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Der Doppelgänger

Es ist Freitag der 7. Mai 1824. Ludwig van Beethoven steht im Vorzimmer seines Heims – in der Ungarstraße Nummer 323 – vor dem hohen Spiegel, festlich gekleidet. Kragen und Krawatte neu; Weste schneeweiß. Nur den Rock hat der heute sehr Erregte noch nicht an, den dunkelgrünen Rock, der nach Aussage von Anton Schindler, seinem Sekretär ohne Gehalt, bei künstlichem Licht ausschaut wie ein schwarzer. Den für den wichtigen Abend zu spät bestellten wirklich schwarzen hat der wortbrüchige Bügeleisenschwinger – so betitelt ihn der Erzürnte – nicht geliefert. Zu der ersten Aufführung dreier Sätze aus seiner Großen Messe und der Uraufführung der Neunten Sinfonie, Monumenten seines Schaffens, unpassend gekleidet zu erscheinen, stimmt ihn in hohem Grade ärgerlich. Mit grimmigem Blick auf das ungenügende Kleid, das über der Lehne des Stuhls am Spiegel hängt, knurrt Beethoven:

»Hol der Teufel den Kerl, wenn er mir meinen schwarzen Rock nicht noch in letzter Minute zur Stelle schafft!«

Punkt Sieben soll die Große Musik-Akademie beginnen. Jetzt schlägt es Sechs. Schon ist der Fiaker vorgefahren, der den Komponisten nach dem Kärntnertor-Theater bringen soll.

Es hatte ziemlich langer Verhandlungen bedurft, ehe ihm ein passender Ort und ein genügendes Orchester zugesichert wurden. Wien war und bleibt die Stadt der Ränke. Der Große Redoutensaal ist zurzeit nicht zu haben; und die Machthaber der beiden großen Theater, des an der Wien und des am Kärntnertor, sind beide Beethovens wahre Freunde nicht. Jener, der Graf Ferdinand Palffy, ist – nach dem Urteile des Klemens Brentano – ein verschuldeter Roué, in Händen von Wucherern, Kammerdienern und Regisseuren, ein Mann ohne Treu und Glauben, ja ohne Unterschrifts-Sicherheit. Und Louis Antoine Duport, der ehedem weltberühmte Tänzer, seit drei Jahren Geschäftsführer des Theaters am Kärntnertor für Domenico Barbaja in Neapel, den genialen und gerissenen Unternehmer, zeigte sich in dieser Sache keinen Deut mehr wert. Schließlich aber war Schindler mit ihm handelseinig geworden: um tausend Gulden Wiener Währung für den einen Abend. Als der diensteifrige Secretarius dem Meister die Nachricht vom Abschlusse gebracht, da hatte Beethoven gewettert wie ein Landsknecht. »Was, tausend Gulden? Wo bleibt da für mich Verdienst? Ach, ich hätte die Uraufführung in Berlin, in Paris, in London veranstalten sollen, oder meinetwegen in Schilda, nur nicht in diesem knickerigen Phäakenneste! Im Februar, als die Wiener Windhunde mir unter vaterländischem Schalmeienklange die erzverlogene Adresse überreichten, da hätte ich kurz und bündig erklären müssen: Jawohl, verehrte Herren und hohe Gönner, meine beiden neuen großen Werke bekommt Ihr zuallererst zu hören, aber unter der einen gerecht und billigen Bedingung: Verschaffen Sie mir sofort ein passendes Theater und ein anständiges Orchester; dazu tausend Gulden für die nötigen Vorausgaben! Führt alle Unterhandlungen! Beethoven ist zu gut dazu ... Die Gesichter hätte ich sehen mögen! Ach, ich eitler Tor, trotz so mancher früheren bösen Erfahrung habe ich keine Sicherheit verlangt, obgleich es sich bei mir um Sein oder Nichtsein handelt. Und nun spiele ich vor den Füchsen folgerichtig die alberne Rolle des Raben mit dem Käse.«

 

Die Wirtschafterin, die rotnasige Frau Schnaps – wie sie eigentlich hieß, hatte der Meister längst vergessen – erscheint im Raume, um den noch immer Unfertigen zur Fahrt nach dem Theater zu mahnen. Da es im Vorzimmer dunkel ist, denn das einzige Fenster geht nach dem Hof hinaus, zündet sie die neun dicken Kerzen an, die auf des Gebieters Befehl in drei Wandleuchtern (links, rechts und gegenüber dem hohen Spiegel) jederzeit bereit stecken.

