Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Kayseri

November 1933

Wir verliessen Ankara an einem grauen Novembermorgen und langten nach zwölfstündiger Fahrt im alten Caesarea an, Kappadokiens Hauptstadt.

Wir hatten den Kisil Irmak überschritten, lange von seinem silbernen Band begleitet. Dann überfiel uns die Nacht, und wir fuhren durch sternloses Land.

In Kayseri gibt es seit mehreren Jahren elektrisches Licht. Der neue Bahnhof liegt ausserhalb der Stadt, eine dunkle Strasse führt hinein, wo spärlicher gelber Schein sie ankündet.

J. Bey, der Direktor der Eisenbahnen dieses Distrikts, empfing uns und führte uns in sein überheiztes Büro. Er ist ein Vertreter jener türkischen Generation, die der neue Staat einerseits zu opfern gewillt ist – denn was geschieht, gilt der Jugend – und die sich in den Dienst dieses Staatsdogmas mit bereitwilliger Begeisterung gestellt hat. Ihn und seinesgleichen unermüdlich das Wort »Zivilisation« wiederholen zu hören, dazu die Flut von Programmpunkten, Neuerungen, Fortschrittsseligkeiten, ist für uns so ernüchternd wie das Schauspiel des Defilees in Ankara am Tag der Republik; J. Bey aber empfindet daran das aufrichtigste Vergnügen. Was uns erschreckt, ist die Form, die Propaganda, die Massenverführung. Aber was gefordert wird, ist Aufklärung, Weitherzigkeit, Vernunft. Selbst wenn J. Bey zwischen Elektrizität und Schönheitskönigin, dem Bau der neuen Bahn Ankara-Samsun und dem Ankauf kitschiger 31 europäischer Kronleuchter nicht recht unterscheidet, so schafft uns doch nicht die Kluft zwischen der »Zivilisation« J. Beys und der unsrigen so tiefes Missbehagen, sondern diejenige zwischen seiner Zuversicht und unserm Zweifel.

J. Bey gab uns einen Diener mit, der uns in das Hotel begleiten sollte. Fast lautlos trabten die Pferde über den lehmigen Boden. Vermutlich hätten wir den Erdschiyes Dagi, den alten Mons Argaeus, sehen können, einen weissleuchtenden Viertausender über dem Talgrund; aber wir wussten nichts davon und sassen blind unter der schwarzen, nach Leder und Pferden riechenden Decke, erblickten nur, reichlich gespensterhaft und wie von Nebel umwallt, verfallenes Mauerwerk, einen Torweg, einen Hof, eine Treppe mit hohen Stufen. Da stand ein Diener mit einer Lampe und trug zusammen mit dem Kutscher unser Gepäck ins Haus – und schon befanden wir uns in einem weissgetünchten Zimmer mit hoher Holzdecke und einem prasselnden Ofen.

Es war gerade Mitternacht.

 

Am nächsten Morgen, früh erwachend, glaubte ich mich zuerst in einer heimatlichen Bauernstube zu befinden. Durch die beschlagenen Scheiben sah ich Nebel und Frühlicht über den Ruinen; ein trostloser Trümmerhaufen schien dieses ganze Viertel, kaum ein Haus war zu erkennen, kaum ein Hof ohne Schutt und eingesunkene Mauerteile. Drüben, von den ersten gelben Sonnenstrahlen beschienen, ragten die düsteren Mauern und Quadertürme der alten Festung.

Wir tranken Tee, zogen uns warm an, J. Bey brachte ein Auto, einen leidlichen Chevrolet: den besten der Stadt.

32 »Das sind keine Ruinen«, erklärte er uns, »die Häuser werden absichtlich abgerissen, sie sind nichts wert, man wird alles neu bauen müssen.«

»Und die Besitzer der alten Häuser?« fragten wir.

»Man weist ihnen neue Bauplätze an und gibt ihnen Pläne, nach denen sie sich ein Haus bauen sollen.«

»Haben sie denn Geld?«

»Viele wollen nicht bauen«, sagte J. Bey, »dann kann man nichts für sie tun.«

»Man lässt sie einfach im Stich?«

»Es macht nichts aus«, sagte er, »wir haben ohnehin zuviel arme Leute im Land.« Er sprach Französisch, also eine Sprache, die alles Extreme mildert, auch das, was uns barbarisch erscheint – trotzdem blieb man beeindruckt und fühlte sich erst erleichtert, als man die Stadt verliess, die einmal die Hauptstadt von Kappadokien war und ihren Namen von einem römischen Kaiser erhielt.

