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Alfieri.


Zwei Tage später fand Paul auf der Martinsburg, einem Gute bei Colmar im obern Elsaß, vor dem Grafen Vittorio Alfieri, dem er seinen Empfehlungsbrief überreichte.

Von Fräulein von Lescomte! sagte der Graf mit einem seltsamen bittern Lächeln, in dem Wehmuth und Satyre lag. – Ich bin immer sehr bereit, die Wechsel, welche diese Dame auf meine Freundschaft ausstellt, in Schutz zu nehmen, weil es ihr schwer werden muß, sie zu schreiben.

Ich nenne Sie hier herzlich willkommen! Woher kennen Sie Fräulein von Lescomte?

Als Paul diese Frage beantwortete, sah ihm der Graf mit einem so krallend scharfen Forscherblick ins Gesicht, als ob er seine innersten Gedanken, die Fibern seines Herzens damit zerfasern wollte. Den jungen Mann wehte eine unheimliche Kälte an von dieser Persönlichkeit her; als Paul aber sich ausgesprochen hatte, da wurde die Miene Alfieri's um Vieles wohlwollender und freundlicher; er bat ihn, einige Tage lang auf der Martinsburg zu bleiben, und begann dann ein Gespräch über alte Schriftsteller mit ihm, und als er Paul darin bewandert fand, sagte er verwundert: In Ihrem Alter verstand ich kaum noch meine Muttersprache!

Der Graf Vittorio Alfieri bildete eine höchst auffallende Erscheinung. Er mochte etwa zweiundvierzig Jahre haben, sah aber älter aus. Er war groß, eher hager, als corpulent zu nennen; sein Haar hatte eine röthliche Farbe, und das Gesicht den Teint, welcher bei rothen Haaren gewöhnlich, nichts weniger aber als vortheilhaft ist. Es war wie aus Marmor gehauen, dies Gesicht, so blaß, so kalt, so allem Mienenspiele, in dem sich wechselnde Empfindungen ausdrücken, völlig fremd; es hatte einen Ausdruck, den von Schwermuth und von ungewöhnlicher, von titanenhafter Willenskraft, aber diesen schien ein über ihm zusammenstürzender Himmel nicht in einen andern übergehen machen zu können. Seine Augen waren groß, hochgewölbt und von hellblauer Färbung, die Lippen schmal, der Mund kühn geschwungen und fest geschlossen, die Züge nicht gerade schön, ja fast so, als ob die Natur, wenn die Seele keinen andern Ausdruck hineingelegt hätte, es ursprünglich auf einen Kopf von stupidem Aussehen angelegt habe. Sein Gesicht war – wie eine geistreiche Frau gesagt hat – das eines Moises, welcher mit unermeßlicher Trauer in das geliebte unerreichbare Kanaan hinübersieht; eine Melancholie, wie sie selten zwei Menschenaugen ausgedrückt haben mögen; die Stirne durchfurcht von mächtigen Leidenschaften, von eisernen Gedanken, die in der Narbe über der linken Augenbraue zur gewaltsamen blutigen That ausgebrochen schienen.

Ein Ring mit dem Kopfe Dante's schmückte die schlanke und weiße Hand. Sonst war der Graf in höchst einfacher bürgerlicher Tracht gekleidet.

Von allen Entwicklungen denkwürdiger und großer Charaktere, an denen das Ende des vorigen Jahrhunderts so reich war, mag keine seltsamer, anziehender und des Nachdenkens des Psychologen würdiger sein, als die, welche der Geist dieses größten tragischen Dichters der Italiener nahm. Die Seelen großer Männer hat man oft die Gestirne der Intelligenz genannt, Fixsterne, die Licht strahlend am Himmel ihre Kreisbahn beschreiben. Nur Alfieri war kein Stern; aber er war ein Komet, von dem Niemand weiß, der lange durch dunkle Regionen irrte, der plötzlich, unberechnet, Staunen erregend in die Lichtregion der Sonne geschossen ist und als eine großartige Erscheinung am Himmel steht. – In seiner ersten Ausbildung aufs Aeußerste vernachlässigt, zeigte er im Knabenalter schon Ausbrüche gewaltiger Leidenschaft. Sieben oder acht Jahre alt, ergreift ihn eine Schwermuth, ein Lebensüberdruß, daß er eines Tags eine Menge Gras niederschluckt in der Hoffnung, es könne Schierling darunter sein, von dessen tödtender Kraft er gehört hat. Mit seinen Jahren wächst diese Schwermuth zu einer unendlichen Pein, die ihn ohne Ruh' und Rast durch Europa treibt, von Sicilien bis England, von Lissabon bis Finnland; ganze Tage fließen ihm hin, ohne daß ein Wort über seine Lippen gekommen, der Gedanke an irgend eine Beschäftigung in seine Seele, Jahre, ohne daß ein Buch von ihm auf geschlagen worden. Er ist mit achtzehn Jahren reich, vornehm, frei, ein menschenscheuer Anachoret. Nur Eins erweckt sein Interesse: weder die Schätze der Kunst, die er mit flüchtigem, stumpfem Auge übersieht, noch der Geist großer Männer, denen er ausweicht, weder die geistreiche, glänzende Gesellschaft der französischen Hauptstadt, noch die Alpennatur der Schweiz und die malerischen Scenerien Norwegens fesseln ihn; die Natur und der Mensch und was er gethan, gedacht, gedichtet, läßt ihn kalt – nur das Pferd begeistert ihn und das Unwohlsein seines Schimmels macht ihm schlaflose Nächte; in London geht er vorüber an allen den großartigen Erscheinungen, welche die größte, die reichste Stadt der civilisierten Welt in sich versammelt, um den Morgen im Sattel und den Abend auf dem Bocke zuzubringen, wenn er einen lebensfrohern Freund zu den Gesellschaften fährt. Er ist heftig, unduldsam, stolz, reizbar und hartnäckig; sein Geist aber scheint nur da zu sein, um ihm das Bewußtsein zu geben, daß er ihn ohne Nahrung gelassen und daß sein Dasein ein zweck- und ideeloses sei. Als er, aus dem Norden kommend, in Göttingen einfährt, weckt es seinen Humor, daß er hier zuerst wieder einem Bekannten aus seiner piemontesischen Heimat, einem Esel begegnet, und daß so an dem berühmtesten Sitze der Wissenschaft und des deutschen Forschersinns »ein italienischer Esel mit einem deutschen Eselein zusammentrifft« – und Phantasieren und humoristische Glossen über diese Begegnung machen ihm nach vielen trüben einen heitern Tag.

Ja, seine Tage sind trübe, sie sind voll unendlicher Trauer; sie sind wie die des wandernden Ahasver, der durch die Welt zieht ohne Zweck und Zusammenhang mit ihr. Er ist wie ein ausgestoßener gebannter Geist, dem Alles, selbst das Bewußtsein dessen, was er eigentlich ersehnt, was ihn mit den Rufen der Heimat lockt, geraubt wurde. Seine Seele schwebt über dem Chaos des eigenen Innern wie ein todtmüder Vogel über einer unendlichen Wasserwüste, auf deren Oede die Nacht liegt. So mit dem tiefsten Seelenschmerz vertraut, wie ganz getaucht in Leid, ist es erklärlich, daß der äußerliche Schmerz trotz seines oft siechen Körpers keine Gewalt über ihn hat, und daß er mit kalter Verachtung dem Tode ins Auge sieht. Im Haag hat ihn seine erste Leidenschaft erfaßt; als seine Dame ihn verlassen muß, begreift er es nicht, wie man nach einer solchen Trennung noch leben könne; zur Ader gelassen, reißt er den Verband ab, um sich zu verbluten und wird nur mit Mühe vor sich selber gerettet. – Eine zweite Leidenschaft bemächtigt sich seiner in London, mit unsäglicher Gewalt, mit einer ununterbrochenen Raserei, die eben so unbeschreiblich als unglaublich ist; er findet nicht anders Ruhe, als unablässig gehend, ohne zu wissen wohin; er hat sich kaum gesetzt, um zu ruhen, zu essen, und wieder treibt es ihn auf, unter entsetzlichem Schreien und Heulen, wie einen Besessenen. Auf einem Pferde von seltener Ausdauer und Kraft begeht er die tollkühnsten Streiche zum Entsetzen der verwegensten Fuchsjäger Englands. Um auf einem Spazierritt in der Nähe von London einem Freunde zu zeigen, wie trefflich sein Pferd setzt, sport er es in Carriere gegen den höchsten Zaun, den er findet – aber nur halb bei sich und wenig aufmerksam zur rechten Zeit die gehörigen Hülfen und die Zügel zu geben, stößt es beim Setzen mit den Füßen an und Roß und Reiter stürzen mit einander auf den Plan. – Das Pferd springt zuerst auf, dann sein Herr, der es rasch einfängt, sich wieder in den Sattel schwingt, noch einmal, trotz des Freundes Rufen und Bitten, gegen die Barriere sport und nun triumphierend darüber fortfliegt. Aber nach wenigen Schritten fühlt er den entsetzlichsten Schmerz; die linke Schulter ist ausgerenkt, das Schlüsselbein ist gebrochen. Heimgekommen wird er verbunden und ruht denselben Tag, ruht bis zum Abend des zweiten; dann aber, voll Wuth über den Unfall, wirft er sich in eine Postchaise, fährt ein paar Meilen, geht darauf zwei Meilen zu Fuße, unter dem Mantel den Degen in der ungelähmten Hand haltend, und bringt endlich die Nacht in einem Landhause bei seiner Dame zu, nachdem er erst noch die Staketen ihres Parks überklettert hat. Am Morgen auf dieselbe Weise heimkommend, ist die Schulter natürlich um Vieles verschlimmert; doch ist er am andern Tage nichts desto weniger in der Oper, und hier vom Gemahl seiner Dame gefordert, macht er mit ihm auf der Stelle den Weg über Pall-Mall nach dem St. James-Park und schlägt sich auf der Greenparkwiese auf das Wüthendste mit ihm herum, bis er eine Wunde am rechten Arm empfängt, und nun zurückkehrt, um die Oper zu Ende zu hören. Den Rest des Abends und der Nacht bringt er in der Gesellschaft der Dame und darauf seines Freundes zu, und legt sich endlich bei Tagesanbruch nieder, um von allen diesen Abenteuern auszuruhen.