Das reichliche, freudige, flackernde Licht beruhigt wie immer den Nervösen. Ergeben in das Unabänderliche, läßt er sich den grünen Rock reichen. Die Alte verschwindet; sie meidet möglichst den Gesichtskreis des Meisters.

Wie er in den rechten Rockärmel fahren will, fällt sein Blick in den Spiegel.

»Was ist das?« ruft er entsetzt aus.

Soeben noch sah er sich als den mißlaunigen Beethoven, just wie der Maler Waldmüller ihn im Vorjahre so unvergleichlich erfaßt hat. Seltsam, es wandelt sich dies Antlitz. Es verjüngt sich; verjüngt sich mehr und mehr; immerfort.

So hat mich Schimon dargestellt, sagt sich der Verwunderte. So Letronne, fünf Jahre früher. So Mähler vor zwanzig Jahren auf dem großen Bilde mit dem Tempel des Galitzinbergs im Hintergrunde. Und so sah ich 1803 aus, wie ich die Eroica vollendete. Und so im unseligen Jahre 1796, als ich unter vollem Segel in die weite Welt steuerte und so kläglich zurückkam ...

Und was wird das?

Mein Spiegelbild altert wiederum?

Ach, ich ahne es; weiß es. So hätte ich ausgesehen, wenn ich damals, wie geplant, von Berlin nach England gegangen und dort verblieben wäre. Es sollte nicht sein. Ich hätte mich ganz anders entwickelt, wäre ein ganz Andrer geworden, hätte ganz andre Werke geschaffen, in ganz anderm Stile ... Sieh, so hätte ich auf der andern Lebensbahn um 1804 ausgesehen: ein genialer Dandy ... So 1814 ... Und jetzt ähnle ich dem Dichter des Lara ... Ich hätte, Wahlverwandter ihm und Freund, sein Requiem geschrieben ... Und nun, wieder zehn Jahre älter, als Dreiundfünfzigjähriger, bin ich offenbar ein berühmter Mann, zum Engländer gewordener Künstler und Grandseigneur ... Ich sehe da die Rosette eines hohen britischen Ordens am blauen Rock ... Das ist der andere Beethoven!

Und jetzt?

Augen, Gesicht, Haltung, Gestalt kommen in Bewegung, gewinnen Leben, Sprache, Ausdruck.

Beethoven weicht unwillkürlich zurück.

Welch Wunder geschieht? Mein Doppelgänger steigt aus dem Rahmen des Spiegels? Er reicht mir die Hand zum Gruße?

»Wer seid Ihr?«

Beethoven ruft es aus; es ist ihm zumut wie Mozarts Don Juan beim Anblicke des steinernen Gasts.

Merkwürdig, die Erscheinung antwortet:

»Ich bin der, der zu werden des Schicksals dunkle Hand Euch behütet hat!«

»Höre ich recht? Mich behütet?« fragt der Erschrockene. »Mein ander Ich sagt: Behütet! Was, das Schicksal hat mich davor behütet, der zu werden, der ich hätte werden können: der weltberühmte Beethoven? War es wirklich mein Vorteil, daß mein Schiff plötzlich den andern Kurs nahm? Bin ich etwa dadurch glücklicher geworden? Wird mir wenigstens am Ende die innere große Seligkeit zuteil? Unsinn, Täuschung, Selbstbetrug! Gestehe es mir, böser Geist! Ihr höhnt mich? Aber da Ihr der andere Beethoven seid, der vollendete, der nicht fehlgegangene, der, der ich hätte werden können und nicht werden sollte: der erfolgreiche, reiche, urbane, unbedenkliche, vor allem gesund gebliebene Mensch und Komponist, so gesteht: Es fällt Euch, Euch dem anderen, nicht ein, mich glücklicher zu preisen als Euch selber: mich, den Armen und Kranken, den immer mit sich Ringenden, den Einsamsten aller Einsamen.«

