Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Ritt auf den Hussein Ghasi

Ankara, 20. November 1933

Das Grabmal Hussein Ghasis, ein weithin verehrtes Heiligtum, liegt auf dem Berg, der seinen Namen trägt und sich vierzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel und fünfhundert über der anatolischen Hochebene erhebt. Noch vor wenigen Jahren wurden drei Schweizer, die den Berg bestiegen hatten, auf dem Rückweg von Hirten verfolgt, misshandelt und bedroht, angeblich, weil sie die Tekke, das Grabmal Hussein Ghasis, betreten hatten.

Wir waren etwa zu dreissig, als wir morgens Ankara verliessen – acht von uns haben schliesslich den Gipfel erreicht und das zerstörte Heiligtum gesehen. Die anderen liessen sich von einem türkischen Führer vom richtigen Weg abbringen, gelangten auf einen falschen Berg, dem Hussein Ghasi vorgelagert, und mussten mit ihren erschöpften Pferden umkehren.

Es war ein schöner Tag, reich an Licht und Herbstwärme. Wir ritten zwischen den Hügeln von Ankara hindurch, dem steilen Burgfelsen, der die seldschukischen Festungstürme trägt, und dem zweiten, von dem aus Timur Lenk einst die Stadt und das Heer des Sultans Bajesid überschaute, das er nachher in der Ebene besiegte.

Kurdenfrauen hockten am lehmfarbigen Fluss; ein Esel hob bei unserem Anblick den Kopf, legte die Ohren zurück und begann tief atemholend zu schreien; eine schwarzglänzende Truthahnherde geriet in Verwirrung, bis ihre Treiber sie lärmend wieder zusammenjagten. Dann ritten 26 wir in den Fluss, bis zum Bauch versanken die Pferde in der schlammigen Flut. Am Ende des Tales fanden wir eine niedere Böschung und trabten gleich darauf in die Ebene hinaus. Hier herrschte die grosse Stille der anatolischen Landschaft. Braune Steppe, graubrauner Ackerboden, karg, von Steinen übersät; an den sanften Abhängen sah man Bauern, die hinter ihren schwarzen, breitstirnigen Ochsen herschritten, langsam den primitiven Stachelpflug führend. Von weither kamen Soldaten in scharfem Trab, die Hufe der Pferde klapperten auf dem harten Feldweg. Die Steppe, wohin man sah, lag glänzend, ja wiederspiegelnd unter dem Ansturm des weissen Lichts. Und der Himmel wölbte sich nicht anders als ein Schweizer Hochgebirgshimmel, wolkenlos und unermesslich. Wir trabten gemächlich. Vor uns, gleichsam am Rande der Welt, erhob sich die dunkle Wand des Hussein Ghasi, zackig, flimmernd wie ein Geisterberg. Er schien sich zu entfernen, je länger wir ritten. Dann erreichten wir plötzlich seinen Fuss, sahen einen Weg, der in das graue Geröll führte, durchquerten einen grossen Acker und liessen die Pferde am Brunnen der Hirten ausruhen. Brunnen sind hier eine Art von Wegzeichen: für die Schafherden, die Ochsenkarren, die Kamelkarawanen. »Am vierten Brunnen geht der Weg ab«, sagte man uns, und dort, am vierten Brunnen, aus rötlichen Feldsteinen gemauert, trafen wir drei Männer in weissen Schafpelzen, einen Alten und zwei Junge; die sassen auf ihren steilen Sätteln und buntbestickten Taschen, und ihre Esel weideten in der Nähe. »Hussein Ghasi Tekke?« fragten wir, und sie wiesen mit den Händen nach links, wo der Fuss des Berges flach wurde und sich allmählich mit der Steppe vereinigte.