So rastlos, so vom Schmerze ununterjochbar, so tollkühn, so stark ist dieser Charakter – gebietend über eine titanenhafte Kraft – und für solche Zwecke sie vergeudend! Aber der Geist hat sich diese Kraft zu einem seiner Träger ausersehen; er ist zu gut, um in seinen schlechten nichtigen Leidenschaften sich zu verzehren; er ist zu gut, um die Lebenszwecke eines Postknechts zu erfüllen, er wird vom Geiste umsponnen, erfaßt, die Lohe seiner Leidenschaft flammt plötzlich, ein reines klares Licht, auf dem Leuchtthurm einer großen Idee, und der stumpfe, verzweifelt seine Tage hinbrütende, wie ein Courier alle Landstraßen Europas befahrende Graf Vittorio Alfieri – derselbe Alfieri, der noch jüngst die großen Dichter seiner eigenen Muttersprache nicht lesen konnte, steht nach wenig Jahren auf der höchsten Höhe der Poesie, ein bewunderter, angestaunter Genius.

Den größten Antheil hat die Liebe an dieser wunderbaren Umwandlung; sie macht in seinem Herzen eine gewisse Sehnsucht nach den Studien rege, sie läßt ihn einen Andrang und eine Art Gährung schöpferischer Ideen in sich fühlen. Er kommt nach und nach zum aufmerksamen Lesen; zuerst ist es Montaigne, der ihn dauerhaft fesselt; dann wirft er sich mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens auf das Studium der lateinischen, später auch der griechischen Sprache und Literatur, beginnt die ersten Entwürfe seiner Tragödien, schreibt sie wieder und wieder und feilt mit eisernem Fleiße. Um durchaus frei und ungehindert zu sein von dem geistigen Zwange, der auf seinem Vaterlande liegt, und weil das Reich des Dichters nicht von dieser Welt, schenkt er gegen eine Rente sein ganzes, bedeutendes Vermögen an seine Schwester fort. Endlich glücklich im Besitze eines theuren Wesens, dem er die Früchte seines Fleißes darbringen kann, das, wenn irgend eine Göttin, solcher Opfer würdig ist, und an dessen Geschick er das seine geknüpft hat, vollendet er seine Schöpfungen, in denen sich die ganze grandiose Macht seines Charakters spiegelt. Sie sind voll Kraft der Gedanken, voll Pathos, Conceptionen einer classischen Weltanschauung; er kann nur die Helden der alten Welt zu den Trägern seiner Gedanken brauchen, sie würden andere Schultern erdrücken; aus den gewaltigen Marmorblöcken seiner Ideen kann er nur Tempel der classischen Welt aufbauen, in denen er wohnt als ein erhabener Priester der Freiheit.

Der Graf war mit Paul in eine Fensternische getreten; seine Unterhaltung war freundlich, belebt, aber sie behielt immer als Grundton einen großen Ernst. Auch mochte seine jetzige Lage dazu beitragen, ihn mit einer gewissen Sorge zu erfüllen. Er war mit der Prinzessin, mit welcher er verbunden war, vor der Revolution aus Paris geflohen und hatte für jetzt ein ruhiges Asyl auf der Martinsburg, dem Besitzthum einer Hofdame jener Fürstin, gefunden. Aber die Revolution fluthete von Paris aus in immer weitern Kreisen und konnte ihn so leicht auch aus dem Elsaß vertreiben, und doch forderte der Umstand, daß seine Ersparnisse und seiner Gemahlin Vermögen zum großen Theile in Frankreich angelegt waren, jetzt gerade ihren fortwährenden Aufenthalt in diesem unglücklichen Lande.

Nach einer Weile sahen sie zwei Damen zu Pferde auf den Hof sprengen; aus der Art, womit die eine ihr Thier herumwarf, ließ sich auf großen Muth und eine nicht gewöhnliche Geschicklichkeit im Reiten schließen; Paul kannte sie nicht, aber er erkannte die andere jüngere Dame, die eine größere Zaghaftigkeit verrieth, auf der Stelle wieder. Es war dieselbe, deren Aehnlichkeit mit Louise von Meerheim ihn in der Dorfkirche jüngst so tief bewegt hatte. Sein Herz schlug bei ihrem Anblick so heftig, daß er dem Grafen von ganzer Seele Dank wußte, als dieser das Gespräch abbrach und ihn in ein Fremdenzimmer führte, um seine Reisekleider ablegen und den Damen vorgestellt werden zu können, was im Garten geschehen sollte, wo, wie der Graf sagte, man ihm zum Thee erwarten werde.

Paul war mit seiner Toilette bald fertig, aber eine gewiße ängstliche Blödigkeit hielt ihn ab, in den Garten hinunter zu gehen und als er endlich sich ein Herz faßte, und unten in ein langes Berceau trat, wurde diese Blödigkeit nicht vermindert, weil er am Ende desselben nur die jüngere Dame bei dem Theegeräth sitzen sah, während Alfieri und die ältere in einem entlegeneren Theile des Gartens auf- und abgingen.

Er wußte kaum, ob ihm dieser Umstand erwünscht sei oder nicht; doch einmal an einem runden Steintische in dem schattigen Berceau der Erscheinung gegenüber, welche eine so zauberhafte Anziehungskraft für ihn hatte, war er von Herzen erfreut, ungestört den Träumen nachhängen und alle die wehmüthig süßen Bilder ausspinnen zu können, welche dies Mädchen mit seiner wunderbaren Aehnlichkeit in ihm herauf beschwor, und während er so wie mit durstigen Augen alle Züge ihres edlen und schönen Gesichtes, jede Bewegung ihrer hohen gebieterischen Gestalt einsog, wußte er bald nicht mehr, ob es das Andenken an Louise von Meerheim sei, welches ihm diese neue Bekanntschaft mit so viel Poesie und allem Reize einer verschwundenen frohen Jugendzeit, die in ihr wieder lebendig geworden schien, umkleidete; – oder ob umgekehrt diese neue Erscheinung ihn mit solcher Innigkeit an seine einzige Freundin denken lasse. Er mußte sich wenigstens gestehen, daß Louise von Meerheim wol nie so schön gewesen, als dies ihr Ebenbild, welches in ihrem ganzen Wesen einen Anhauch von tiefer Melancholie, von Vertrautsein mit tödtlich ernsten Gedanken, in ihren Augen eine Neigung zu einer sanften und doch erhabenen Schwärmerei zeigte, so daß das Königthum einer großen Seele sich in ihrem ganzen Sein ausprägte.

Als sie in Paul den jungen Mann erkannte, der bei der ersten Begegnung einen so tiefen Eindruck von ihr empfangen, bewillkommnete sie ihn mit einer lächelnden, etwas schalkhaften Verlegenheit.

Haben Sie die Dame de Dervilliers gefunden? fragte sie ihn.

Nein, und ich muß gestehen, daß seit dem Augenblicke, wo ich mit einer Frage nach ihr Sie zu stören wagte, weder Fräulein von Dervilliers, noch irgend etwas Anderes in der Welt Interesse für mich hat, ausgenommen eine einzige arme Frage an Sie und Ihre Antwort!

Und weshalb haben Sie diese nicht gleich ausgesprochen?

