Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Ab-e Garm

Palmsonntag, 25. März

Es ist sieben Uhr, ein schöner Tag. Ich befinde mich in einem engen Tal zwischen dichtbewaldeten Hügeln; die kühle Feuchtigkeit der Nacht, der Geruch von Gras, Laub und Moos, die Frische des Morgens entströmen dem Boden. Der Bach fliesst über grosse Steinblöcke, über Geröll und Kiesel. Am Ende des Tales, zwischen leicht gefärbten Wolken, treffen die ersten Sonnenstrahlen einen schneebedeckten Berg, einen Torhüter.

Ringsum herrscht Stille.

Dies alles könnte in einem Tal Graubündens sein, die waldigen Hänge, Schnee an ihrem Ende und das frische Gebirgswasser, läge nicht zu den Füssen, zwischen den Bäumen sichtbar, das Kaspische Meer: ein unendlicher und stiller Horizont.

Wir blieben den ganzen Palmsonntag in Ab-e Garm und stiegen in dem Gebirgstal aufwärts. Wir trafen Köhler an; sie unterhielten in einem hohlen Baumstamm eine schwache Glut, um sich die Streichhölzer zu sparen; in flachen Holzschalen bewahrten sie ihren Reis, saure Milch in einem Tonkrug. Im Gebüsch weideten Schafe; ihr Hirt, ein Turkmene, trug einen schwarzen Filzmantel, wie die Reiterhirten Anatoliens, und eine geschliffene Axt auf der Schulter. Er stand da und sah uns zu, seltsam reglos, fast unnatürlich abgekehrt.

Von oben öffnete sich ein weiter Blick auf die sumpfige Ebene, das gefährliche Land, und auf die stahlblaue 156 Meeresfläche: unsichtbar floss sie mit dem grauen Horizont zusammen.

Am Ausgang des Tales stand auf gerodeter Fläche eine Anzahl von Hütten. Bauern wohnten da; ihre Frauen, buntgekleidet, unverschleiert, trugen die Krüge voll Sauermilch auf ihren Köpfen in die Küstendörfer.

Am Nachmittag wurde es empfindlich kalt. Wir fuhren an den Strand hinaus und fanden das Meer in Aufruhr; der Sand lag, vom Wind zart gerillt, und sog die salzige Flut auf.

Wir gingen landeinwärts, ein Fussweg führte zwischen Wiesen und geschützten Obstgärten zu einem Dorf, welches wir sofort das »Verwunschene« nannten. Es war fünf Uhr, eine neblige Dämmerung. Wir erblickten die Dächer, hohe, strohgedeckte Pyramiden, manche breit, friesisch und aargauisch, andere steil aufragend wie die Steinbilder von Göreme, so reihten sie sich, bildeten Gruppen, standen hinter Gartenzäunen, tauchten da und dort aus dem Nebel. Schliesslich war es eine weitverstreute Gesellschaft, ein grosses Dorf oder die Erscheinung eines solchen.

Wir gingen weiter und sahen weisse Kuhschädel in Gärten an den Zaun gehängt; die Wege liefen zwischen den kleinen Anwesen hindurch, Zebus kamen uns entgegen oder standen mit gesenkten Köpfen auf den gefegten Vorplätzen. Dann kamen Gänse und Truthähne, Enten an einem breiten Bachlauf; schöngebogene Baumstämme liefen als Brücken zum grünen Ufer. Überall blühten Obstbäume und kleine Blumen auf den vom Vieh festgetretenen Wiesen. Kinder liefen über die Brücken, spielten im Gras, Frauen erschienen aus den niedrigen Türen ihrer Häuser; andere 157 standen mit hochgeschürzten Röcken am Bachufer und wuschen. Das Dorf nahm immer deutlicher Gestalt an, füllte sich mit Leben, wie ein Traumbild, welches sich verdichtet und danach strebt, die graue Wand des Schlafs zu durchbrechen.

Wir besahen uns die sonderbaren Häuser aus der Nähe: Die Dächer waren so gross, dass sie, ausser den Mauern aus Balken und Lehm des Wohnraums, auch eine zwei- oder dreiseitige Galerie überdeckten; die befand sich im ersten Stock, darunter war der Stall, oder das Haus stand auf Säulen aus kreuzweise geschichteten Hölzern.

Wir gingen länger als eine Stunde im Dorf umher. Dann führte uns ein Mann auf den Hauptplatz, der auf einer Seite offen war und in Wiesen überging; auf der anderen befand sich der Basar, eine Reihe von Buden, Kaufläden und ein Friseurgeschäft. Beim Bäcker sah man in die runde Öffnung des Ofens und wie er die flachen ovalen Brote schwungvoll an die glühenden Wände warf. Inzwischen wurde es Abend, die Luft war voll von warmer Feuchtigkeit, der Wind brachte in lauen Stössen die süssen Gerüche der Felder und den befremdlichen des Meeres.

