauptstadt, weitab vom Getriebe, das stille Koblenz blieb. So hat also Essen immer noch um die offizielle Anerkennung der Tatsache zu ringen, daß es der Mittelpunkt des Ruhrgebiets, die City der Ruhrstadt und damit der naturgegebene Träger der Selbstverwaltung des Industriebezirks ist. Die Geschicke des Ruhrlandes, des homogensten Gebietes Deutschlands, werden vorläufig immer noch von zwei Provinzen geleitet, und drei Regierungsbezirke sind's, die hier regieren. Viele Köche verderben den Brei, von dem sie sich alle tüchtige Kostproben sichern möchten. Dennoch bekommt die Stadt allmählich das Gesicht, das zu ihrer Aufgabe paßt, wenn auch hier und da noch ein bißchen Puder aufgelegt werden sollte und dem Stift des Schönheitskünstlers manche Linie nachzuziehen bleibt. Immerhin ist Essen heute schon die Stadt der schönsten und repräsentabelsten Bauten des Kohlenpotts. Die Industrie weiß, was sie ihrem Ansehen schuldig ist. 1890 konnte in einer Neuausgabe des 1841 von Levin Schücking und Ferdinand Freiligrath herausgegebenen heimatkundlichen Werks »Das malerische und romantische Westfalen« noch unkommentiert geschrieben werden: »Essen selbst ist eine häßliche Stadt, der nur die vor ihren Toren liegenden Landhäuser reicher Fabrikherren einigen Schmuck geben. Sie ist so schwarz von Kohlenstaub wie London von seinem Nebelqualm«; 1930 dagegen müßte ein gewissenhafter Herausgeber dieses scharf abfällige Urteil als historische Vergangenheit kennzeichnen.

Sicherlich wirkt die Stadt auch heute noch auf den ersten flüchtigen Blick unfreundlich und rußgeschwärzt. Das gilt aber nur für den inneren Stadtkern, die sogenannte Altstadt, mit ihren engen Gäßchen, buckeligem Kopfsteinpflaster, brüchigen Gartenmauern und wackeligen Fachwerkhäusern. Auch die eigentlichen Arbeiterviertel um das Kruppgelände herum, das Segeroth und Altendorf, werden mit ihrem dichten, verwinkelten Straßennetz, mit den von Fabrikrauch zerfressenen schmucklosen, ungepflegten Fassaden keinen Schönheitssucher begeistern. Hier gibt es noch ganze Straßenzüge ohne Kanalisation, und das W. C, das weder W. noch C. ist, liegt auf dem offenen, von der Straße aus jedem sichtbaren und zugänglichen Hof. Warum sollten sich aber auch neugierige Fremde in diese Viertel verlaufen, wo die Stadt Essen ihren Besuchern so viel Angenehmes zu zeigen hat? Man braucht ja nur der offiziellen Verkehrswerbung der Behörden oder den Reiseführern anderer um den Fremdenverkehr aus bemittelten Kreisen bemühten Organisationen zu folgen, da sieht Essen schon ganz anders aus.

Diese Stadt ist rapide gewachsen; sie hatte um die Jahrhundertwende nicht mehr als 56 000 Einwohner und zählt heute 650 000 . Das sind größtenteils Menschen, deren Hände und Köpfe im Dienste der Industrie und Verwaltung stehen, oder handeltreibende Geschäftsleute, also im Durchschnitt recht lebenstüchtige, betriebsame und anspruchsvolle Leute. Das sieht man Essen auf Schritt und Tritt an.

Die Stadt soll auch laut Inseraten die günstigste Einkaufsquelle auf dreißig Kilometern im Umkreis sein. Ich habe das nicht selbst nachgeprüft, und es sagt auch bei der Qualität der sonstigen Einkaufsquellen im Ruhrgebiet nicht allzuviel; aber ich kann mir gut vorstellen, daß auch bei den Essener Handelsleuten der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Wenn man auf der Landkarte den Zirkel in Essen als Mittelpunkt einsetzt und einen Kreis schlägt, dessen Radius 30 Kilometer lang ist, so kann man sich ausrechnen, daß innerhalb dieses Kreises vierundeinviertel Millionen Menschen wohnen. Und selbst die ärmste Bergmannsfrau aus Höntrop oder Buer in der engen Hauptgeschäftsstraße zum Shopping begrüßen zu dürfen, ist das Ziel der sich zu neuzeitlichen Werbemethoden bekennenden Reklametextschreiber. Essen wants to see you!