Der Doppelgänger: »Der einsame, arme, taube, der furiose Beethoven, der Zweifler und Kämpfer – glaubt es mir! – der ist der wahre, einzige, große Beethoven.«

Beethoven: »Und an welchem Unglückstage meines Lebens habe ich, ahnungslos bestimmend oder blindes Opfer der höchsten Macht, am Scheidewege gestanden?«

Der Doppelgänger: »Erinnert Euch an jenen Maienabend in Berlin im Jahre 1796! Mit ihm endete ein an sich unbedeutender Tag. Ihr hattet vor dem Preußenkönige gespielt; träumtet von entscheidenden Erfolgen an der Themse; hattet Geld und Gold in der Tasche. Die Weiber liebäugelten mit Euch, dem Fünfundzwanzigjährigen; liebäugelten nicht vergeblich. Ihr wart lebensgierig und kerngesund. Und Euer Temperament! Kurz, eine Unbekannte, eine vergiftete Dirne ...«

Beethoven unterbricht jäh, was er weiter nicht hören will. Mit einemmal steht jener Abend Szene auf Szene wie ein Bilderbuch wieder vor seinem inneren Auge.

»Genug! Keines Mannes meiner Art Schicksal ist frei vom Weibe. Dirnen, Dämonen, Heilige und Närrinnen umdrängen uns. In unsern besten Werken treiben sie ihr Unwesen. Genug! Verzeiht, Freund und Satan, ich muß ins Theater. Wenn Ihr wollt, reden wir nach der Akademie weiter.«

Der Doppelgänger: »Noch einen Vorschlag! Vielleicht lockt er Euch. Sagt: wollt Ihr Euer großes Konzert heut abend, statt es bei Eurem kranken Gehör mühselig zu dirigieren, lieber anhören, als Zuschauer, Hörer, Kritiker, Genießer, mit den Ohren und Augen des Anderen?«

Beethoven: »Ihr seid ein Zauberkünstler. Ich nehme den Tausch an, gern, herzlich gern; denn, ehrlich gesagt: ich bin meiner armseligen Rolle müde.«

Der Doppelgänger: »Wechseln wir die Röcke! Im Moment seid Ihr der Andere, der weltmännische, überlegene; heitere Dilettant, dem das eigene Werk kaum mehr wert ist als ein schönes Stück vom überwundenen Ich. Abgemacht! Ich werde der Schein-Dirigent Eurer beiden letzten großen Werke sein.«

Beethoven, erstaunt: »Meiner letzten Werke?«

Der Doppelgänger: »Der alte Weg ist zu Ende. Ihr werdet einen Abend der Selbsterkenntnis erleben, den Anbruch erhabener Resignation. Wer sich wandelt, dem wandelt sich sein Werk. Was Ihr noch schreibt, wird den Stil eines großen Sterbenden tragen. Seid auch damit zufrieden!«

Beethoven: »Sagt, werde ich heute im Theater an Eurer Stelle auch mein volles Gehör wieder haben?«

Der Doppelgänger: »Das Gehör des verwöhntesten Genießers.«

Beethoven: »Wer Ihr auch seid, der Pakt sei geschlossen!«

Der Doppelgänger: »Nachts um drei vor diesem Spiegel gebt Ihr mir meinen blauen Rock zurück.«

 

Fünf Minuten vor Sieben sitzt der blaurockige, vollhörige Beethoven in der Kaiserloge des Kärntnertor-Theaters. Ein Hoflakai hat ihn hingeführt. Er selber ist niemandem sichtbar, nur dem Grünrockigen, der alsbald unten auf der Bühne, wo heute das Orchester thront, erscheint, um sich neben dem dirigierenden Kapellmeister Michael Umlauf, abgewandt dem Publikum, hinzustellen. Vom Hofe nimmt keiner in der Loge Platz. Kaiser und Kaiserin weilen nicht in Wien; und den Erzherzog Rudolph, den einzigen Gönner des Meisters unter den Habsburgern – ihm ist die Große Messe von jeher zugedacht – hindern hohe Kirchenwürden. Er ist seit fünf Jahren Kardinal und seit vieren Erzbischof zu Olmütz. Seit der nun dreißigjährige Fürst seinen eigenen Hof hat, hält er sich dem ehemaligen, die Etikette mißachtenden Musikkameraden fern.

