Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Istanbul

15. Oktober 1933

Die Griechen haben das Wort erfunden, schwer und volltönend wie eine farbige Abendstunde vor dem Erlöschen: Melancholie. Der Balkan war voll davon – nur eine Ahnung liess uns die flüchtige Durchfahrt von Ländern, Grenzen, Gebirgen und Hauptstädten –, aber welche unerlöste Folge von Stunden, welch langsamer Abend, welches Einschlafen unter dem Druck dieser grauen Berge und bräunlichen Ebenen! Schafherden weideten überall, die Maisfelder standen in herbstlicher Dürre. Die Bauern sandten unverständlich schweigsame Blicke unserer verschlossenen Wagenreihe nach, die Frauen verbargen ihre vorgewölbten Leiber unter dickgefütterten Jacken, ihre zerfurchten Klagegesichter unter dunklen Kopftüchern.

Ich versuchte, mich an die Namen der grossen Bulgarenzaren zu erinnern, der blutigen Schlachten mit den Byzantinern, an die türkischen Eroberer.

Da begann an einem elenden Bahnhof eine Bläserkapelle zu spielen. Es war schon dunkel, die Leute standen im Wind und bliesen, während der Zug sich in Bewegung setzte . . . ein Volkslied vielleicht . . . traurig und verloren wehten die Töne uns nach.

Heute morgen erwachten wir dann in einer neuen, urfremden Landschaft. Diese kahlen Hügelreihen, dieses Steppengras, diese zu weissen Wolken, von Windstössen gejagt – das war schon Asien, begrüsste uns schon wie rauher Nomadenschrei. Hirten, in Pelze gekleidet, die lange 10 Flinte über der Schulter, jagten wie besessen auf ihren kleinen Pferden neben dem Bahngeleise her, während die Ochsen in träger Ruhe mit breiten Hörnern und hellem Fell in der Morgensonne lagen. Bald tauchte das Meer auf – eine tiefblaue Bucht –, leuchtend wie drüben an der verwandten Küste Südfrankreichs; hinausblickend wusste man: unendlich weit jenes geliebte Europa, und fühlte sich wehmütig angerührt.

Mauern tauchten auf, byzantinische Reste, gegen Meer und Land gewendet. In ihren Breschen und Höhlen hatten Hirten ihre Zeltdächer aufgespannt, kleine Rauchsäulen stiegen schwankend in den bewegten Himmel. Und plötzlich war es Stambul, das mit der Kuppel der Hagia Sophia (ein Kindheitstraumbild), mit glänzenden Ufern, Schiffen, Segeln und einem Meer weisser Häuser, von hellblauem Dunst verschleiert, aus der Spiegelflut emporstieg . . . Man wird in den Strassen der Stadt vom Eindruck des Zeitlosen, Ungewissen und Preisgegebenen überfallen wie von einer Versuchung. Wie oft spielt man mit dem Gedanken, das gewohnte Dasein an einer Stelle willkürlich abzubrechen, sich von den alten Orten, Freunden, Tätigkeiten zu trennen, in Anonymität unterzutauchen – und wie weit ist man stets wieder von dieser Versuchung des Schicksals entfernt!

Hier, die Stadt an der Grenze Asiens, die Meerespforte, das glänzende Schwert zwischen Osten und Westen: sie ist wie eine Drohung überpersönlicher, ja übermenschlicher und zeitloser Abläufe.

Hier werden Völker aus den östlichen Ebenen gesammelt und hinübergeworfen nach Europa, Religionen formen und scheiden sich und erstarren zu goldenem Bilderdienst.

11 Hier landen Flotten, werden demütige Kreuzritter zu Thronräubern und östlichen Herrschern, Hellenen und Barbaren folgen aufeinander, und nichts ist der Einzelne oder ein Porphyrogennetos . . .

 

Wir waren in den Moscheen, Basars und Handwerkervierteln. Wir sahen Bettler, kleine Mädchen, Wasserträger, Blinde und Betende, Popen, Makler, Fischverkäufer, Truthahntreiber – wir sahen all das Längstbekannte: den farbigen Orient, das Nie-ganz-zu-Erfahrende. Vielleicht ist es uns gelungen, eine gute Aufnahme des alten Mannes zu machen, welcher im Hof der Beyazit-Moschee sitzt: in einem hellroten, zerschlissenen Seidenmantel, die Hand zum Handeln und Geldeinnehmen ausgestreckt wie zur würdigsten Verrichtung und einen Weisheitsblick auf uns richtend, voll schmerzerfahrener Gelassenheit und ganz ohne Hohn.

Auch alte Frauen haben oft diesen Blick – man erinnert sich dann daran, dass die Türken ein Herrenvolk waren und Levantiner und Griechen, auch Ägypter, für sich handeln liessen.

 

Im grossen Basar war es sehr still. Die Leute priesen ihre Waren kaum zweimal an und liessen uns weitergehen – bis in die tiefsten und dunkelsten Gewölbe, wo Messingtöpfe, Lampen und Schwertklingen aus dem Dunkel der Nischen leuchteten . . .