Wir bogen in die alte Karawanenstrasse ein, überholten Ochsenwagen und Reiter, verschleierte Frauen und Eseltreiber, der Tag wuchs, Licht ergoss sich über die Felder, vor uns lag die Ruine einer vielleicht christlichen Kirche, ein zerfallener Turm, dann ein grosser Chan an einem Wasserlauf mit einigen Weidenbäumen, wo Esel und Gänse weideten und Männer um ein kleines Feuer lagen. Bunt war alles, heiter, aufbruchbereit, eilig, gemächlich, ein rechtes Landstrassendasein. Kreischend und mahlend, von unendlicher Geduld die Ochsenwagen, mit denen schon die Scharen Timur Lenks und Suleiman Chans dieselben Wege gezogen sind; eilig und würdig die entgegenkommenden Reiter, phantastisch anzusehen in ihren schwarzen Mänteln, 33 die wir Ertogrul nannten, wie den türkischen Helden, und von brüllender Lustigkeit die breitgesichtigen, schlitzäugigen Burschen, die mit weit von sich gestreckten Beinen auf buntbestickten Sätteln ihre kleinen Esel im Galopp vorwärtsjagten.

Es war bitterkalt. Beim Fotografieren erstarrten uns die Finger. Gegen zwölf Uhr lag in einer Senkung der Sultan Chan vor uns, eine Festung mehr als eine Karawanserei und um die Mauern ein ganzes Dorf aus kleinen Lehmbauten, flachen Dächern, kräuselnden Rauchsäulen, wie bei uns eine mittelalterliche Burg von den Häusern ihrer Zinsbauern umgeben ist. Zunächst schien alles ausgestorben, die Feuer von keiner menschlichen Hand geschürt, die dreifachen Mauern, das gewaltige Tor, die Gewölbe und Höfe des Chans öffneten sich uns in schweigender Verlassenheit. Bis die Hunde angerast kamen . . . über die flachen Dächer stürmten sie, grosse gelbe Hirtenhunde, mit wütendem Gebell . . . dann die Kinder, nackt, nur mit einem Hemd bekleidet in der schneidenden Kälte . . . die Burschen, gross, kräftig, traten aus den Häusern, ein uniformierter Greis humpelte hinter uns, begann ein Gespräch und erbot sich, unsere Mäntel zu tragen. Denn nun legte sich plötzlich der Wind, die Sonne warf sich flutend über die Ebene bis zu den erglänzenden Schneebergen, es wurde warm wie des Mittags im winterlichen Gebirge, und nun war das Dorf lebendig und auf den Beinen, man brachte uns blonde kurdische Kinder herbei, die sich schreiend an die weiten Hosen ihrer Mütter klammerten. Diese waren grosse, kräftige Frauen, den Männern ebenbürtig, ihre Augen blitzten unter den gestreiften Tüchern, und sie lachten, laut und voll, statt 34 des verschämten und kecken Grinsens der schwarzen Verschleierten in den Strassen Kayseris.

Während der Rückfahrt (es war wieder schneidend kalt) hatten wir einen Blick von beinahe dramatischer Prächtigkeit. Da lag hinter uns der düstere Bau mit Turm und Mauer und Leitern, die auf die gestampften Dächer führten, dem gefrorenen Teich, den Weiden und Pappeln und einer Schar flügelschlagender Gänse. Links der farbige Höhenzug, zu seinen Füssen schillernd und ausgetrocknet die Furche des Salzsees; rechts, fast unter dem Rand der Ebene versinkend, die zackigen und schneebedeckten Ketten des Antitaurus, Widersacher und Verheissung einer anderen Welt, unseren Wegen entrückt. Wir aber fuhren dem Erdschiyes Dagi entgegen, dem breitfüssigen Riesen, im Sommer aus Fels aufgetürmt bis zu der brüchigen Spitze ewigen Schnees – jetzt weiss bis in die untersten Täler, gigantisch thronend, mit Eiswänden und Schneefeldern, schwarzen Spitzen und gleissenden Kanten, von mittäglichem Licht übergossen.

 

Am folgenden Tag fuhren wir über die Wasserscheide Indsche Su hinüber in die Welt der zwanzigtausend Pyramiden; so von den Alten genannt, von uns Mondlandschaft, denn man glaubte sich auf ein anderes Gestirn versetzt, wo bleiches Licht herrscht und unsere Sinne von unfasslichen Erscheinungen getäuscht werden. Es regnete in Strömen, der Pass war glatt und schmal, und steil der Absturz in die Erosionsebene. Der Chauffeur fürchtete sich mehr als wir.

Schliesslich erreichten wir doch das Dorf Ürgüp, dessen Häuser wie Kulissen vor die Höhlen in weichen Tuffelsen gesetzt sind. Ein Knabe führte uns durch die steilen Gassen 35 bis zu einer sonderbar durchbrochenen Felspyramide, die wie ein künstlicher Tempelturm aufragte. Eine Treppe stieg an der Aussenwand bis zur Höhle auf halber Höhe; von dort erreichte man im Innern des Felsens die viereckige, aus Ziegeln gemauerte Krönung. Unterhalb davon, in Rot und Blau auf den Stein gemalt, eine primitive Malerei, an Bilderschrift erinnernd. Niemand konnte uns erklären, was die Zeichen bedeuteten.