Die Ouvertüre (Opus 120), in keinem Zusammenhange mit den beiden Werken des Abends, rauscht rasch dahin. Beethoven, glückselig, wieder wirklich zu hören, feinsinnig wie dereinst, empfindet zunächst nichts als reine hohe Freude an der Musik des Orchesters. Die Musik an sich beschäftigt ihn; und seltsam, er fühlt sich dabei als der Beethoven und wiederum nicht als sein gewohntes Ich; sitzt er doch da im Körper und Kleide des Anderen.

Nach kurzer Pause beginnt das Kyrie der Messe.

Beethoven lauscht.

Das ist mein heißgeliebtes großes Werk!

Er hört die ihm wohlbekannten Töne und Klänge, anders freilich als im Zustande der schöpferischen Vision, anders als beim imaginären Hören im Gnadenrausche des Dionysos.

Ist das meine Musik? fragt er und fragt er sich wiederholt. Meine Musik, an der ich jeden Takt hundertmal geändert habe?

Mitunter möchte er auffahren und hinunterrufen:

Haltet ein! Hört auf! Ich muß das ganz anders gestalten.

Schon folgt das Credo.

Und dann umschauern den erschütterten einsamen Hörer die Fagotte und Hörner des Agnus Dei.

Unheimlich, erdrückend, maßlos, unkirchlich! Wie konnte ich es obendrein wagen, dieses mein schwierigstes Werk allzufrüh der Öffentlichkeit zu geben, reproduziert durch Kräfte, die ich kaum kenne, nach unzulänglichen Proben, ohne umständliche Erläuterungen? Bei Gott, solange ich lebe, nie wieder lasse ich meine Große Messe aufführen!

Er atmet auf, wie das letzte: Pacem, pacem! verklingt. Die tausend Hörer im Theater bleiben stumm. Totenstille herrscht. Ist es aus Ergriffenheit oder aus der üblichen, nach ernster (unverstandener) Musik schicklichen Erzheuchelei? Beethoven zweifelt.

Was erfassen diese oberflächlichen Operettenliebhaber von der Magie meiner Seele? murmelt der Meister.

Plötzlich sieht er neben sich auf dem kronengeschmückten Nachbarsessel einen riesigen Lorbeerkranz, umwunden mit breitem Goldbrokat. Er ergreift das Symbol des Ruhmes und wirft es dem Mann unten im grünen Rock zu. Der packt den Kranz, wendet sich nach der Proszeniumsloge und schaut hinauf zu dem Anderen, der jetzt an der Brüstung steht und sich ungestüm in die Hände schlägt mit dem Rufe: Soli Deo gloriam!

Zehn Minuten später hebt die Neunte Sinfonie an, Beethovens Apotheose seines Leids und Leidens, seiner Demut und Entsagung, seines ewigen Friedens aus sich selber.

Gegen Mitternacht jubelt der Chorgesang:

Freude, Freude, schöner Götterfunken ...

Nach dem Finale weitet sich einige Augenblicke tiefe Stille im ganzen Raum. Dann steigt lauter Sturm des Beifalls auf, im Parterre, in den Rängen, in der Galerie, im Orchester. Von allen Seiten wird der eine Name: Beethoven! gerufen.

Der Mann unten im grünen Rock, noch immer dem Publikum abgewandt, erschöpft und erdenfern, vernimmt nichts vom wilden Händeklatschen, nichts von den endlosen Zurufen, nichts vom überhitzten Tumult vor und hinter ihm. Oben aber der Beethoven in der Kaiserloge fühlt sich erfüllt von bitterer Ironie:

Strohfeuer!