Dort sassen alte Männer neben zerlumpten Knaben, deren Augen wie Tieraugen glühten; sie schwiegen oder wiegten sich ein wenig und sangen. Manchmal hatten sie, zu 12 Haufen aufgestapelt, alten Hausrat, darunter schöne, wenn auch meistens verdorbene und erblindete Stücke.

In alten Büchern sah man Miniaturen, deren zarte Goldlinien kaum noch erkennbar waren im vergilbten Papier; feingeflochtene Armbänder mit Türkisen und Korallen, wunderbar nebeneinander anzusehen; alte Klingen, zerbrochene Teller, in Farben bemalt, die man heute nicht mehr finden würde; russische Ikonenbilder mit rötlichgoldenen Heiligengesichtern und grossäugigen Gotteskindern; köstlich bestickte Fetzen alter Leinwand; irgendwo, in einem besseren Laden, einen türkischen Frauenmantel, schilfgrün und golddurchwirkt, mit offenem, stehendem Kragen, weiten, lang zulaufenden Ärmeln, für ein schlankes, hochgewachsenes und schmalschultriges Mädchen bestimmt.

Gegen Abend waren wir wieder auf dem grossen, grasbewachsenen Platz der Suleymaniye. Der Himmel, an dieser Stelle wie ein Baldachin über dem gobelingestickten Gemälde vom Goldenen Horn, über langen Brücken, angehäuften Barken, dem Galataturm und der ansteigenden Stadt Pera, den grünen Gärten des Serails, den blauen, bewegten Flächen des Bosporus, den reichen Ufern und Inseln und den gelben Küstenzügen, die schon Anatolien, Steppe, Asien aus der Ferne beschwören . . .

Ein Gebetsrufer sang von einem der weissen, leuchtenden Minarette. Seine Stimme hallte klagend, schwebte langsam von der Höhe herab, verklang, als er sich auf die andere Seite des Turmes wandte. Drüben, über Galata und Beyoglu, stieg ein leichter Nebel auf und verhüllte die Häusermassen. Auf unserer Seite war die Luft durchsichtig, leicht bewegt und kühl. Wir sahen auf die runden Bleikuppeln der alten 13 Volksküchen des Kalifen hinunter, in die enge Strasse, wo die Schmiede in den Mauerarkaden ihre dürftigen Werkstätten eingerichtet hatten. Ihr Hämmern tönte dumpf, daneben Klappern von Eselhufen und Holzsandalen und langgezogene Abendrufe der Strassenhändler. Ein Mann ging langsam über den Platz, eine Katze auf dem Nacken. Als er sich an einem der Brunnen die Füsse wusch, miaute sie ängstlich, sprang herab und strich durch das niedere Gras davon.

Die Gerüche in der Handwerkerstadt waren so durchdringend, dass mir beinahe übel wurde. Nicht nur Fische in flachen Körben: blauschillernde, grosse Tiere; nicht nur tausend Gewürze, Fleischmassen, Öle, Käse- und Quarkbuden, Melonen, Pfeffersäcke, Bier, gärender Traubenmost; nicht nur ungezählte Garküchen mit ihrem penetranten Hammelfettgeruch, ihren dampfenden Herdlöchern, Tomaten- und Fleischschüsseln, alles in gelber Fettsauce schwimmend – daneben noch, auf der Strasse, in den Buden und Werkstätten, kleine offene Feuer, Pfannen mit Gesottenem und Gebratenem, Fischkoteletts, überzuckerten Klössen, in Öl gedrehten Auberginen: ein erstickender Schwall schwerer Gerüche neben Staubwolken, Schmiederuss und feuchtem Wäschedampf. In den Fenstern der Garküchen sah man manchmal, neben Hühner- und Taubenleichen, nackte Hammelköpfe mit leeren Augenhöhlen wie heidnische Symbole über den dampfenden Schüsseln aufgerichtet.

Inmitten der Handwerkerstadt fanden wir die kleine Moschee, zu der eine Treppe zwischen den Häusern und Läden emporführt. Wir zogen die Schuhe aus und gingen hinein; ein Raum von unendlich reinen Ausmassen und 14 beruhigender Wirkung empfing uns. Wände und Säulen waren ganz mit den köstlichen blauweissen Fayencekacheln verkleidet: eine Ablenkung zuerst, sanfte Verwirrung stiftend – dann aber hinüberleitend zu Abstraktion und Andacht.

Ein Türke zeigte mir einen alten, handgemalten und handgeschriebenen Koran. »Nur so lange darf man an dem heiligen Buch schreiben«, sagte er mir, »als man sich vom Denken fernhalten kann. Sobald der Gedanke die innere Ruhe stört, muss man mit der Arbeit abbrechen.«

Um die Abendstunde kamen viele Leute in die Moschee: alte Männer, Zerlumpte und phantastisch Gekleidete, ehrbare Handwerker und fettleibige Händler, Aristokraten und Gaunergesichter. Niemand beachtete uns. Durch die offenen, vergitterten Fenster drangen der Lärm der Strasse, Geschrei, Zank, Anpreisung und Feilschen herauf. Die Alten aber, auf hellen Teppichen kniend, verrichteten in tiefer Ruhe ihre mannigfachen Gebetsübungen. 15

 


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