Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Blick auf Palästina

Die Reise von Beirut nach Jerusalem war von ungewöhnlichem Reiz. Zuweilen wurde man an die syrischen Küstenstrecken erinnert; doch war hier alles fruchtbarer, weicher und in mildere Farben getaucht. Dafür klangen Sidon und Tyros, die Namen der Seestädte, wie biblische Posaunenstösse, auch Saint-Jean d'Acre begegnete uns, wo die ägyptische Armee Bonapartes, von der Pest heimgesucht, kehrtmachen und die wahnwitzige Eroberung aufgeben musste. Molen, Festungsmauern und graue Wachttürme erinnerten an jene Zeiten.

Der Wirt in Haifa war ein Templer, dessen Familie vor mehreren Generationen aus Württemberg ausgewandert war. Ein vergilbter Kupferstich zeigte die ersten Siedlerhäuschen, die neubestellten Felder und die Reben am Berge Karmel. Isaak hiess der Kellner, ein blasser Judenjunge, dessen Vater Arbeiter im Hafen von Haifa war. Vom Karmel aus überblickten wir die neuen Anlagen, die, noch im Bau befindlich, Haifa bald zum stärksten Hafen der Levante machen sollen. Auch eine der Pipelines von den irakischen Ölfeldern wird hier enden.

In der Nähe der Küste reihten sich nun die Orangenhaine, landeinwärts die Dörfer, die Felder, die Weiden. Jüdische und deutsche Siedlungen wechselten ab mit arabischen Dörfern, schönes Bauernland mit kahleren, dürftig bebauten Strecken. Dann wurde es wieder gebirgig, und ein Wegweiser trug in hebräischen und arabischen Buchstaben den heiligen Namen Nazareth.

81 Es war noch weit bis nach Jerusalem; die Nachmittagsstunden vergingen, eine eintönige Gebirgsstrasse mit vielen, gleichmässig gutgebauten Kurven erhöhte die hochgestimmte Spannung in sehr merkwürdiger Weise. Denn es galt, durch eine Wüste von Zweifeln den ersehnten Anblick zu verdienen – und wer kennte nicht jenen Zweifel an der Realität, der uns, dem Wort Vertrauende, ergreift, wenn ein Mensch oder ein Ort, den unsere Liebe seit langem phantasievoll umkleidete und beim Namen nannte, Gestalt annehmen soll?

Die Sonne stand noch am blassen Himmel, als es soweit war: Vor uns erhob sich ein gelber Hügelzug, Ölbäume bedeckten ihn teilweise mit dem edlen Silber ihres graugrünen Laubwerks. Und weiss ruhte die hochgebaute Stadt.

Hätte Salomos Tempel noch Zeugnis abgelegt, wären die Säulen noch erhalten, unter denen der zwölfjährige Jesus lehrte – der Blick auf Jerusalem hätte keine grössere Faszination geboten als heute, im durchwirkten Glanz der späten Stunde, als Kirchen und Moscheen und ein Kranz von Klöstern sich vor uns ausbreiteten, dazu Gärten und Häuserquartiere und Strassen, die nach allen Seiten in das gewellte Gelände liefen. Festlich war es, zugleich werktätig; das setzte sich in den Strassen der Stadt fort, wo Pilger, jüdische im Kaftan und christliche im mönchischen Gewand, den heiligen Stätten zustrebten, Schüler, Studenten, Arbeiter sie an Zahl übertrafen.

In der Halle des King David sassen die Engländer und Amerikaner, unverkennbare Sippe der reichen Reisenden. Zwei oder drei Strassen mit luxuriösen Kaufläden und Reisebüros waren ihnen zugedacht.

82 Unerträgliche Kälte herrschte in den steinernen Gängen und kleinen Räumen des Klosters der frommen Schwestern, bei denen ich wohnte. Am Abend spielte Bronislaw Hubermann mit dem philharmonischen Orchester von Jerusalem: Brahms und Beethoven. Ausgehungert nach Musik, gingen wir hin, der Saal der Zionshalle fasste die Menschen nicht; Hebräisch, Englisch, Arabisch, am meisten Deutsch klangen durcheinander; draussen standen Arbeiter, junge Intellektuelle im Schein der Lampen; Schnee rieselte auf ihre Schultern.