Da naht sich dem dort unten die eine der beiden Solistinnen, die zwanzigjährige Karoline Unger, und dreht den Meister mit der Gebärde der beglückenden Fee dem Theaterraume zu. Die andre, die graziöse, noch jüngere Henriette Sontag, hängt ihm den vom Boden aufgehobenen Lorbeerkranz mit dem breiten Goldbrokat an den rechten Arm. Der Jubel ringsum wird zur Raserei. Jetzt sieht der taube Dirigent die wogende Hörerschaft, sieht das Schwenken der Hüte und Tücher, sieht die tausend rastlosen Händegrüße. Zwischen Jugend und Schönheit stehend, verneigt er sich und stürmt durch die Seitenpforte von der Bühne fort.

 

Draußen im engen Gange begegnen sich der Mann im blauen und der im grünen Rock. Dieser steht da im Gespräch mit Schindler.

»Verschaffen Sie mir noch heute einen vorläufigen Kassenrapport!« befiehlt ihm Beethoven.

Schindler nimmt die Weisung ohne Widerspruch entgegen. Und in der Absicht, den maßlos Erregten auf andre Dinge zu lenken berichtet er:

»Die ganze Hörerschaft war zerknirscht von der Größe Ihres Werks.«

»Gehen Sie, eilen Sie zur Kasse!« wiederholt Beethoven. »Sie finden mich dann wieder im Jägerhorn in der Dorotheergasse, im hinteren Zimmer.«

 

Im Jägerhorn, im Hinterstübchen, in Beethovens damaligem Stammlokale, geht der einsame Gast hin und her, bis ihm der Wein auf den Ecktisch gestellt wird. Kein Andrer wird den Raum heute betreten; denn der Wirt weiß, daß der Meister für sich zu bleiben wünscht.

Auch der andre Beethoven ist plötzlich da. Beim Pokulieren reden die beiden miteinander über alles, was dem Schöpfer der Großen Messe an diesem Abend bitterer als je das Herz bedrückt. Die Messe wie die Neunte sind weit ins Vergangene zurückschauende große Beichten, wenn auch in einer Sprache, die den Hörern des Tages Geheimnis geblieben ist.

»Erinnert Ihr Euch der Zeit« – fragt der Doppelgänger – »da Ihr es dem Sieger von Marengo gleich tun wolltet? Damals glaubtet Ihr, auch mit Werken des Geistes könne ein genialer Mann Macht über die Masse der Menschheit erringen. Und heute? Schon liegt die Höhe des Lebens hinter Euch. Täuschen wir uns nicht! Es sind Alterswerke, wenngleich Denkmäler, dauernder als Erz, die Ihr heute der Welt und der Nachwelt übergeben habt. Im Worte spricht kein Tadel; jedermann wird alt. Ergebt Euch drein! Euern Lorbeer entreißt Euch keiner, solange die Gesetze der abendländischen Musik sich nicht bis in den Grund ändern. Aber denkt nach! Ist das, was Ihr errungen, Macht im Sinne der eigenen Unabhängigkeit? Macht im Sinne des Lebensgenusses? Wirkliche große, unvergleichliche Macht? Sagt mir zum Beispiel, was sichert Euch der heutige Abend? Werdet Ihr aus dem realen Gewinn daraus ein sorgenfreies Jahr erleben? Nur ein einziges nach so langen ungeheuren Entbehrungen? Wird sich Euch die Sehnsucht von Jahrzehnten endlich erfüllen: Rom, Neapel, Florenz zu sehen? Werdet Ihr zu Fußen des Montblanc träumen? Werdet Ihr vor den Pyramiden philosophieren? Werdet Ihr über dem Atlantik der Neuen Welt Euch nähern? Kurz, sitzt Ihr an der Tafel der Götter Epikurs?«

Beethoven, knirschend wie Tantalos: »Satan, Satan, längst kenne ich alle Zweifel an der Welt, an der Macht der Künste, am gerechten Erfolge, an mir selber. Aber ich bleibe meiner Mission treu. Ich verzichte auf ein handgreifliches Abendglück meines Kämpferlebens; und ich glaube an den ewigen Morgen in der Idee.«