Paul stockte erröthend. – Ich weiß es nicht, versetzte er dann; es war eine Scheu, die wol daraus herfloß, daß ein Ereigniß meines Lebens Ihre Erscheinung mir fast zu einer übernatürlichen, wenigstens mich aufs Tiefste bewegenden machte und noch macht. Und da Sie so plötzlich vor mir standen, wie auftauchend aus den Regionen der Andacht und des Gebets, das ein seit Jahrhunderten begrabener Ritter allein mit Ihnen theilte, wie Segen sprechend über Sie – war es, als ob die stille Dorfkirche mir die Gestalt einer theuren unglücklichen Freundin meiner Kindheit wieder zeigen wolle, die auch längst begraben ist, und doch in Ihnen, ich möchte sagen, wieder lebt. Sie haben eine solche Aehnlichkeit!

Und wer ist diese Freundin Ihrer Kindheit?

Sie hieß Louise von Meerheim.

Mein Gott, Sie haben meine Mutter gekannt?!

Ihre Mutter! – Ja, ich habe sie gekannt und sogar geliebt, wie ein Knabe von acht Jahren lieben kann; und wenn ich auch damals ein Kind war, so ist dies Gefühl für Ihre Mutter doch tief genug gewesen, um noch jetzt Ihre Erscheinung für mich mit einer Poesie und einem Reiz zu umkleiden, der, wenn er auch etwas wehmüthiger Art ist, doch von nichts Anderem auf der Welt gleich heftig und unwiderstehlich auf mich geübt werden kann.

Die heitere Miene des jungen Mädchens war einem Ausdruck von tiefer Melancholie gewichen. Meine Mutter! sagte sie, indem sie die Stirne auf ihre Hand stützte – ich habe sie nie gekannt und so wenig von ihr gehört – sie ist gestorben, als ich kaum ein Jahr alt war. – O, erzählen Sie mir von ihr!

Paul that dies gerne; er vertiefte sich nicht allein mit Vergnügen in alle kleinen Erinnerungen der Zeit, in welcher er Louise von Meerheim gekannt hatte, er sah auch mit einem innerlichen Entzücken, wie werth ihn seine Erzählung der gespannt lauschenden Zuhörerin machte, wie sie begierig jedes Wort seines Mundes auffing; er sah, wie sich mit jeder Minute das Bewußtsein, einen Fremden vor sich zu haben, ihr ferner rückte, wie ihre Antworten mehr und mehr Vertrauen zeigten und wie sie endlich mit der Unbefangenheit einer alten Bekanntschaft zu ihm sprach.

Ich habe meine Mutter, obwol ich sie nie sah, doch so unaussprechlich lieb! sagte sie; – wie lange ist nicht, in einer düstern verzweiflungsvollen Zeit für mich der Gedanke an meine Mutter, die dasselbe Leiden zu ertragen gehabt hat, mein Stern, mein Hort, mein einziger Rettungsanker gewesen! Und da ich eigentlich nur ihr Bild kenne, das mir freilich sehr ähnlich sehen soll, und ich nur Weniges von ihr außer den Schilderungen, die mir meine Amme gemacht hat, erfuhr, so ist mir jedes Ihrer Worte wie eine ersehnte Offenbarung, wie ein Segen!

Sie erzählte dann, wie ihre Mutter sich unglücklich gefühlt, wie sie dann auf der Dietburg so jung gestorben und als einziges Kind sie, die Erzählerin, zurückgelassen; wie sie selbst, herangewachsen, sich aus dem Meerschlosse weggewünscht und sich der Gräfin Albany anvertraut, die durch einen Schiffbruch auf der Ueberfahrt von England nach den Niederlanden an die deutsche Nordseeküste verschlagen worden und eine Nacht in dem Schlosse ihres Vaters, der Dietburg, zugebracht habe.

Ich reiste, nachdem meines Vaters Einwilligung, die Gräfin Albany als Gesellschaftsdame begleiten zu dürfen, ausgewirkt war – erzählte sie weiter, – mit der Gräfin durch Deutschland nach Florenz, wo ihr Gemahl wohnte, ich meine ihren ersten Gemahl, den Grafen von Albany, Karl Eduard Stuart, den Prätendenten auf die englische Krone. Wie voller Ueberraschungen, Freuden, Entzückungen war diese Reise für mich! Welcher überwältigende Reichthum an Bildern, Scenerien, Gefühlen, bald laut aufjauchzenden und bald tief betrübten Empfindungen liegt nicht für ein jugendliches, empfängliches Gemüth in dem ersten Bekanntwerden mit der Welt! Zumal, wenn man wie ich einen wahren Durst hat, zu sehen, zu fühlen, sich zu bilden, und bislang nichts gesehen hat, als ein altes Schloß, graue Sanddünen und das ewige Meer, das die Sehnsucht, die Träumerei und das schwärmerische Verlangen nach der Ferne weckt. Menschen, Städte, die Naturschönheiten, an denen unser Weg vorüber führte, die Schätze der Kunst, an denen sich meine neue Heimat so reich zeigte, Alles war mir fremd und neu. – Und nun der Umgang mit der gütigen Dame, die sich meiner angenommen! O, Sie müssen diese großartige Natur ganz kennen lernen, um den Grad der Bewunderung theilen zu können, die ich für sie hege, um sie zu lieben, zu verehren, wie ich sie verehre. Aber verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen von Sachen vorplaudere, welche Sie wenig interessieren werden. Die Freude, die Sie mir gemacht haben, Ihre Theilnahme für das Andenken meiner armen Mutter macht, daß ich Ihnen dies Alles rückhaltlos als einem alten Freunde mittheile. Nur danken lassen Sie mich Ihnen noch einmal für jene Freude! Wie man so seltsam in der Welt zusammentrifft! Ein bloßer Zufall, daß ich auf einem Ausfluge in den unterm Elsaß, den der Graf mit uns machte, eine Dorfkirche geöffnet sehen und das Verlangen bekommen mußte, sie zu betreten, macht, daß ich Sie gesehen und nun zu einem solchen Schatze von Mittheilungen über meine Mutter gekommen bin, der mich so reich, so froh macht.

Alfieri und die Gräfin von Albany traten in das Berceau; jener stellte Paul vor, indem er lächelnd hinzufügte: ein Bekannter, wahrscheinlich ein genauer Bekannter des Fräuleins von Lescomte.

Und ein genauer Bekannter meiner Mutter! setzte Louise von Dietburg zur Gräfin gewendet hinzu, indem sie aufsprang und diese umarmte: o, sie ist so gut, so schön, so engelhaft gewesen!

Paul sah, wie ein paar Thränen Louisens Wimpern entglitten und auf die Schulter der Gräfin fielen, die ihre jüngere Freundin innig an sich schloß.

Die Gräfin von Albany mochte damals neununddreißig Jahre haben. Wenn auch kleiner als Louise von Dietburg, war sie doch von mehr als mittlerer Größe; ihre Gestalt war stärker geworden seit der Zeit, wo wir sie des Nachts in den Gemächern der alten Dietburg belauschten; in ihren Bewegungen war eben so viel Anstand als Grazie, ja eine gewisse Majestät, die, obwol sie gepudert und in der steifen Tracht des vorigen Jahrhunderts gekleidet war, über ihrem ganzen Wesen lag. Liebliche braune Augen voll Sanftmuth und Milde, ein schön geformter Mund, der gewöhnlich, auch wenn sie nicht sprach, etwas von den schönsten elfenbeinweißen Zähnen sehen ließ, ein ungewöhnlich zarter Teint, dem der Gram das Colorit gebleicht zu haben schien, machten ihre durchaus romantische Schönheit zu einer ungewöhnlichen und fesselnden. Wenn der Ausdruck des zuweilen nicht ganz geschlossenen Mundes auf Augenblicke ihrem Gesichte etwas von einer schalkhaften Grazie geben konnte, so erinnerten dagegen die Höhlen über den breiten Augenlidern an Thränen und tiefes Leid. Ihre Stimme war etwas lauter und tiefer, als es bei Frauen ihres Standes gewöhnlich ist. Sie sang, sie spielte die Harfe und das Clavier, zeichnete und tanzte mit seltener Vollkommenheit; im Ganzen mehr ernst als heiter, war sie nicht redselig, obwol sie die Gabe der Unterhaltung in einem hohen Grade besaß.