Wir fanden unseren Weg wieder und gingen auf die Landstrasse zu. Das Dorf war verwunschen und verschwand.

Der nächste Tag war ein Feiertag. Wir fuhren nach Lahedschan, in die Gegend der Teekulturen. Chinesen wurden hierher berufen, um die Bevölkerung die schwierige, seit tausend Jahren von ihnen verstandene Kultur zu lehren. Man erwartet, dass, wenn erst die Teepflanzungen die Reisfelder ersetzt haben, auch die Malaria eingedämmt und wirksam bekämpft werden kann.

158 Des Feiertags wegen war die Landstrasse voll von Bauern, Reitern und Fussgängern. Mädchen in kirschroten Röcken und langen schwarzen Hosen sassen lachend am grünen Strassenrand; vor ihnen hielten zu Pferd die Burschen. Kinder liefen buntgekleidet über die Wiesen. Wie Flaggen wehten weisse Kopftücher.

Jenseits unseres Lagerplatzes dehnte sich ein Moor aus, mit schwarzem Wasser, schwarzen Weidenstämmen auf einer Insel und einem lecken Einbaum im Schilf.

Am Ufer standen die spitzigen Strohpyramiden und wirkten unheimlicher denn je.

Wir erreichten am Nachmittag den »Dschungel« von Rescht und setzten auf einem Floss über den Sefid Rud. Landleute warteten in Scharen auf die Überfahrt und lagerten mit Frauen und Kindern am Landungsplatz.

Man zog das Floss an Seilen ein Stück flussaufwärts. Kaum legte es an, da stürzten die Wartenden unter Geschrei auf die schmale Brücke; sie schoben und drängten einander und strauchelten auf den glatten Planken, das Boot füllte sich und schwankte leise unter dem Ansturm. Schon glitt es, von Stössen langer Stangen getrieben, schwerfällig auf den Fluss hinaus und abwärts dem anderen Ufer entgegen.

Am Nachmittag langten wir in der Provinzstadt Rescht an. Der Seidenhandel Nordpersiens spielt sich hier ab, und auch der Handel mit Russland. Vor dem Krieg war Rescht wie Kaswin mehr russisch als persisch; die russische Sprache ist neben der türkischen und persischen bis heute am stärksten verbreitet.

Am Abend fuhren wir auf der grossen Strasse von Pahlewi. Da ragten die tiefen Strohdächer wie die Firste dunkler Zelte 159 in den grossen, wolkigen Himmel. Wir sahen ein Feuer und Nomaden und kleine Lichter in den Buden des Basars. Dann wieder freies Land; aber nun waren wir schon sechzig Kilometer vom Meer entfernt, und es herrschte beklemmende Stille.

Als es dunkel wurde, kehrten wir um und fuhren nach Rescht zurück.

Wir brachen am folgenden Tag um sechs Uhr auf und fuhren im Tal des Sefid Rud südwärts. Im ganzen Küstengebiet hatten wir keine Kamele gesehen; nun trafen wir die Karawanen aus Täbris, Züge von grossen Tieren mit riesigen Häuptern und dickem, zottigem Winterpelz.

In viele schimmernde Arme verteilt, füllte der Fluss sein breites Bett. Pferdeweiden dehnten sich an seinem Ufer aus, Dörfer lagen an den Berghängen, ein Heiligtum auf der Spitze eines Hügels. Als wir das Gebirge erreicht hatten, begann wieder die grosse Kahlheit.

Wir hielten kurz vor der Passhöhe, wo Bergketten in schwindelnder Ferne auftauchen und ein unendlicher Raum sich mit ihren glänzenden Kuppen und den wogenden Schatten ihrer Täler füllt. Eine Schar deportierter Kurdenkinder bewachte unsere Mahlzeit. Ein pockennarbiges Mädchen sass reglos ernst zwischen den Buben, die vor Kälte mit den Zähnen klapperten.

Um vier Uhr nachmittags erreichten wir Kaswin und fuhren durch die einförmige Hochebene nach Teheran.

Als wir bei einem Tell einen letzten Halt machten (der Hügel soll wie viele andere den Schatz des Alexander bergen), taten sich Mond und sinkende Sonne zusammen, und es entstand eine Fülle von wunderbar vielfarbigem Licht; 160 der Himmel färbte sich dunkel, und Wolken standen neben den Gebirgen stählern und greifbar über der Ebene. Diese aber breitete sich wie ein samtener Teppich aus; das Licht floss in sanften Wellen über sie, und sie erwartete die Nacht. 161

 


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