Beim Abstieg erblickten wir vom Hof einer Höhlenwohnung herab einen Gang, und an der Felswand darüber den schönen Ansatz eines Rundbogens. Wir liessen uns von dem Kleinen hinüberführen und fanden ein einfaches Gewölbe mit geschwärzten Wänden, welche durch ausgehauene Rundbogen dekoriert waren; die Decke war ein künstliches Tonnengewölbe, neben dem Eingang sahen wir eine grossäugige Taube, das sanfte christliche Symbol, und wussten nun, dass wir uns in einer uralten christlichen Höhlenkirche befanden.

Heute benützt sie ein türkischer Bauer als Scheune; hinter einer hölzernen Türe gewahrten wir im Halbdunkel eine Spindel und die Hand einer unsichtbaren Greisin.

Dann fuhren wir durch Hohlwege hinüber in das geheimnisvolle Tal von Göreme. Da lag das Mondland zu unseren Füssen, ganz in wallende Nebel und blassgelbe Lichtstreifen getaucht, ganz und gar unwirklich, ein erstarrter Wald aus Kegeln, Türmen, Nadeln und Pyramiden, manche aufgereiht wie Orgelpfeifen, manche einzeln und gigantisch, manche vereist und bärtig, gleichsam taumelnd, nach vorn geneigt, im Sturz aufgefangen und nun gramvoll erstarrt, stumme Ankläger einer ausschweifenden Natur.

36 Wir wagten uns hinein, versanken alsbald im feuchten Lehm und befanden uns schon inmitten der Mondgötter, umstellt von ihren glatten und unübersteigbaren Wänden, eingefangen im Talgrund. Die Durchblicke erregten Schwindel, denn immer weiter setzten sich die sonderbaren Gestalten fort, und über ihnen senkte sich der Himmel zerrissen, vielfarbig, von Wolkenschichten, Streifen, Zügen gleichsam in das befremdende Schauspiel hineingezogen.

Gegen Westen hellte er sich endlich auf. Gelb brach hervor wie Feuer, ringsum belebte sich die Landschaft, aber immer noch schauten die Höhlen fürchterlich wie leere Augenhöhlen auf uns herab. Der schönbehauene Eingang einer Kirche fand sich, und darin ein grosses Kreuz in roter Farbe an die Wand gemalt: als wolle die fromme Macht die finsteren Dämonen der weissen Landschaft draussen bannen.

Als wir hinaustraten, hatte sich der Himmel geklärt und warf eine Flut von Licht aus. Nun war alles anders, gelb und tiefblau, leuchtend und schattenwerfend, und uns wurde leichter zumute, wie Peter Schlemihl, als er seinen Schatten aufgerollt zu seinen Füssen fand.

 

Die letzten Tage vergingen rasch, es war schon Alltag von Kayseri. Ingenieure hatten blonde deutsche Gattinnen aus Thüringen und Sachsen; ein amerikanischer Missionar im Nachbarstädtchen Talas führte uns seine Fussballmannschaft vor; wir sahen junge Armenier in Schmiedewerkstätten arbeiten, ernst gesenkte Kinderstirnen über flammendem Feuer. Strassen, Ruinen, Basar, Moschee, Stadtmauer und Festung belebten sich, ein Grünzeugmarkt wurde 37 abgehalten, verschleierte Frauen atmeten mit grosser Lebendigkeit durch die dünne Maske. Immer noch liessen sich die gelben, herrenlosen Hunde nicht anfassen und verschwanden lautlos hinter bröckelnden Mauern, und die Katzen, sonderbar kauernd, schnurrbärtig, den breiten Kopf zur Brust geneigt, die Vorderpfoten zierlich nebeneinander gelegt, sassen auf Söllern reglos weise, als sinne in ihnen der Geist eines lange Schlafenden.

Wir verliessen Kayseri des Nachts, wie wir gekommen waren. Der Knabe Raschid weckte uns um halb vier Uhr. Er kam in das Zimmer, legte Holz in den Ofen und sagte: »Madame, ich fahre mit Ihnen nach Ankara.«

»Hol Teewasser«, befahlen wir ihm.

Raschid erhob sich. »Nehmen Sie mich mit«, wiederholte er.

Es wurde warm im Zimmer, wir tranken Tee und packten unsere Kurdendecken zusammen. Raschid stand an der Türe.

»Ist der Wagen schon da?« fragten wir.

»Der Arab wartet«, sagte Raschid, und während er Decken und Mäntel auf den Arm nahm: »Madame, ich möchte, dass Sie mich nach Ankara mitnehmen.«

Dann fuhren wir. Die Laterne schwankte am Bock neben dem Kutscher. Der sass gebeugt in seinem rotgefärbten Schaffell, hin- und hergeschüttelt. Es war sehr kalt. Von weitem sahen wir die Lichterreihe des Zugs. 38

 


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