Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Baghras

Gestern, am Neujahrstag, sind wir den Kreuzrittern, den »Franken«, Prinzen von Antiochia, den Bohemund und Tankred und ihren ritterlichen Vasallen in den Ländern Amanos und Amuk auf die Spur gekommen. Wir fuhren über Kirik Chan bis zu dem düsteren Chan Karamut, der »Schwarzen Myrthe«, und stiegen von dort nach Baghras hinauf. Es ist das alte Schloss Pagrae, welches die grosse Karawanenstrasse und den Eingang von Antiochia bewacht. Man erzählt, dass im Jahr 968 unter seinen Mauern der byzantinische Kaiser Nikephoros Phokas mit seinem siegreichen Heer kampierte. Er führte 100'000 gefangene Heidenkinder mit sich, Mädchen und Knaben, die für den Sklavenmarkt von Byzanz bestimmt waren. Sie sollen haufenweise an Fieber und Erschöpfung gestorben sein. Man stelle sich das jammervolle und fürchterliche Elend dieses Zuges vor, der unter den kaiserlichen Bannern das herbstliche Syrien durchquerte und die unendlichen Scharen der Kinder vor sich her trieb! Im Schloss Baghras blieb Michael Burtzes zurück, der bald darauf Antiochia einnahm, darin von den Heiden belagert und in letzter Stunde von Peter Phokas entsetzt und gerettet wurde.

Die Kreuzfahrer haben Baghras später ausgebaut; es war einer der stärksten Plätze in ihren wechselnden Kämpfen mit Armeniern, Byzantinern, Seldschuken und Mamluken. Auch Saladin soll es belagert haben, ohne es einnehmen zu können. Ich weiss nicht, wer es schliesslich zerstört hat – wahrscheinlich teilte es das Schicksal der Stadt Antiochia, 62 welche von dem Mamluken Baibars im Jahr 1266 so gründlich verbrannt wurde, dass ein Jahrhundert später die Karten die glänzendste Stadt Syriens überhaupt nicht mehr verzeichnen. Wir gingen ungefähr eine Stunde bis zum Schloss hinauf. Man sieht es von weitem: auf einem runden Hügel, mit zweifacher Ummauerung und mächtigen runden Türmen, über dem schmalen und tiefen Tal. Das Dorf an seinem Fuss heisst ebenfalls Baghras – die oberen Häuser sind von Türken bewohnt, die unteren von Alawiten. Als ich mich erkundigte, woher die ziemlich zahlreichen blonden Kinder der Gegend stammen, sagte man mir, es seien Alawiten, die sich mit den Nachkommen von »Franken« vermischt hätten.

Es gibt kaum ein geschichtliches Ereignis, das uns so sehr beunruhigt und so schwer zu verstehen ist wie die Kreuzzüge. Der ungeheuren Suggestion ihrer ersten Antriebe ist sicher mit keinen Mitteln der Intelligenz beizukommen. Findet man dann die eroberten Länder in mittelalterliche Vasallenstaaten umgewandelt, den Hof von Antiochia mit Kanzler, Marschall, Seneschall und Konnetabel dem Hof von Lothringen oder der Normandie gleich und ebenbürtig und verfolgt die Intrigen zwischen dem Grafen von Tripoli und dem König von Armenien, dem König von Jerusalem und dem byzantinischen Kaiser – so fragt man sich, ob hier überhaupt noch von einem geistigen Impuls die Rede sein kann. Schlumberger beschreibt, wie der Kaiser Manuel von Renaud de Châtillon, Prinz von Antiochia, empfangen wurde: Das ist ein höchst faszinierendes Gemälde, aber niemand findet sich darin zurecht, was hier feudales Europa war, etwa wie der späte Prunk des 63 burgundischen Hofes, was sich als christliche, katholische Aufwallung in äusserem Pomp manifestieren musste, was aus Byzanz übernommen war und was sich schon mit dem Orient, mir Arabien, Persien vermählt hatte. Jedenfalls begannen die fränkischen Ritter bald ihre Frauen in Harems einzuschliessen, und die Venezianerinnen übernahmen von den muslimischen Frauen den Schleier, den Christinnen noch heute in einigen Orten, Homs und Idlib, tragen sollen. Und lange haben die Kreuzritterstaaten dem Orient nicht standgehalten: Es ging rasch bergab, die Moral sank, die Intrigen nahmen überhand, die ritterlichen Eigenschaften verdarben. Nach dem Zeitraum einiger Generationen hatten es die Mamluken leicht, die einst uneinnehmbaren Bergfestungen zu zerstören; die Bevölkerungen der reichen Christenstädte erlagen ihnen, die Überlebenden wurden auf den Sklavenmärkten Syriens und Ägyptens verkauft.