Hubermann hat nie für ein dankbareres Publikum gespielt und nie mit grösserer Andacht.

Den nächsten Vormittag verbrachte ich in der Hebräischen Universität und im Museum. Ich erinnerte mich der Argumente, die die Rückkehr nach Palästina als eine romantische Schwärmerei der Zionisten ausgaben, die von keinem realen und praktischen Standpunkt aus haltbar und vernünftig sei. Aber welcher zivilisierte Mensch könnte sich ohne Bedenken in ein Land versetzen lassen, nennen wir es Brasilien, mit dem ihn keine Erinnerung verbindet, keine Herkunft, kein Kult, keine Historie und Legende, kein Zeichen des Namens und der Sprache?

Kein Land ausser Palästina kann den Gedanken des jüdischen Volkes tragen; daneben scheint das arabische Problem gering. Und nirgends als in Jerusalem ist jene Hochstimmung und Aktivität denkbar, die den so bitter notwendigen Optimismus gegenüber den sich häufenden Schwierigkeiten aller Art erzeugt. Wer unbefangen ist, möchte glauben, dass in dunkler Zeit, während aus unsrem Kontinent tatenlose Resignation und hysterische Betriebsamkeit sich 83 schrecklich ergänzen, hier die Zukunft mit Mut und gutem Glauben vorbereitet werde.

Nach drei Tagen verliessen wir Jerusalem und fuhren durch die tiefe Falte des Toten Meeres, durch gelbe, fast leblose Gegenden zum See Genezareth. Auf der Landstrasse trafen wir schottische Truppen an, blonde, freundliche Burschen, in wehenden Röckchen marschierend – sehr zur Erheiterung der Kameltreiber, die ihnen auf den hohen Sätteln ihrer sanft schreitenden Tiere entgegenritten.

Der See Genezareth liegt unter dem Meeresspiegel, ein blauer Streifen zwischen den gelben Sandsäcken seiner Gebirge. Man weiss, dass hier Christus auf den Wogen wandelte, und sieht Petrus, der ihm entgegengeht, unsicheren Schrittes auf dem weissen Schaum und schon einbrechend, seinem Zweifel gemäss – aber der Heiland, ruhigen Herzens, streckt ihm die Hand entgegen und zieht den Versinkenden an sich.

Am Ufer, damals nicht viel bewohnter als heute, stehen ein paar Menschen im Wind und erblicken das Wunder . . .

Wir hielten uns in Tiberias nicht lange auf. Cook-Hotel, Postkartenverkäufer und Bettler, ein vorgekochtes Menü, der übliche Fremdenbetrieb störten unseren Frieden. Wir fuhren am schimmernden Ufer entlang, vorbei an der Einsiedelei und einigen tiefgrünen Wiesenstreifen; von weitem sahen wir schon den schneebedeckten Hermon.

Bald erreichten wir die karge, steinige Hochebene, und der Hermon wuchs zu einem Strom von Eis und Schnee, der weithin nach Nord und Süd die Ebene beherrschte und den Himmel mit Pfeilen von Licht erfüllte. Ein einsames Zollhaus stand an der Grenze der Länder Syrien und 84 Transjordanien. Im Schatten eines mächtigen Baumes stand ein Reisewagen, mit zwei Pferden bespannt. Der Kutscher kniete nebenan auf der Erde und betete, denn es war die Mittagsstunde.

In der Tiefe floss ein Bach voll milchigen Schneewassers, rauschend und schaumwerfend, über bemoostes Geröll. Eine schöne steinerne Brücke schwang sich in massvollem Bogen hinüber. Am Abhang warteten zwei gesattelte Schimmel; wir sassen nahe von ihnen in der Sonne und warteten auf unsere Pässe.

Damaskus erreichten wir am frühen Nachmittag.

 

Wir verbrachten den Abend in einer düsteren Bar, wo greuliche Fratzen grellfarbig die Wände schmückten. Blonde Mädchen tanzten gelangweilt mit arabischen Jünglingen, eine Kapelle spielte, eine starke, männlich gekleidete Dame sass am Schlagzeug und plauderte Französisch zu uns hinüber.