Der andere: »Bach, Mozart, Beethoven, man wird Eure Werke noch kennen, Leben, verehren in hundert, in zweihundert, in dreihundert Jahren, trotz allem Wandel der Menschenseele. Eine Macht jedoch der Musik auf die Masse hat es nie gegeben. Von jeher gehört den Dingen der Wirklichkeit die Vorherrschaft. Auch im Geiste der Führer spielt die Musik keine Rolle. Weder Cäsar noch Kolumbus noch Galilei – mir fallen sie gerade ein – haben daraus Kraft geschöpft. Gutenberg nicht und nicht Luther. Dampfmaschine und elektrischer Strom spotten der Musik. Und die Nachwelt wird Phänomene erleben und tagtäglich gebrauchen, die unsern heutigen Künsten insgesamt ruhmlosen Tod bereiten ...«

Beethoven springt auf:

» Agnus Dei,« ruft er, » miserere nobis! Dona nobis pacem!«

 

In der zweiten Stunde tritt Anton Schindler in die Schenkstube. Für ihn sitzt nur ein Beethoven am Ecktische, zechend, grübelnd, mit der Welt und sich hadernd.

»Ihre Akademie« – so schreibt der Amanuensis in das ihm gereichte Gesprächsheft – »hätte Ihnen in Paris oder London zehn- bis zwölftausend Gulden eingebracht. Hier im knickerigen Wien werden es keine zwölfhundert sein.«

»Wann bekomme ich den genauen Kassenrapport?« murmelt der blaß gewordene, beinahe umsinkende Mann im grünen Rock.

Schindler schreibt: »Schicken Sie Ihren Neffen morgen nach seinem Kolleg, also um fünf, zur Theaterkasse, wo ich ihn erwarte! Meister, nehmen Sie die Dinge, wie sie unabänderlich sind! Ich erinnere Sie daran, daß Sie übermorgen, am Sonntag, zu Mittag, draußen im Prater, ein Dutzend um Ihre Akademie verdiente Leute eingeladen haben ...«

»Es soll dabei bleiben!« erklärt Beethoven.

Schindler schreibt: »Hochverehrter, Sie sind es sich und Ihrer Würde schuldig, die Schwere des heutigen Abends rasch und mutig zu überwinden. Einsehen sollten Sie aber, daß Sie Ihren Vorteil mit Füßen treten, wenn Sie noch länger in Wiens Mauern bleiben. Damit tun Sie sich ungeheuer» Schaden an.«

Beethoven hebt seinen Römer und spricht: »Lionardo, der große Maler, hat in ähnlichem Mißgeschick einmal gesagt: Es kehrt nicht um, wer einem Stern verbunden. Und ich sage: Ich sterbe, wo ich meine letzte Schlacht geschlagen.«

 

Von Schindler gestützt, erreicht der gebrochene Mann im grünen Rock im Morgengrauen die Vorstadt Landstraße, die Ungarstraße, sein Heim in Nummer 323.

Es schlägt drei Uhr, als Beethoven den Rock auszieht und über die Lehne des Stuhles am hohen Spiegel hängt. Im Augenblick ist der blaue auch schon verschwunden; der grüne Rock ist dafür wieder da. Und im Spiegel erscheint der Doppelgänger. Stumm grüßt er. Was hätten die beiden einander noch zu sagen gehabt? Rasch verbleicht das Bild.

Langsam, versonnen, tiefbewegt wie selten in seinem Leben, und doch erfüllt von erhabenem Frieden, macht sich der müde Meister fertig zur Nachtruhe, nicht ohne sich, wiederum zwischen dem reichen Lichte der neun Kerzen, die er feierlich entzündet hat, eine geraume Weile ins eigene wunderliche Angesicht geschaut zu haben.

Kein Spuk wandelt das geringste daran. Der sich Betrachtende vermeint im Spiegel den alten Beethoven zu schauen – und doch nicht mehr den alten. Der Dreiundfünfzigjährige ist in dieser Nacht ein Andrer geworden. Heiter, mit dem Schicksal einig, hat er heute die Endstrecke seines Erdenganges betreten.