So war die Prinzessin Aloysia von Stolberg-Geldern, die Tochter des Fürsten Gustav Adolph von Stolberg-Geldern, der 1757 in der Schlacht bei Leuthen fiel. Ein unglückliches Geschick hatte sie, – in einem Alter von fünf Jahren des Vaterschutzes beraubt, an den, unter dem Namen eines Grafen von Albany in Italien lebenden Prätendenten auf den Thron von Großbritannien gekettet. Karl Eduard Stuart war kein Mann, der einen Charakter und Eigenschaften, wie sie diese Fürstin besaß, zu würdigen und zu schätzen gewußt hätte. In Florenz, wo Alfieri sie kennen lernte, fand er sie als die Sklavin eines Trunkenbolds in der unwürdigsten Lage. Sie flößte ihm eine Leidenschaft ein, die er selbst eine des Herzens und des Verstandes zugleich nannte, minder ungestüm und glühend, als seine frühern, aber inniger, tiefer und dauernder; eine Flamme, die sich seitdem an die Spitze aller seiner Gedanken und Gefühle gestellt. Und wie sie ihn spornte und ihm Antrieb war auf seiner Bahn zum Ruhme, wurde er ihr Trost und ihre Stütze in dem Kampfe mit ihrem traurigen Geschick; bis es ihr endlich nach langem Leiden gelungen, eine Auflösung ihrer Ehe vom Papste auszuwirken. Als endlich ihr Gemahl gestorben, da durfte sie für immer und unauflöslich ihr Loos mit dem Alfieri's verketten; sie that es jedoch nur im Geheimen und behielt den Namen, den der Prätendent geführt hatte.

Paul fühlte sich in dem Kreise dieser Menschen, zwischen so hochgestellten und reich begabten Naturen, wie er nie mit ähnlichen in Berührung gekommen, unendlich glücklich – er stand ja plötzlich, unverhofft in einem Kreise ächt menschlicher, harmonischer Bildungen, der ihm enthüllte, zu wie großen, geistesmächtigen, poesieerfüllten Erscheinungen begabte Wesen, nachdem sie vom Schmerze die Weihe zu einem Priesterthume der Humanität erhalten, aufblühen können. Und indem er so jung, so unwerth sich ihnen gegenüber fühlte, beglückte es ihn doppelt, daß man mit so viel Theilnahme und Freundlichkeit seinen Ansichten und seinen Begeisterungen zuhörte, mit denen er nicht hinter dem Berge hielt; denn er war redselig geworden, weil es in seiner Seele jubelte, daß er Louise gefunden.

Vittorio, sagte die Gräfin von Albany, als sie am Abende mit Alfieri allein war, Sie haben mir heute den jungen Mann als einen Freund der Lescomte vorgestellt; wissen Sie, daß Sie mir noch immer, wenn Sie von dieser Dame gesprochen, dieselbe unter geheimnißvoll drappierten Schleiern vorgestellt haben?

Sie fordern eine Beichte, die mir schwer wird, denn ich schäme mich in dem Gedanken, wie weit von der Vernunft und wie nahe an die Thorheit meine Leidenschaften mich haben führen können. Es war in Turin. Die Lescomte, eine Dame von großer Schönheit, hoher Geburt und bedeutendem Reichthum, aber nicht vom besten Rufe, wohnte mir gegenüber, und obwol ich sie anfangs nicht liebte, nie schätzte und ihre Schönheit nicht der Art war, welche auf mich Eindruck macht, gelang es ihr doch, mich zu fesseln, weil ich, ein wahrer Thor, an ihre unendliche Liebe zu mir glaubte, die es ihr, wahrscheinlich im Bunde mit meiner eigenen Eitelkeit, gelang, mir aufs Festeste aufzuheften. Ich vergaß ihretwegen Pferde, Freunde und alles Andere, war von Morgens acht bis Abends zwölf Uhr bei ihr, mißvergnügt über dies Beiihrsein und unfähig, nicht dazusein; ein peinlicher und bizarrer Zustand, der zwei Jahre dauerte; und da ich während dieser Zeit von früh bis spät wüthete, verfiel ich endlich in eine heftige seltsame Krankheit, von der Witzlinge sagten, ich habe sie für mich besonders erfunden. Ich genas endlich, aber nicht von meiner Liebe, die mich mit Scham, Wuth und Schmerz erfüllte; denn ich schämte mich vor mir selber, und mied jeden Freund und Bekannten, in deren Mienen ich mein schimpfliches Urtheil las. Auch meine Dame wurde krank; ich weiß nicht, ob ich Schuld daran war, es mag immerhin sein; genug, ich unterzog mich ihrer Pflege und wich nicht von ihr, ohne je den Mund zu öffnen, da ihr das Sprechen schadete. So fiel ich eines Tages darauf, aus langer Weile fünf oder sechs Bogen Papier zur Hand zu nehmen; sie lagen in der Nähe, und um eine Beschäftigung zu haben, begann ich, ins Blaue hinein, ohne Plan und Zweck sie mit einer dramatischen Scene voll zu schreiben, in der Cleopatra als Heldin figurierte, und zwar gerade diese Dame aus keinem andern Grunde, als weil in dem Vorzimmer der Lescomte Tapeten hingen, welche Scenen aus dem Leben der Cleopatra vorstellten. Das ist die Veranlassung, die zuerst den dramatischen Dichter in mir geweckt hat. Ich schob das unsterbliche Stück Arbeit, als die Bogen voll waren, unter das Kissen des Polsterstuhls der Lescomte und sie hat dort sicherlich ein Jahr lang mein erstes dramatisches Ei bebrütet.

Als mir aber meine Dienstbarkeit immer schwerer wurde, entschloß ich mich endlich zur Flucht. Ein heftiger Streit, der sich eines Abends, wie wol öfter, zwischen uns entspann, gab die Veranlassung; ich reiste am zweiten Morgen nach Mailand ab, nachdem sie mir noch vorher Briefe und Portrait zurückgeschickt, eine Sendung, die meinen Heroismus schon wankend zu machen begann. Und am Ziel der ersten Tagereise, zu Novara, war vollends all mein Muth dahin; Reue, Schmerz und Feigheit führten mich wie einen Gefangenen zurück; schon in der Nacht setze ich mich zu Pferde und raste nicht, bis ich in Turin einen flehentlichen Brief an sie schreiben kann, der nicht anders als gnädig aufgenommen wird und mir Verzeihung auswirkt. Für ein Jahr war ich ausgereist und mit eingesetzten Sporen kam ich nach ein paar Tagen zurück – des Nachts mich in die Stadt schleichend, um nicht ausgelacht zu werden. Ich glaube, nur mein marmorkaltes Gesicht hat mich vor den Spöttereien meiner Freunde geschützt. Am Ende wär' ich närrisch geworden über dieses Verhältniß, hätte nicht zuletzt meine zusammengepreßte Wuth gegen mich selbst und gegen die Lescomte in einer gewaltigen Anstrengung alle Bande zerrissen. Da ich aus Erfahrung wußte, daß eine Flucht mir nichts nutze, beschloß ich zu bleiben, und da sie mir gegenüber wohnte, wie ich gesagt habe, sie täglich zu sehen, täglich von ihr zu hören, und doch zu Hause zu bleiben trotz aller Botschaften und Briefe. Vielleicht, dachte ich, würde dieser schwerere Vorsatz von meiner eisernen Hartnäckigkeit, welcher der leichtere des Entfliehens nicht gelungen, durchgesetzt werden. Ich schnitt meinen Zopf ab und schickte ihn einem Freunde als Pfand meines Entschlusses, da ich mich nun unmöglich noch bei Menschen blicken lassen konnte; ja, mein Kammerdiener mußte mich auf meinen Sessel festbinden, so daß die Hände frei blieben und mein Mantel die Bande verbarg, wenn Jemand mich besuchte. Nachdem nun noch meinen Bedienten untersagt worden, mir irgend ein Wort oder eine Zeile von meiner verhaßten Geliebten zu überbringen, quälte ich mich im entsetzlichsten Gemüthszustande, oft heulend und schreiend über die ersten vierzehn Tage fort. Nach zwei Monaten fühlte ich meinen halbwahnsinnigen Zustand weichen und hatte dann endlich die Ruhe erlangt, um mein erstes Sonnet schreiben zu können. Aber weil ich mich immer noch meiner Leidenschaft gegenüber schwach fühlte, ergriff ich als letztes Mittel gegen mich selbst eine Verkleidung, in der ich als Apoll, aufs Erbärmlichste auf einer Cyther klimpernd, zu Ende des Carnevals einen öffentlichen Theaterball besuchte und Spottverse auf meine Dame absang – ein Gassenbubeneinfall, der aber Mitleid verdiente. Nun stand die Schande zwischen mir und dem Zurückfallen in meine Bande; ich war gerettet.

Und die Lescomte?

Turin war ihr verleidet; ich habe gehört, daß sie eine Reise durch Deutschland machte und dann bis jetzt bei Verwandten, da, wo unser Gast sie kennen lernte, sich aufhielt.

Seltsamer Mann! sagte die Gräfin Albany, indem sie ihren Arm um seine Schulter legte und mit der Hand das Haar von seiner Stirn zur Seite strich, – welcher Vulkan kocht unter dieser Stirn – wie hast Du alle Höhen und alle Tiefen des Daseins um ganze Welten höher und tiefer durchmessen, als wir andern Menschen!