Freilich übt eine nahe Großstadt eine mächtige Anziehung auf ihre halb ländliche, halb industrielle Umgebung aus. Ob die Leute alle einkaufen, das ist mehr eine Frage des Geldbeutels. Zu tun hat aber jeder einmal in Essen, sei es bei der Bezirksleitung des Metallarbeiter-Verbandes, sei es vor der Arbeitskammer für den Bergbau oder in jenem Hause, wo man Arbeit nachgewiesen bekäme, wenn es welche gäbe. Aber nicht nur die Proleten der Umgebung zieht es nach Essen; jeder Reisende im Ruhrgebiet wird die Metropole kennenlernen wollen. Dichter, Schriftsteller und Reporter würdigen sie in einer Stippvisite und holen ihre 150 Zeilen aus ihr heraus. Wobei dann Metaphern geprägt werden, wie »Goldgräberstadt«, von wegen der vielen Neubauten; oder man wählt das viele Buddeln in der Stadt als Veranlassung zur Bekanntgabe tiefsinniger Beobachtungen.

Der architektonische Neuformungsprozeß des Essener Stadtbildes ist aber in der Tat des Interesses und genauerer Beobachtung wert. Man versucht, die Stadtmitte, das eigentliche Geschäfts- und Verwaltungsviertel, aufzulockern und hat dabei mit dem hügeligen Gelände der Stadt (die Höhenunterschiede innerhalb des Stadtgebiets schwanken zwischen 44 und 200 Meter) und mit der scharfkurvigen Hauptverkehrsader gewaltige Schwierigkeiten. Am Hauptbahnhof – in der nordsüdlich verlaufenden Hauptstraße, der Kettwiger Straße – wird die Enge zu verkehrsreichen Zeiten lebensgefährlich. Man sieht, wie die Straßenbahnwagen im Schritt-Tempo sich in den Menschenhaufen hineinwühlen, als ob sie auf Mord ausgingen, und mit einem Auto ist überhaupt an kein Durchkommen zu denken.

Der Burgplatz, nur ein paar Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, der Aufmarschplatz aller öffentlichen Veranstaltungen von der Fronleichnamsprozession und dem Landeskriegerfest des Kyffhäuserbundes bis zur Maidemonstration – der Burgplatz ist bereits außerordentlich geschickt modernisiert worden. Hier liegt das fast siebenhundert Jahre alte Münster, das einen reichen Goldschatz besitzt, den die biblischen Motten und der Rost noch nicht gefressen haben. Die an Kirche und Platz vorbeilaufende Straße bildet mit ihren modernen Häusern einen seltsamen, aber nicht unharmonischen Kontrast zu dem alten romanischen Gemäuer. Auch die 1912 von Professor Edmund Körner erbaute Synagoge ist nicht nur an und für sich, sondern auch in ihrer Eingliederung in das Stadtbild ein gut geglückter Versuch.

Wenn auch das Bunte und Stilgemischte ein bißchen nach Neureich aussieht – vierschrötigen Geschäftshäusern wird eine Fassade aufgepappt, daß sie fast aussehen wie florentinische Palazzis –, so ist doch in Essen alles Bauen und Renovieren mit einer gewissen Zielstrebigkeit unternommen, mit dem Bewußtsein des Wachstums und der Aufgaben der Stadt, und so werden auch Geschmacksverwirrungen erträglicher.

In wenigen Jahren entstand eine Reihe von Prachtbauten auch in der Bahnhofsgegend; das Haus der Technik für die Fortbildung der Ingenieure, das weitläufige Deutschlandhaus als Bürozentrale, ein großes Kino, die Lichtburg, wo es auch Münchener Bier zu trinken und durchaus unsachliche »neue Sachlichkeit« zu sehen gibt.

Die Stadt versteht es, mit Hilfe kostspieliger Bauten Folie zu geben. Anscheinend ist derlei leichter zu finanzieren als der doch so bitter nötige Wohnungsbau.

 

Es liegt im Zuge der Entwicklung, daß sich in Essen das wirtschaftliche Leben des ganzen Ruhrbezirkes konzentriert. Darum schaffen sich hier die Exponenten der Industrie ebenso ihre Verwaltung und Handelsvertretungen, wie staatliche und gemeinnützige Organe der Siedlung, der Wasserbewirtschaftung und der Gas- und Elektrizitätsversorgung.