Verse aus Goethens Westöstlichem Divan kommen ihm in den Sinn:

Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß;
und daß du nie beginnst, das ist dein Los.
Dein Lied ist drohend wie das Sterngewölbe:
Anfang und Ende immerdar dasselbe;
und was die Mitte bringt, ist offenbar
das was zu Ende bleibt und anfangs war.

Am nächsten Tage gegen Abend hält Beethoven den endgültigen Kassenbericht in den Händen. Der Reinertrag vom 7. Mai 1824 beträgt 420 Gulden W. W.; das sind keine zweihundert Goldmark.

Minutenlang verlassen alle Kräfte den enttäuschten, in drei schwarzen Tagen stark gealterten Meister. Das große Konzert war sein letzter Appell an seine Wiener Zeitgenossen. Nutzlos ist er verhallt. Eines muß nun sein. In wortlosem Verzicht will der Schöpfer der Neunten Sinfonie der Öffentlichkeit entsagen.

Im engen Kreise gebricht es dem Meister an der überlegenen Selbstbeherrschung, wie sie ihm sein ander Ich anempfohlen hat. Beim Sonntagsmahl im Prater, als die Gäste kaum Platz genommen, beginnt der Gastgeber den wirtschaftlichen Mißerfolg des Konzerts zu erörtern. Mehr noch: der von neuem maßlos Erregte behauptet, er sei von Duport in Gemeinschaft mit gewissen andern betrogen, regelrecht geplündert worden, wobei der Kläger zweifellos auf Anton Schindler zielt. Schuppanzigh, als ehrlicher Freund beider Streiter, sucht die Unmöglichkeit der Verdächtigung darzulegen. Vergeblich. Beethoven erklärt, er sei von zuverlässiger Seite über den Betrug unterrichtet. Da erheben sich Schuppanzigh, Schindler und Umlauf, um die ungemütliche Tafelrunde zu verlassen. Damit ist auch die gute Laune der Dableibenden vernichtet. Sofort nach Tisch empfehlen sich die Unger und die Sontag, die beiden schönen Hexen, wie der Meister sie zu nennen pflegt.

Die Allerletzten heben an zu zechen: Beethoven, Friedrich August Kanne und der Schriftsteller Barth. In lukianischer Stimmung schaffen sich die drei ihr Satyrspiel.

 

Drei Tage läßt sich der schwergekränkte Schindler beim Meister nicht blicken. Am vierten schreibt ihm Beethoven einen Brief, der mit folgendem Edikt der Einschränkung ihres bisherigen Umganges anhebt:

»Ich beschuldige Sie nichts Schlechten bei der Akademie; aber Unklugheit und eigenmächtiges Handeln hat manches verdorben. Überhaupt hege ich eine gewisse Furcht vor Ihnen, daß mir einmal ein großes Unglück durch Sie bevorstehe. Verstopfte Schleusen öffnen sich oft plötzlich; und den Tag im Prater glaubte ich mich empfindlich angegriffen von Ihnen. Überhaupt würde ich die Dienste, die Sie mir erweisen, gern öfter mit einem kleinen Geschenk zu vergüten suchen als mit dem Tische; denn, ich gestehe, es stört mich in vielem. Sehen Sie kein heiteres Gesicht an mir, so heißt es: Heut war wieder übles Wetter! – Bei Ihrer Gewöhnlichkeit, wie wäre es Ihnen möglich, das Ungewöhnliche nicht zu verkennen? Kurzum, ich liebe meine Freiheit zu sehr. Ich werde nicht verfehlen, Sie manchmal einzuladen. Für ständig aber ist es unmöglich.«

 

 

Finale

Er durchlebte
was vielen Menschen Tod gewesen wäre.
Freund war er nur den Höhen. Mit den Sternen
und mit dem Feuergeist des Weltalls hielt
er Zwiegespräche – und sie lehrten
ihm die Mysterien ihrer Zauberkräfte.
Das Buch der Nacht lag weit ihm aufgeschlagen,
und Stimmen aus dem Abgrund offenbarten
ihm Wunder und Geheimnis.

Lord Byron
1816.


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