Die Tiefen, ja, es mag sein – aber auch die Höhen? – Doch, auch die Höhen! setzte er hinzu, indem er die Gräfin innig umarmte und einen Kuß auf ihre Schulter drückte.

Man sagt, ich fürchtete Dich, fuhr sie fort, ist es ein Wunder? Fürchtet sich die Taube, die ihr Nest im Geklüft des Vesuvs gebaut hat, nicht vor den Lavaströmen?

Nein, meine Taube, denn sie hat nie etwas von ihnen erfahren, sonst wär' sie nicht dem Vulkan nahe gekommen, und so sollst auch Du nie etwas von ihnen erfahren – Du hast sie ja gelöscht, Du hast die wunde Tiefe meiner Seele geschlossen!

Paul durfte Louise, die er den ganzen folgenden Morgen nicht sah, am Nachmittage auf einem Spaziergange durch eine freundliche Gegend voll üppiger Kornfelder und schattiger Gehölze führen, während Alfieri und die Gräfin eine Strecke vorausgingen. Sie schien mit unendlicher Liebe an Allem zu hängen, was den Namen ihrer Mutter trug; und da Paul nichts lieber that, als ihr erzählen, vertiefte er sich bald in jedes kleinste Detail, das er als Kind in Meerheim's Hause wahrgenommen und dessen er sich erinnerte.

Wie tritt mir jene Zeit wieder lebhaft vor die Augen, sagte er, als ob ich nie über sie fortgekommen, als ob ich noch in den seligen Kinderjahren stände, und nur ihre kleinen Schmerzen und großen Freuden in meinem Leben kennen gelernt hätte. Ich sehe den Garten, die Blumen, das Haus mit der grünen Glasthüre im Vordergrund, ich sehe das Zimmer Ihrer Mutter mit ihren Stickereien, ihren Zeichnungen, ihren Notenheften; ich stehe mitten in all der Herrlichkeit, – und steht nicht. Ihre Mutter selber vor mir in Ihnen? und schlägt mein Herz nicht eben so froh und leicht wie damals, nur mit den gewaltigern Gefühlen, die doch die Brust eines Kindes nicht faßt? Ja, ich bin wieder zum Kinde geworden durch Sie, Louise, und es ist eine kindliche Ahnung in mir, daß es der Segen Ihrer Mutter ist, welcher mir folgt, weil ich sie so lieb hatte, welcher mich hierher geführt hat. Er wagte es, den Arm an sich zu drücken, der auf dem feinen ruhte. Sie schwieg.

Können Sie jetzt das stumme, alle meine Sinne in Banden schlagende Entzücken sich erklären, mit dem ich in jener Dorfkirche vor Ihnen fand und Sie erschreckte? Es war wie ein Getroffensein vom Blitze, was mich durchfuhr, es war ein heller Lichtschein, der in meine Seele fiel, nicht allein in dem Sinne, in welchem man von einer unendlichen Freude sagt, daß sie Licht in unsere Seele bringe, sondern auch in einem andern. Es fiel auch ein plötzlicher Lichtschein für mich auf jenen glücklichen Abschnitt meiner Vergangenheit; es wurde jetzt erst mir selber klar, mit welcher Innigkeit und Tiefe, mit welcher andächtigen Begeisterung ich Ihre Mutter geliebt habe. O, Sie sind ihr so ähnlich, Louise!

Ich bitte Sie, sprechen Sie nicht in diesem Tone fort, sagte Louise schüchtern; ich weiß nicht, was in Ihren Worten liegt, daß mir ist, als könnte ich Ihnen nicht mehr so unbefangen sagen, wie sehr ich Ihnen verpflichtet bin, und es ist ein Bedürfniß meines Herzens, Ihnen dies auszusprechen, Sie sind mir ein freundlicher Bote, den mir meine Mutter gesendet hat, um mir nach vielem Leid und nach manchem trostlosen Tage eine Freude zu machen, um mir zu sagen, daß sie ihr verwaistes Kind nicht vergessen, nicht verlassen hat. So haben Sie durch Ihre Erzählungen mir einen wunderbaren Trost in die Seele gegossen, und sind mir wie ein Bote der Hoffnung und des Vertrauens erschienen. Ich werde Sie deshalb immer zu Denen zählen, die sich als meine gütigsten und besten Freunde in meinem Leben gezeigt haben. Es ist mir eine Freude, Ihnen dies zu sagen, – wollen Sie mir die Freude nehmen, indem Sie mir den Mund schließen? – Soll ich denken, Ihre Liebe für meine Mutter, die Sie mir so werth macht, und wie einen alten und vertrauten Bekannten erscheinen läßt, vor dem ich in keinem Dinge Hehl haben möchte – diese Liebe sei so egoistisch, wie eine gewöhnliche Männerliebe geworden? Sie ist ja, wie Sie es schildern, so zart, so blumenhaft, so kindlich fromm gewesen – muß denn Alles, was Engel ist im Menschen, schwinden, sobald er die Kinderschuhe austritt und auch diese ihre Liebe, die so poetisch ist, so lange sie das feenhaft Aetherische behält, in die Flegeljahre kommen?

Louise, versetzte Paul, da haben Sie unrecht; die Flegeljahre passen nicht; sie ist darüber hinaus, sie ist plötzlich eine ganz erwachsene und höchst ernsthafte Gestalt geworden, die, voll Bewußtsein und Entschlossenheit, an Kraft, an Leidenschaft, an Glut gewonnen hat, was sie vielleicht an kindlichem Frommsein verloren hat. Freilich, wir kennen uns seit gestern erst, aber mir sind Sie eine bekannte, eine heimatliche, eine mit meinen süßesten Erinnerungen aufs Innigste verwebte Gestalt. Wenn Sie den Alpensohn Jahre lang aus seinen Thälern fortgelockt haben, über ferne Meere, an öde Gestade, durch alle Noth und alles Elend der Fremde, dann kann nicht der plötzliche Anblick seiner blauen Berge und der dunkelgrünen Tannen, nicht das Blinken der Gletscher und das Alpenglühen, nicht das Almen seiner Sennerin und der wunderbar liebliche Gesang seiner Brüder, wenn sie über den abendlichen blauen Seen rudern – mit einer größern Gewalt ihn ergreifen und tiefere Saiten der Wehmuth, der Entzückung und der Andacht in seiner Brust anschlagen, als ich sie habe in meiner erzittern fühlen, in dem Augenblick, wo –

Haben Sie so wenig Rücksicht auf meine Bitte, unterbrach ihn Louise hier, halb ihren Arm aus dem seinen ziehend, ich werde der Gräfin nacheilen.

Ihre Stimme ist mir wie das Almen meiner Sennerin, wie der Gesang, der Abends über den blauen Seen der Alpen schwebt, fuhr Paul fort, und Louise entzog ihm weiter ihren Arm nicht. – Sie sah, wie er in Blick und Stimme und in seinem ganzen Wesen ein Erfüllt- und Gehobensein von der Art leidenschaftlicher und doch wehmüthiger Poesie zeigte, welche die erste Liebe erweckt. Auf sie wirkte dies auf eine eigenthümliche Weise, es war ihr, als ob ein angenehmer Traum sie umgebe, als ob Pauls Worte und Blicke sie persönlich gar nicht angingen, als ob sie ihn harmlos und ruhig sich aussprechen lassen dürfe, um in dem Traum von Glück, welchen ihr diese Worte bereiteten, selig weiter zu schlummern, so sorglos, wie man es über Träume ist. Wie der Abend, der rings um sie dämmerte, lag auch eine von rosigen Horizonttinten durchwebte Dämmerung über ihrer Seele.

Meiner guten Louise scheint der junge Fremde ein besonderes Interesse abzugewinnen, sagte die Gräfin Albany unterdeß zu Alfieri. Er kann ihr gefährlich werden; sie ist wie alle diese in großen einfachen Grundzügen gezeichneten Charaktere, diese Naturen, die ohne alle Fassungskraft für Verstellung, List, Unwahrheit und die kleinlichen Eigenschaften im Menschen sind, unvorsichtig und bei allem ihrem Ernst kindisch unbesonnen, Fremden gegenüber.

Er scheint mir eine redliche Haut ohne Falsch, versetzte Alfieri; die Lescomte hat ihn, wie ich gemerkt habe, tiefer in ihr Netz gelockt, als er gestehen will; und das kann nur einer sehr arglosen Seele geschehen.

Gewiß, höchst scharfsinnig und naiv bemerkt! rief lachend die Gräfin aus; doch bitte ich Dich, Vittorio, Dich etwas mit ihm zu beschäftigen, wenn er länger bleiben sollte, um seines Charakters gewiß zu werden.