Immer noch ist Essen auch für den Bergbau von großer Wichtigkeit. Seit dem 14. Jahrhundert wird hier Kohle abgebaut, und noch 1928 lagen 17 Zechen innerhalb der Stadtgrenzen. Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, die Absatzorganisation der Bergwerksbesitzer, hat mitten im belebtesten Teil der Stadt seine feste Burg der Profitsicherung. Der Bergbauliche Verein in Personalunion mit dem Zechenverband versucht von Essen aus, den Kumpels zu diktieren, was sie verdienen oder nicht verdienen dürfen. Wofür hätte man denn seine Syndizi, wenn sie nicht beweisen könnten, daß der Lohnanteil am Produkt zu hoch ist?

Der Norden der Stadt ist das Essen der Produktion, die Fabrikstadt. Sie greift bis über den Rhein-Herne-Kanal hinaus, weil hier das Vorgelände noch freien Platz bietet. Die Umgemeindung sprengte den Ring der zwängenden Umklammerung, den die vielen kleinen Gemeinden um Essen gelegt hatten. Jetzt sind sie alle Essener Stadtteile geworden.

Die Stadt wächst und dehnt sich aus; ein Grüngürtel entsteht, in dem die Lungen freier atmen können: viele Inseln der Erholung mit Rasen, Gebüsch und Bäumen. In der Proletarierstadt im Norden ist es noch nicht sehr weit her damit; aber oberhalb der Bahnlinie, dort, wo sich die südlichen Viertel über die Berge des Ardey und über die Ruhr hinweg bis auf Werden zu heranschieben, sind Grünanlagen schon großzügig und planvoll durchgeführt. Die durch die Bodenbeschaffenheit vorgezeichnete und ideal richtige Lösung wäre es, diese Trennung der Stadt in Arbeits- und Wohnviertel vollständig durchzuführen, mit dem Geschäfts- und Vergnügungsviertel der Altstadt als Verbindungsglied zwischen den beiden Stadtteilen.

Die lindenbestandene Huyssen-Allee, die am Bahnhof beginnt und bis an die Ruhr heranführt, sieht pompös aus. Es ist keine schmeichelnde Übertreibung, wenn man ihr Ähnlichkeit mit der Promenade eines Badeorts nachgesagt. An der Huyssen-Allee liegt auch der Stadtgarten, ein prächtiger Park mit reichlichem altem Baumbestand und malerischen Teichen, an deren Ufer langbeinige exotische Wasservögel in philosophischer Ruhe herumstelzen.

Am Abend gibt es da Konzerte. Der Musikpavillon wird umschichtig von Orchestern belegt, die verschieden gefärbte Weltanschauungen musikalisch interpretieren. Hier tönen die Bläserkorps bündischer Organisationen, oder der Chorgesangverein der christlichen Metallarbeiter oder die Volkschöre der klassenkämpferisch organisierten Arbeiterschaft oder die Militärkapelle des Reiterregiments Paderborn. Die Terrasse des unvermeidlichen Saalbaus, hier nur »Qualbau« geheißen, wird mit geschwungenen Girlanden aus blauen und gelben Glaskugeln illuminiert, weil Blau und Gelb die Farben der Stadt sind. Der große Saal des Baus ist der Schauplatz aller größeren Kundgebungen, mit denen die verschiedenen Wirtschaftsverbände das Ohr der Öffentlichkeit erreichen wollen. Unter anderen sprach hier auch Imbusch, ein Führer der »Christen«, die im Ruhrgebiet radikaler schillern, als es eigentlich ihrem Naturell entspricht; und der Saal vernahm staunend aus christlichem Munde das große Wort, daß bei einer neuen Revolution die Köpfe der Unternehmer im Sand rollen würden. Caveant Consules!

 

Obgleich Essen von Amts wegen die Würde einer Hauptstadt im Wirtschaftsgebiet nicht zugestanden wird, fühlt sich diese Stadt dennoch als ungekrönte Metropole und wird es mit jedem Tag mehr. Sonst würde wohl auch nicht der interkommunale Siedlungsverband des Ruhrbezirkes hier residieren. Wenn alle Arbeit, die dieser Verband leisten will, so sinnvoll und klar ausfallen wird wie der mustergültige Bau eines eigenen Verwaltungsgebäudes, darf man sich freuen.

Der Siedlungsverband ist, wie schon erwähnt, ein besonderer Kommunalverband für zwischengemeindliche stadtbauliche Aufgaben; seine Mitglieder sind die Stadt- und Landkreise an der Ruhr. Sie wählen aus ihren Stadtparlamenten und Kreistagen die Vertrauensleute für die Verbandsversammlung des Siedlungsverbandes, der somit eigentlich den Keim zu dem künftigen Stadtparlament der großen Ruhrstadt, die es heute noch nicht geben darf, darstellt. Ein Verbandspräsidium sitzt als staatliche Aufsichtsinstanz noch über dem Siedlungsverband. Wenn wir eine neue Behörde schaffen, darf die mit viel Verwaltung beschwerte Aufsicht nicht fehlen.