Dort sah ich Fawas Bin Schaalan, den Enkel Nuris, Scheich der Ruwala-Beduinen vom grossen und kriegerischen Stamm der Anese. Er wurde von mehreren Beduinen, seinen Halbbrüdern, begleitet und dem Chauffeur, den er meistens an seiner Seite hat.

Sie tranken Tee und sassen würdig in ihren goldbestickten Mänteln, leise sprechend, zwischen den blonden Mädchen in glitzernden Abendkleidern, die sich an ihren Tisch drängten.

Am nächsten Vormittag empfing uns Fawas, wie wir es verabredet hatten, in seinem Stadthaus. Das Haus liegt mitten in der Stadt, doch braucht man nur das äussere Tor zu 85 durchschreiten, um sich zu vergewissern, dass hier eine Welt sich bewahrt, seit Jahrhunderten von den gleichen Kräften der Wüste, des Stammes, des Nomadengesetzes genährt. Vielleicht ist sie heute im Begriff, sich aufzulösen. Nicht lange kann ein freiheitgewohntes Volk die Berührung mit den in Gesetzen grossgewordenen abendländischen Mächten ertragen, und nicht lange duldet die Grenzziehung der Mandate die schrankenlosen Wanderungen, die für die Existenz grosser Nomadenstämme notwendig sind.

Fawas, ein schöner junger Mensch von fürstlicher Haltung und Liebenswürdigkeit, leugnet solche Tatsachen.

Er ist nicht ungebildet, noch uneinsichtig. Aber die Gesetze ihrer Lebensformen sind ihm Gesetze des Glaubens. Religion, Politik, Raubkrieg und die Ehre des Kampfes sind für ihn väterliche Gewalten, deren Autorität niemand anzweifelt, ohne sich ins Verderben zu bringen.

Er lässt uns am Tor von einem Negersklaven empfangen. Im Vorzimmer schlafen Wächter oder Leibjäger: Einer hält einen schönen Jagdfalken neben sich, der mit glänzenden, unruhigen Augen um sich blickt.

Die Halbbrüder und der Chauffeur, als Dolmetscher, begleiten uns in das Zimmer, wo Fawas in einem dunkelblauen, silberbestickten Mantel uns empfängt.

In der Mitte des Zimmers kniet ein alter Neger vor dem Kohlenbecken und bereitet den Kaffee, der uns in winzigen Mengen angeboten wird.

Fawas spricht langsam und aufmerksam; wenn er sich bewegt, tut er es mit einer beinahe frauenhaften Anmut. Er spricht von den Tugenden seines Stammes, welche die einzig würdigen eines Mannes sind: Klugheit und 86 kriegerischer Mut. Dann über die Gewohnheiten der Ehe, zu der man nur ein Mädchen aus der eigenen Sippe wählt oder aus einer gleich hochgestellten, doch nur dann, wenn zwei Brüder ihre Schwestern auszutauschen bereit sind.

Er lädt mich ein, ihn draussen in den Zelten der Ruwala zu besuchen, denn nun beginnt wieder die Zeit der Wanderungen, die die Ruwala trotz der Grenzvorschriften bis hinunter in die Stammesheimat führen: Nadschd in Saudi-Arabien.

Ibn Saud, der König von Saudi-Arabien, ist ein Verwandter der Scheichs der Ruwala. Man lobt seine Tapferkeit, lässt aber massvolle Kritik durchblicken: Er ist nicht von so vornehmer Abkunft wie der Emir Faissal.

Wenn der Name eines dieser Grossen fällt, zuckt das dunkle Gesicht des jungen Fawas. Er ist ehrgeizig. Es freut ihn, von mir zu hören, dass der Haut Commissaire in Beirut das graue Pferd – seines Grossvaters Nuri Geschenk – zu schätzen weiss. Und zeigt uns beim Abschied ein Bild, welches ihn, einen schönen Knaben, auf einem berühmten, schnellen Hengst darstellt, im fürstlichen Schmuck seiner jungen Würde . . . 87

 


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