Louise, die Paul ihren Arm zu entziehen unterdeß für gut gefunden haben mußte, kam in diesem Augenblick herbeigesprungen und hing sich an den Arm der Gräfin. Man hatte den Heimweg eingeschlagen; Louise blieb stumm während des übrigen Theils des Spaziergangs und Paul ging eben so schweigend ihr zur Seite.

Mehrere Tage verflossen, während welcher Paul mit einer gewissen scheuen Zurückhaltung sprach, wenn er mit Louise allein war; er sah sie roth werden in solchen Augenblicken, ihre Unbefangenheit war sichtlich erschüttert und dies genügte, um auch Paul verlegen zu machen. Er glaubte, sie fürchte dann, daß er in den Ton zurückfalle, den er einmal angeschlagen, und durch den er sie verletzt wähnte; um ihr diese Sorge zu nehmen und sie ihre frühere Unbefangenheit ihm gegenüber wieder gewinnen zu lassen, bestrebte er sich von vorn herein, das Gespräch auf Gegenstände zu lenken, die eigentlich den Gedanken Beider so fern wie möglich lagen, und gerade durch ihre unverhüllbare Gleichgültigkeit nur noch verlegener machten, da sie keinen Augenblick vergessen ließen, weshalb allein man sich mit ihnen beschäftige; bis Louise endlich seufzend den blauen Himmel zum Gegenstande ihrer Betrachtungen zu machen und Paul spielend die verschiedenen Verschlingungen zu studieren schien, in welche sich eine kleine goldne Uhrkette bringen lasse.

Die Gesellschaft auf der Martinsburg war um einen neuen Gast vermehrt worden. Es war Manuel. Paul hatte über ihn mit Alfieri gesprochen und dieser ihm erlaubt, seinen Freund zu sich einzuladen, daß er versuchen könne, durch Louise, mit welcher er nach dem, was Paul früher erfahren, den gleichen Namen führte, einen Faden zu finden, welcher ihn auf den Ursprung seines Geschicks leite. Louise wußte ihm nichts zu sagen; sie hatte von Verwandten, die gleichen Namens mit ihrem Vater gewesen wären, nie etwas vernommen. Dagegen schien sie einen großen Eindruck auf ihn zu machen. Sonst sehr redselig und der Mittheilung bedürftig, war er jetzt stumm und verschlossen geworden; er antwortete auf Fragen zerstreut und wenn er angeredet wurde, konnte es sein, daß er wie krampfhaft zusammenfuhr. Er war in wenig Stunden, wie es schien, in seine alten Gemüthszustände zurückgeworfen worden; der Jubel, den das Gefühl der Freiheit, die wiederbelebte Hoffnung, der ungehinderte Eintritt in die von ihm so ersehnte Welt in ihm wach gerufen hatte, war verschwunden und seine Ansichten nahmen wieder den düstern verzweiflungsvollen Charakter an, den sie gehabt hatten, als er noch von seiner einsamen Zelle aus die Welt beurtheilte. Es war wieder ein böses Geschick, dem die Herrschaft über die Menschen eingeräumt war und das jeden an seiner empfindlichsten Stelle erfaßte, das jeden kaum beginnenden frohen Aufschwung einer Menschenseele wie bei den Haaren zurück- und niederriß in den Schmerz. Louisen wurde er unheimlich – wegen seiner seltsamen Blicke, sagte sie; der Graf sah ihn nicht gerne, weil er für die Franzosen schwärmte, gegen welche Alfieri einen entschiedenen Haß hegte, und nur die Gräfin Albany interessierte sich für ihn und suchte ihn bei Alfieri zu vertheidigen, indem sie ihn bat, Manches nicht auf Rechnung seines ursprünglichen Charakters, sondern der Schärfe und Bitterkeit zu bringen, womit ihm alle Leiden seiner Vergangenheit erfüllt haben mußten.

Ich will morgen abreisen, sagte Manuel am zweiten Abend nach seiner Ankunft zu Paul, ich will nach Paris, ich will mich kopfunter in den Strudel stürzen. Ich tauge nicht in dieses Haus, man verachtet mich, ich fühle es, in dieser gebildeten, geleckten, zierlichen Gesellschaft von Phrasendrehern, von Leuten, die sich mit schönen Worten durch die Welt helfen. Ich habe mein Leben lang in der Kutte stecken müssen; ich kann nicht gehen, wie ein gebildeter Mann, ich weiß keine Verbeugung zu machen, ich kann nicht reiten, ich könnte nicht das einfachste Compliment sagen, ich bin linkisch, tölpelhaft, und das gibt diesem geschniegelten Geschlechte Grund genug, mich zu belächeln und sich von mir abzuwenden mit dem herzlosen Hohne, den die Vornehmen für einen armen Teufel haben.

Pfui, wie ungerecht sind Sie wieder, Manuel, versetzte Paul; schämen Sie sich; wie beurtheilen Sie den Kreis liebenswürdiger Menschen falsch, in dem Sie die letzten Tage zugebracht haben. Ich weiß nicht allein, daß die Gräfin Ihnen die größte Theilnahme schenkt –

Die Gräfin – was hilft das mir! – Glauben Sie, daß ich Louise von Dietburg je gefallen könnte?

Die Heftigkeit, womit Manuel diese Frage äußerte, gab Paul ein plötzliches Licht über jenes Gemüthslage und erfüllte ihn zugleich mit einem höchst unangenehmen Gefühl; doch sich bezwingend antwortete er nach einigem Zögern:

Weshalb nicht, wenn Sie anspruchloser und weniger heftig erscheinen können.

Manuel reiste am andern Tage nicht ab, und Paul, obwol nicht in der Stimmung, in welcher man geneigt ist, Beobachtungen zu machen, bemerkte in seinem Wesen ein auffallendes Bestreben, durch Milde seiner Urtheile, durch Bescheidenheit und sanftes Wesen zu gefallen, und mit Gewalt das Beißende und Gewaltsame zu unterdrücken, welches er sonst jeder Aeußerung irgend eines Gedankens oder einer Meinung zu geben pflegte. Auch waren bald Alle mit ihm ausgesöhnt. Louise unterhielt sich jetzt gerne mit ihm und Alfieri bat ihn, so lange sein Gast zu bleiben, als es ihm auf der Martinsburg gefalle. Wie sehr er übrigens dies Wesen mit Gewalt seiner eigentlichen Natur abkämpfen mußte, entging Paul, der die letztere kannte, nicht; er war zehnmal im Begriff, Louise vor ihm zu warnen, aber er unterließ es, weil er es für unedel hielt, bei den Gefühlen, welche er selbst für Louise hegte.

Eines Abends, es war in der Dämmerung, fanden sich die Bewohner des Landhauses in dem freundlichen Salon der Gräfin versammelt. Diese saß auf ihrem Sopha und hörte Alfieri zu, der sich, im Zimmer auf- und abgehend, mit Paul unterhielt. Louise saß in einer Fensternische und Manuel stand vor ihr, an die Wand gelehnt, und über ihre vergeblichen Anstrengungen scherzend, ein verwickeltes Gewinde weißen Strickgarns zu entwirren.