Das Walten und Wirken des Siedlungsverbandes macht sich auch in Essen selbst schon an vielen Stellen wohltuend bemerkbar. Die Straßen, die er baut – die Verbandsstraßen –, sind breite Verkehrsbänder durch das ganze Gebiet, in die die Hauptverkehrsadern der Städte einmünden. Die Verbandsstraßen sind moderne Hellwege von ganz neuartigem Profil und mit Lotsenschildern in einheitlicher klarer Beschriftung, schwarz auf gelbem Grund, die den Fahrer sicher leiten. Erst der Ruhrsiedlungsverband hat mit durchgehenden Fahr- und Gehbahnen das Industriegebiet des Westens einem geregelten Auto- und Wagenverkehr erschlossen und den verkehrshemmenden Wirrwarr der kommunalen altmodischen Landstraßen und Wege durch einen brauchbaren Gesamtverkehrsplan ersetzt. Die Tätigkeit des Ruhrsiedlungsverbandes scheint noch nicht bürokratisch belastet zu sein. Seine regelnde Hand ist nicht täppisch-grob, aber doch energisch zupackend, das spürt man überall, wo man ihr begegnet.

Und immer wieder ist der Charakter Essens als die City einer durch ihre Verwaltung noch zerrissenen Einheit unverkennbar. Hier laufen die Drähte zusammen, mit denen die Puppenspieler der Wirtschaft das Welttheater in Bewegung setzen. Die vielen Werks- und Konzerndirektionen, ihre Einkaufs- und Verkaufsverbände für die verschiedenen Produkte und Rohstoffe, die Getreide-, Produkten- und Kuxenbörse, die die Preise regeln, das alles bestimmt nicht nur das Wirtschaftsleben der Stadt, sondern das Wirtschaftsleben des ganzen Bezirkes und damit das Leben von ganz Deutschland.

Das Institut für Konjunkturforschung hat sich nicht umsonst seine Abteilung Westen in Essen gebaut. Die Stelle für den Seismographen, dessen Nadel die Schwankungen der Wirtschaft registrieren soll, ist sehr gut gewählt.

 

Kann man nicht die Selbstgefälligkeit der Stadt begreifen, die auf die konkurrierenden Nachbarstädte mit einem mitleidigen Lächeln herabsieht? »Bitte«, sagen die Herren Essens, »welche Stadt liegt so schön wie das in der Welt als Dreckloch verschriene Essen? Wo gibt es ein Blütenparadies wie unsern Grugapark, so schöne, so gepflegte Grünanlagen, solche Siedlungen am Stadtrand bis in den tiefen Wald hinein? Wo solch prächtige, zweckvolle Bauten, einen botanischen Garten, einen solchen Ausstellungspark? Bitte, wir sind es « (und ihre Stimme überschlägt sich fast), »wir sind es, die über das herrliche Ruhrtal verfügen und über einige tausendjährige Kirchen im Stadtbereich und ein herrliches Wasserschloß, das früher mal den reichsunmittelbaren fürstlichen Äbtissinnen gehörte, die bis 1807 über das Land herrschten. Und ist nicht unser Motto: Man muß die Kultur an die Stätte der Arbeit tragen!? Die besten Schulen weit im Umkreis haben wir, und was tun wir nicht alles für die Kunst?«

Ja, was tun sie nicht alles für die Kunst? Sie haben den letzten großen Mäzen der Bourgeoisie beerbt, den Hagener Bankier Karl Ernst Osthaus, und haben sein Folkwang-Museum nach Essen verschleppt und die Folkwang-Idee durch Gründung von Folkwang-Schulen lebendig zu halten versucht. Bis jetzt ist noch nicht viel dabei herausgekommen, außer dem Verbrauch großer Steuerzuschüsse, mit denen man labanbeflissene Tanzmädchen fördert, die dann alljährlich im Opernhaus Proben ihres Könnens oder Nichtkönnens ablegen.