27 Wir sassen auf und folgten dem Weg, immer dem Rand des Gerölls entlang, umritten so den Berg und begannen in einem schmalen Tal den Aufstieg. Es ging steil bergan, die Pferde gerieten in Schweiss; nun begann Stein und Fels, wir folgten schmalen Grasbändern und merkten plötzlich, dass wir den schwach angedeuteten Pfad verloren hatten. Zweifel erhoben sich: Welcher der drei Gipfel, die wir von der Ebene aus sahen, war der Hussein Ghasi? Und welcher war es jetzt, dessen Spitze wir zu erreichen versuchten?

Die Pferde waren schweissbedeckt und atmeten schwer. Wir hatten Mühe, sie einen Augenblick zum Stehen zu bringen. Der steile Anstieg erschreckte sie, sie versuchten, senkrecht emporzuklimmen, statt den seitlichen Einschnitten zu folgen.

Endlich erreichten wir ein kleines, flaches Plateau, wo uns ein scharfer Bergwind empfing. Und wir sahen in die Ebene hinunter bis zum Rand der faltigen Höhenzüge, die sich, Welle hinter Welle, wie ein Meer ausdehnten, die Sonne in ihren Tälern einfingen, von scharfen Kanten zurückwarfen, ja, stellenweise weiss wie Schneegebirge erschienen und mit ihrem hin- und hergleitenden Farbenspiel die Augen fesselten wie bewegtes Wasser. Auf der anderen Seite, mitten in der Ebene, lag Ankara: ein Spielzeug, eine Nachbildung seiner beiden Hügel, mit winzigen weissen Häusern bedeckt – seine blitzenden Radiotürme, seine grauen Bauten, weit draussen, wie planlos in den braunen Grund gesetzt.

Wir führten unsere Pferde über den letzten Anstieg durch die Felsen bis auf die Anhöhe. Der Wind zerrte an unseren Kleidern. Zwischen den verfallenen Mauern fanden die 28 Pferde Schutz, die türkischen Burschen bewachten sie, während wir den Gipfel erklommen und von dort die zerstörten Gebäude überblickten. Es musste eine stattliche Klosteranlage gewesen sein. Man konnte die Grundrisse noch verfolgen, zwischen den zusammengesunkenen Mauern fand man gepflasterten Boden, ein steinernes Becken für die Waschungen, ein paar überwachsene Stufen. Und dazwischen stand das Grabmal Husseins, noch bis vor wenigen Monaten unberührt, von einer kleinen Kuppel bedeckt. Solche heilige Stätten, befürchtet man, sind die Versammlungsorte von Unzufriedenen, Fanatikern, verjagten Mönchen, Reaktionären, die die neue Regierung hassen und als Feind ihrer heiligen Religion betrachten. Deshalb sind in Istanbul die Tekken der Derwische geschlossen, und selbst hier, in der windgepeitschten Einsamkeit, befand man es für nötig, das von armen Hirten verehrte Grabmal zu zerstören. Durch eine niedrige Türe konnte man ins Innere gelangen – da lag Schutt bis zur halben Höhe der Mauern aufgehäuft; man sah neben den Fenstern noch eine kleine Wandmalerei in rot und braun, eine Moschee, ein paar steife Bäumchen daneben, wie von Kinderhand gemalt; dazu das schöne Ornament einer türkisch-arabischen Inschrift, wohl eines Koranspruchs, und am halb zugedeckten Gitter der Türe hingen bunte Bändchen, rote und blaue: die Votivgaben der Gläubigen . . .

Eine Viertelstunde später begannen wir den Abstieg. Diesmal erblickten wir von oben den Pfad, der dem Bergrücken folgte, und führten die Pferde ohne Mühe bis zum ersten Acker hinunter. Dann kam der lange Ritt durch die Ebene, in mittäglicher Sonne, vor uns die anwachsende Stadt, 29 hinter uns, allmählich wieder versinkend, der dunkle Berg des gekränkten Heiligen.

Als wir uns nach einer Stunde umwandten, krönte er wieder dunkel den Rand der beglänzten Ebene. 30

 


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