Wie oft, sagte Alfieri zu Paul, der ihm seine Gedanken über die Nothwendigkeit, das Dasein durch irgend eine That über sich selber und den gemeinen Verlauf zu erhöhen, mitgetheilt hatte – wie oft habe ich nicht auch so gedacht wie Sie – nicht den gleichen Drang gefühlt, mich von mir selber durch eine große, nach außen hin ersprießlich wirkende Arbeit zu befreien und auf dem Bewußtsein eines trotz ungewöhnlicher Hemmnisse und Schwierigkeiten Geleisteten wie auf einem Piedestal fußen zu können, der hoch genug die Abgründe und dunklen Tiefen, die im Menschen sind, überrage. Aber seitdem ich selber zu einer That gekommen und so viel über die Handlungen habe nachdenken müssen, in denen ich die Helden meiner dramatischen Versuche und Studien begriffen dargestellt habe, diese Brutus, Orest, Polynices, Agamemnon, Saul und Timoleon, bin ich geneigt geworden, der That nur noch einen untergeordnetern Werth für die Entwicklung unsers Daseins zuzugestehen. Für uns heutige Menschen ist nicht mehr das Erste das Positive, das ist die That, sondern das Negative, das ist die Pflicht, oder wenn Sie lieber wollen, das, was aus einer Vereinigung beider zusammenfließt und was man ein Ausfüllen des Wirkungskreises, ein ersprießliches Thätigsein nennt. Die That ist nur noch Wenigen unter uns beschieden, wenn man es, wie Sie in dem Sinne faßt, wie die Alten es faßten, nämlich äußerlich und mit Händen ergreifbar. Den Menschen der alten Welt bestand der Heroismus in der Verachtung des Schmerzes und des Todes, womit sie erymanthische Eber und nemäische Löwen niederkämpften und vor der Schwelle des Orkus nicht zurückbebten; und den Menschen des Mittelalters, denen der innere Geist des Christenthums so oft noch ein Fremdes, Unverdauliches blieb, kochte eben derselbe ungeschulte Drang zur äußerlichen That im Blute, wenn sie auf Abenteuer ausritten. Jene und diese wurden bestimmt von der Idee des Ruhmes; der Ruhm aber ist eine ganz unchristliche und eine ganz unphilosophische Idee. Für uns ist durch das Eindringen in den Geist des Christenthums, oder, wenn Sie wollen durch die Wendung, welche der Gedanke der neuen Zeit genommen hat, wobei aber immer eingeräumt werden muß, daß christliche Denker ihm den Anstoß zu dieser Wendung gegeben, die Sache durchaus umgekehrt. Die Arbeit, welche sich ehemals in den Makrokosmus hinaus-, hat sich jetzt in den Mikrokosmus hineinzuwenden und die Spitze und Schärfe unserer Thatkraft sich gegen die Regionen in unserm eigenen Innern zu richten, wo es noch Ungethüme zu bewältigen gibt, wo wir Ritterschaft üben können, indem wir unsere eigenen Leidenschaften niederrennen. Der Ruhm fällt damit fort, denn er heftet sich nur an Das, was mit Händen zu greifen ist, oder was nach außen hin in weiten Kreisen Bedeutung gewinnt; die Erreichung des schönsten Ziels, nämlich der vollendeten Ausbildung des eigenen Geistes und Wesens und ganzen Seins zu einer harmonischen, in sich selbst mit der höchsten Befriedigung beruhenden, wie künstlerisch aus dem gegebenen Stoff der Naturwüchsigkeit und rohen Ursprünglichkeit herausgearbeiteten schönen Erscheinung – die Erreichung dieses höchsten menschlichen Zieles bleibt ja immer ohne Ruhm. Aber der Ruhm ist uns nicht genommen, um uns in der Demuth zu erhalten, wie es scheinen könnte, nein, es ist der stolzeste Gedanke, den der Mensch gehabt hat, den Ruhm so zurückzuweisen, wie der Geist des Christenthums es thut. Indem es die Stimme der Menge für nichtig erklärt und uns auf unser Bewußtsein hinweist, erlaubt, ja heißt es uns, unser eigenes Urtheil höher zu schätzen, als das einer ganzen Nation, einer ganzen Welt, und uns an dem Lobe, das wir selbst uns geben können, mehr zu weiden, als an dem Jubelzuruf einer begeisterten Menge oder ganzer Geschlechter der Zukunft.

Aber die Unfreiheit, der Zwang, versetzte Paul, den wir überall die Entwicklungen der einzelnen Schicksale hemmen sehen, sollte er nicht bloß durch die Unthätigkeit der Gezwungenen, die dann zur Unthat wird, so kühn und stark gemacht geworden sein, wie es unsere Zeit plötzlich empört zu fühlen scheint? Sollte für uns mithin nicht eine Zeit gekommen sein, wo eben die Pflicht zur That ruft?

Es ist wol möglich, sagte Alfieri, aber mißlich, es auszusprechen. Ob zum Beispiel diese That der Staatsumwälzung in Frankreich eine Pflicht des Volkes ist oder nicht, wer kann es ruhig und sicher entscheiden? So viel weiß ich, daß von allen Pflichterfüllungen eine solche mir die schwerste würde. Käme ich, begeistert von einem neuen Glauben, als Apostel zu einem Volke, es würde mir schwer, seine alten Tempel umzustürzen; ging ich als ein Prophet des Christenthums durch das Morgenland, es würde mir schwer, den schwarzen Stein aus der Kaaba zu Mekka zu zertrümmern, als wäre es ein Frevel gegen die Andacht der Hunderttausende, die hier Trost gefunden. Jede tiefere und bessere Natur kann nicht leicht die Pietät abstreifen, welche sie fühlt gegen das von den Vätern her Ererbte, gegen das einmal, und wenn auch nur durch ein allgemeines Vorurtheil noch, Geheiligte, gegen das von der Poesie vergangener Zeiten Durchdrungene. Deshalb sieht man bei allen Umwälzungen und Neuerungen nicht diese Naturen, sondern die leichtsinnigern an der Spitze der Bewegung. Das ist für den Fortschritt ein gewichtiges Hemmniß. Denn gerade dadurch bekommt eine im Interesse des Fortschritts unternommene Bewegung so oft gleich von vorn herein die verkehrte Richtung und etwas Despektierliches in den Augen gewiegter Männer, deren Autorität und Hülfe nöthig wäre. Kann man dem großen Haufen zumuthen, daß er die Person von der Sache trenne, da sich Personen und Sachen ja in der Wirklichkeit auch so selten trennen? Ich, für meinen Theil, halte die Freiheit für den Lebensäther der Seele; aber wie tief hat es mich jedesmal gekränkt, wenn ich sah, daß man mich für einen Anhänger dieser über Frankreich hereinbrechenden Freiheit hielt, weil ich auf den Sturz der Bastille eine Ode geschrieben und in prosaischen Schriften, wie in meinem Aufsatze »Von der Tyrannei« und in dem Versuche »Das freie Amerika« für die Freiheit gesprochen habe. Um nicht länger von irgend Jemandem in den wüsten Chor der Verbrecher gezählt zu werden, die ihre Freiheit in das Leichenhemd der Humanität kleiden und um dies Scheusal wie blutberauschte Thyrsusschwinger ihre bacchantinischen Tänze halten, bin ich entschlossen, in einem Buche: »Der Franzosenfeind« Alles auszusprechen, was ich seit meinem ersten Jahre gegen diese falsche und verrätherische Nation auf dem Herzen gehabt habe.

Der Bediente kam und brachte Licht. Die Gräfin Albany verließ das Zimmer und Alfieri ging, um, wie er sagte, etwas zu holen, das er vorlesen wollte. Louise schob zwei Stühle zusammen, um ihr Gewinde, mit dessen Entwirrung sie zu Ende gekommen, aufzuwickeln. Paul nahm es ihr und legte es über seine Hände, um es ihr zu halten.

Ich habe es so oft Ihrer Mutter gehalten, sagte er, und obwol es damals nicht zu meinen Passionen gehörte, könnte es doch sein, daß ich ihm jetzt Interesse abgewänne; es ist eine Situation, die etwas Allegorisches hat: wir armen Männer strecken voll Sehnsucht, Geduld und Liebe nach den Frauen die Arme aus, und sie gebrauchen diese Arme, indem sie ruhig lächelnd Garn zu ihrem Strickzeug davon abwickeln!

Ueber Manuels Gesicht glitt ein Ausdruck von Bitterkeit und Hohn. Er zog sich in eine Fensternische zurück und betrachtete, die Stirn an die Scheiben lehnend, den umdunkelten Himmel draußen.

Louise war fertig; Paul küßte ihr die Hand. Hatte Manuel diesen Kuß gehört und vielleicht geglaubt, Paul habe die unbeobachtete Situation, welche ihn in Louisens Nähe gebracht, zu einem Zeichen größerer Vertraulichkeit benutzt, als dieser unschuldige Handkuß war. Wahrscheinlich; wie wäre sonst sein Betragen zu erklären gewesen? Er stürzte mit einer tigerartigen Wuth aus seinem Versteck hervor, stand nach einem Satze neben dem Tische, auf welchem die Lichter brannten, und der grimme entmenschte Ausdruck seiner Züge, die jetzt plötzlich grell beleuchtet wurden, preßte Louisen einen Schrei des Schreckens aus. Im nächsten Augenblicke flog einer der schweren silbernen Leuchter mit dem Fußende und mit solcher Gewalt an Pauls Schädel, daß dieser zu Boden sank, wo ein Strom von Blut aus einer großen Wunde über den Teppich floß. Paul fühlte, daß Bewußtlosigkeit in ihm mit der Besinnung kämpfe; doch gelang es ihm, trotz der Wirbel und Kreise, die es schwindelnd um ihn beschrieb, die letztere festzuhalten, und mit Hülfe eines Stuhles, der dicht bei ihm stand und auf den er den Arm legte, den Oberkörper wieder aufzurichten. Er sah, wie Louise sich mit der heftigsten Leidenschaft neben, über ihn niederwarf und mit dem Ausruf: O mein Gott! – stirb nicht, stirb nicht! – ihre Wange an seine Brust drückte, todtenbleich und ihre Augen schließend, als ob sie mit ihm sterben wolle.