Essen gefällt sich in der von Oberbürgermeister Bracht öffentlich verkündeten Mäzenatenrolle; mag immerhin die an den Stätten der Arbeit geschaffene Kunst den Arbeitern und der Arbeit fern und fremd bleiben. Diese Art Kunst, wie sie hier gepflegt wird, hat nichts mit unserer rauhen Zeit zu tun, die mit hartem Knöchel gebieterisch sogar an die bunten Scheiben kirchenbefensteter Schlafzimmer von schwül-mystisch angehauchten Kunstdirektoren pocht. Alles, nur kein Klassenkampf in der Kunst! Dafür sakrale Oratorien: »Messe des Maschinenmenschen« oder »Requiem der heiligen Arbeit« für Chöre und großes Orchester. Oder aufgewärmte Händel-Opern im Stile der reinen hohen Kunst, vor wenigen zahlenden Zuhörern mit Pomp in Szene gesetzt, in einem städtischen Theater, das seinen jährlichen Millionenzuschuß braucht, weil die Nachbarstadt doch auch ein Theater subventioniert. Aber ja keine aktuellen Zeitthemen, weil sonst die Kunstpäpste der reaktionären Blätter rüffeln. Dabei entsteht noch nicht einmal das erstrebte »L'art pour l'art«, wie es der bürgerliche Kunstbetrieb sich so gerne einreden möchte, sondern Amüsierfutter und schiefe Erhebung für den Durchschnittsgeschmack provinziellen Kleinbürgertums. Eine famose Institution, so ein Theater! Da sitzen Gevatter Schneider und Handschuhmacher von der Zentrums-, Wirtschafts- oder Deutschnationalen Partei im Kunstausschuß und wahren die heiligsten Güter ihrer Geschäfts- und Familien-Muffigkeit. Bei jeder Neuinszenierung gibt es tausend Bedenken zu überwinden. Das sittliche Empfinden dieser Frauen und Töchter ist erschreckend leicht zu verletzen. Ab und zu fällt ein kleiner Trostbrocken fürs Volk ab, Büchner oder Toller oder Kaiser, und dann wieder eine Weile gar nichts. Und das Fazit ist, daß die Werktätigen nichts vom Theater haben, das sie mit ihren Steuergroschen bezahlen.

Auch der übrige Kunstbetrieb geht wie die Echternacher Springprozession, zwei Hüpfer vor, drei zurück! Skulpturen des Nackten im Ausstellungspark duldet das Zentrum nicht. Sie verschwinden auf Anordnung des oberbürgermeisterlichen Mäzens, der ohne die allmächtige römische Partei seinen Etat nicht unter Dach bringen kann. So macht man hier Kunstpolitik. Es muß zum Auswachsen sein, dieses Pendeln zwischen der scholastischen Kunstauffassung der Schwarzröcke und dem eingeschleppten säuerlich-puritanischen, selbstgerechten Teutschtum der Industriellen.

Wie aber könnte der kulturelle und geistige Überbau des Gebietes anders aussehen? Die ausbeuterische Wirtschaftsgesinnung, die hier allenthalben herrscht, braucht und gebraucht gerade solche Kunst als Waffe im Klassenkampf. Nur wenn die Ausgebeuteten sagen, was sie leiden, ist es, pfui, ein politisches Lied, unreine Tendenzkunst.

Essen ist die Stadt des ganzen Gebiets, die man am ehesten als Großstadt bezeichnen kann. Hier spielt dieser bürgerliche Kunstbetrieb eine gewisse Rolle und findet ein breiteres Publikum. In Essen hat sich eine bürgerliche Oberschicht herausgebildet wie sonst in keiner Ruhrstadt. In Essen gibt es mehr gehobene Angestellte, mehr bürgerlich angehauchte Existenzen, mehr Menschen mit Geld und darum auch weniger Provinz als in allen andern Städten des Industriebezirks zusammen. Wenn eine Firma aus dem Reich sich das Ruhrgebiet als Absatzgebiet erschließen will, verlegt sie ihre Filiale nach Essen; wenn ein Markenartikel, irgendeine »Neuheit« im Ruhrgebiet propagiert werden soll, fangen die Vertreter in Essen damit an. Auch die Korrespondenten der großen Presse aus dem Reich sind in Essen stationiert. Und nicht zum wenigsten trägt Krupp dazu bei, den bürgerlichen Charakter Essens zu steigern. Die Verwaltung für seinen ganzen Konzern, inbegriffen jener Werke, die außerhalb des Ruhrgebiets liegen (Germaniawerft, Kiel; Grusonwerk, Magdeburg u. a.m.), ist in Essen konzentriert.

Wie immer sich die Verhältnisse gestalten, Essen wird seine beherrschende Stellung im Ruhrrevier schon wegen seiner zentralen Lage behalten. Hier ist die City, hier fallen die Entscheidungen. Es war schon im Krieg und in den Nachkriegswirren so, und wird auch in späteren Jahren so bleiben. Hier fließen die Blutströme zusammen,

... hier ist das Herz!


 << zurück weiter >>