Wir kamen um vier Uhr nachmittags zur Ruine des Schlosses Baghras. Wir stiegen über die Trümmer der zerbrochenen Bogen, durchquerten die innere Mauer und traten in die grosse, leere Ruine des Saales. Von dort in die Kapelle. Von einem grossen, noch unversehrten Gewölbe aus sahen wir unter uns in grosser Tiefe den Fussweg, den Gebirgsbach, einen runden, gemauerten Brunnen. Mit Kerzen drangen wir in die finstere Galerie ein, welche die eine Hälfte des Hügels umläuft. Eine riesig hohe Mauer führte früher das Wasser über die enge Schlucht hinweg zum Schloss. Sie ist in der Mitte zusammengebrochen.

Als wir von oben das Tal mit seinen rauchenden Hütten, Feigen- und Olivenhainen überschauten, begann bereits die Dunkelheit. Wo das Gebirge endete, sahen wir die Strasse 64 von Antiochia als ein glänzendes Band. Dann folgte die Ebene, gross, lichtlos, düster verhüllt. Und jenseits von ihr ein neuer, nächtlicher Gebirgsstreifen, ganz in Dunst, halb schon Wolke.

Wir verliessen das Schloss der Kreuzritter und stiegen den steilen Hügel hinunter. Eine Viertelstunde hinter dem Dorf wartete Hussein, der den Wagen hierher gebracht hatte. Der Rückweg, durch aufgeweichtes Feld, über steile Bachbette von anderthalb Metern Tiefe, durch einen schmalen, von Felsblöcken übersäten Fussweg erwies sich als ein zeitraubendes Unternehmen. Wir mussten zweimal umkehren, zweimal den Wagen aus dem Wasser ziehen, bevor wir, nun bei völliger Dunkelheit, die Landstrasse erreichten.

Ich wusste nicht recht, ob ich mich der ritterlichen Verteidiger von Baghras, der Normannen, Franken, Italiener, als Helden erinnern sollte, als Mystiker, die von einer dunklen Seele angetrieben wurden, oder ob es schon damals eine Art von Europaflucht gab.

Wahrscheinlich wollten sie, während sie von ihren Burgen aus die fremden Strassen überwachten und die fremden Ebenen überblickten, nicht mehr nach Hause zurückkehren. Europa versank – eine Burg in Graubünden, ein Schloss in Frankreich, Hiltpoldstein und der Hof des Kaisers. Nur – hier zu sterben, muss ihnen das grausamste Heimweh bereitet haben. Denn es gibt ja immer nur eine einzige Wirklichkeit, man ist immer bereit, am gestrigen Tag zu zweifeln, und was weiter zurück liegt, kann man nur noch unter Schmerzen beschwören.

 

Rihanija, am 3. Januar 1934

Hal zeigte mir eine Notiz aus der Time: »Died – Stella Benson Anderson, 41, British novelist and voyageuse, of pneumonia, in Hongay, Tongking, French Indochina. A suffraget before the war, she aspired to ›wit, learning, strangeness, loneliness‹, went around the world six times in tramp steamers, worked on a Colorado strawberry ranch, did airplane stunting in California, was made to an opera singer, nearly starved in Japan, shot tigers in India and taught school in China, finished a novel (›The Faraway bride‹) in Nanking during a Cantonese bombardment . . .«

In Beirut erzählte mir Herr S. von dem Buch eines Schweizers, der durch Südamerika reiste, in Lima in einem fürchterlichen Gefängnis lag, Offizier in der Fremdenlegion wurde, im Elsass den Versuch machte, ein bürgerliches Leben im Bankfach zu beginnen und schliesslich auf recht elende Weise starb. Ich glaube, dass die Angelsachsen mehr Abenteuer ertragen, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen, als wir Schweizer. Genau wie sie auch mehr trinken können, ohne dass ihr Selbstgefühl darunter leidet.

Ein Amerikaner hätte sicher nicht wie jener Bringolf oder wie General Suter geendet. Dagegen könnte Michael Kohlhaas leicht ein Schweizer gewesen sein, und der Goldsucher Suter hat für den kurzen Glanz seines Abenteuers so teuer bezahlt wie irgendein bürgerlicher Mensch für eine Ausschweifung, der er nicht gewachsen ist. Ich würde annehmen, dass für die Frauen etwas Ähnliches gilt – aber die schweizerische Obristin Egli spricht dagegen.

Soviel über das »Ende des Abenteuers« – aber es mag immerhin ein Unterschied sein, ob man auszieht, um Gold 66 zu suchen oder um seinen Gläubigern zu entgehen, ob man nach »wit, learning, strangeness, loneliness« strebt oder ob es die Flucht ins Unerreichbare ist, die uns zwingt, Unbequemlichkeit und Einsamkeit auf uns zu nehmen und das gewohnte Leben willkürlich an einer Stelle abzubrechen, ohne dafür einen vernünftigen Grund angeben zu können. 67

 


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