Manuel stand einen Augenblick und schaute auf die Gruppe zu seinen Füßen nieder; dann schlug er beide Hände vor die Stirn und stürzte aus dem Zimmer. Die zugeworfene Thür schreckte Louisen wieder empor; sie stillte mit ihrem Tuche den Blutstrom, der aus Pauls Wunde rieselte. Der Lärm zog die übrigen Hausbewohner herbei. Die Gräfin nahm Louisen in ihre Arme und führte sie mit bekümmerter Miene, doch ohne nach der Ursache der Scene zu fragen, in ihre Zimmer. Paul wurde verbunden, so gut man es verstand; der Hausherr sandte einen berittenen Boten nach einem Arzte ab, und als dieser gekommen war und die Wunde sondiert hatte, erklärte er, sie sei bedenklich und vielleicht sogar eine Trepanation nöthig. Aber Pauls gesunde Natur spottete der Bedenklichkeit; durch Blutverlust geschwächt, mußte er zwar einige Tage das Bett hüten, aber die Heilung nahm einen raschen und über alle Erwartung günstigen Verlauf.

Manuel war gleich nach seiner That spurlos aus dem Umkreise des Gutes verschwunden. Alfieri befragte Paul nach dem Grunde von Manuels Aufwallung und Paul sprach sich offen darüber aus: er glaube, daß eine Leidenschaft Manuels zu Louisen einen Ausbruch von Eifersucht herbeigeführt habe, der ihm selber so fatal geworden. Es verfolgt ihn wirklich ein unerbittliches Schicksal, sagte er. Ich kann mir kein fürchterlicheres Gefühl denken, als das Bewußtsein, durch eigene Schuld den Gegenstand unserer Liebe zu einem verdammenden Urtheil über uns gezwungen und uns auf immer um seine Achtung gebracht zu haben. Armer Mönch!

Wenn man Sie mit Ihrem verbundenen, bepflasterten Kopfe so reden hört, sagte Alfieri lächelnd, sollte man wirklich an eine Dosis von Taubenhaftigkeit in Ihrem Herzen glauben, die selten bei Männern gefunden wird.

Weshalb? Bin ich nicht viel mehr gerächt, als ich es sein möchte? Manuel ist mir, was er mir früher war; ich bin besorgt um ihn, ich bemitleide ihn, ich möchte sein Schicksal lindern – aber sein Wesen berührt mich oft unangenehm und widrig.

Ein warmer Abend hatte die Gesellschaft der Martinsburg und auch Paul wieder um den runden Steintisch in dem Berceau draußen versammelt. Alfieri hatte ein Manuscript mitgebracht. Ich habe heute eine sonderbare Zusendung erhalten, sagte er; es ist ein Bruchstück aus dem Lebenslauf eines verdrießlichen alten Herrn, der, wie es scheint, auch seine noch unliebenswürdigern Seiten haben mag; das Paquet trug das Postzeichen Straßburg, scheint aber weiter herzukommen und war von dem folgenden anonymen Schreiben begleitet, welches offenbar die Hand eines Schreibers copiert hatte:

 

Herr Graf!

Ohne Sie zu kennen und ohne ein Urtheil über Ihr Talent zu haben, bin ich doch durch die Aussagen anderer Leute, denen ich in einem solchen Punkte Glauben beimessen darf, veranlaßt, anzunehmen, daß Sie der größte dramatische Dichter unserer Zeit sind. Man sagt mir, daß ihre Bücher in alle Zungen übersetzt und von den Liebhabern der Bühne in ganz Europa gelesen, von den Comödianten überall mit Erfolg dargestellt werden.

Die beigeschlossenen Blätter enthalten die Erzählung eines Ereignisses, welches ich in Stunden, worin ich nichts Besseres zu thun wußte, in dem Gedanken aufgezeichnet habe, es könnte Ihnen den Stoff zu einem Ihrer Stücke liefern. Ich gestehe gern, daß mir daran gelegen ist, Ihnen auf diese Weise zu dienen, kenne aber sowol Sie, Herr Graf, als auch Ihr Urtheil über meine Schrift zu wenig, um darum bitten zu können. Genehmigen Sie die Versicherung meiner besondern Hochachtung.

Das ist Alles, fuhr Alfieri fort, nachdem er den Brief gelesen; man weiß nicht, ob es höflich oder grob ist. Das Manuscript selber aber lautet also: (Der Graf las die folgende Erzählung.)

Das Waidmesser.

Indem ich hier die Erzählung der Begebenheiten aufschreibe, welche meiner Ansicht von Welt und Menschen ihr festes Gepräge und meinem Charakter seine bestimmte Richtung gegeben hat, ist es mir durchaus nicht darum zu thun, sie romantisch und auf Kosten der Wahrheit mit schönen Worten auszuschmücken; ich schildere. Das, was ich erlebte, mit der einfachen und vielleicht derben Rücksichtslosigkeit, welche bei einem unabhängigen und von der Welt abgeschieden lebenden Edelmanne nicht befremden wird.

Von meinem Vater mit einer unerbittlichen Strenge auferzogen und als erwachsener Mensch noch wie ein Knabe behandelt, über welchen jeden Augenblick Züchtigungen verhängt werden konnten, die aufs Tiefste in mein reizbares Ehrgefühl schnitten, segnete ich den Tag und die Stunde, in welcher es mir zum erstenmale erlaubt wurde, das alte und düstere Schloß meiner Ahnen zu verlassen. Ich sollte meine Ausbildung an einem kleinen Hofe in Mitteldeutschland vollenden. Ich stand im zweiundzwanzigsten Jahre, war groß und stark, und, wenn der kecke Muth und die lebensfrische Thatkraft, welche mich erfüllten, sich in meinem Aeußern spiegelten, so mochte ich immerhin eine stattliche und einnehmende Figur bilden, als ich auf einem großen Rappen von edler Zucht an einem schönen Herbstmorgen den Hof der väterlichen Burg verließ. Einen Brief, der mich zum Jagdjunker in Reichsgräflich von P...schen Diensten ernannte, hatte ich in der Tasche.

Eine Reise von mehrern Tagen brachte mich an meinen Bestimmungsort, der Residenz des Hofes, bei dem ich angestellt werden sollte. Der regierende Reichsgraf war vor mehr als einem Jahre gestorben, ohne Söhne zu hinterlassen; für seine einzige Tochter hatte er jedoch vom Kaiser das Versprechen auszuwirken gewußt, daß sie in dem Besitzthume ihrer Familie, einem Mannlehen, belassen werden solle, falls sie eine ebenbürtige Ehe eingehe, so daß ihrem Manne die Belehnung ertheilt werden könne. Dagegen hatte der alte Graf sich umsonst bemüht, bei seinen Lebzeiten seine Tochter eine solche Ehe schließen zu sehen. Sie hatte alle ihre Freier abgewiesen und war standhaft geblieben. Ihre Mutter und deren Bruder, den man Landesverweser hieß, führten nun zusammen die Vormundschaft und Verwaltung des kleinen Territoriums der P...schen Lande. Die regierende Gräfin war eine kluge und scharfe Frau, mit einem Alles beobachtenden Auge, die einem Andern nicht leicht etwas durch die Finger ansah, obwol sie selbst voller Widersprüche und Wunderlichkeiten stack. Als ich ankam, befand sie sich noch in tiefer Trauer: ihre Zimmer waren schwarz ausgeschlagen, die silbernen Bestecke ihrer Tafel waren gegen andere aus blau angelaufenem Stahl vertauscht, ihr weißer Bologneser hatte für die Trauerzeit einem schwarzen bissigen Windspiel weichen müssen, und ebenso war ihr alter Kammerdiener entlassen, um einem spitzbübischen Laquaien Platz zu machen, der an seine Stelle trat, weil er von der Natur in die Farbe der Trauer gekleidet – weil er ein Mohr war. Auch durfte Niemand zu ihr kommen, der nicht in vollständigem Traueranzuge gewesen wäre, so daß sich die ärmern Unterthanen ganz von den Audienzen der Landesmutter ausgeschlossen sahen. Die Hauptzüge ihres Charakters waren Stolz und Abgemessenheit im Denken und Thun, wie sie auch die Etiquette an ihrem Hofe aufs Strengste aufrecht erhielt. Der Stolz hatte sich bei ihr zu der ganzen lächerlichen Abenteuerlichkeit ausgebildet, welche er nur bei Weibern, obwol er diesen gerade am schlechtesten steht, anzunehmen pflegt. Ihre Speisen durften nur in verdeckten Schüsseln aufgetragen werden; sie wäre um Alles in der Welt nicht in einem Wagen mit nur zwei Pferden gefahren, und ein alter verdienter Rentbeamte, der schon lange nicht mehr in besonderer Gnade stand (weil er, in dem guten Glauben, es gezieme sich das, sobald ein Mann eine Dame begleite, vor der Frau Gräfin eine Treppe hinaufgegangen war), wurde um eines geringfügigen und lächerlichen Umstandes willen förmlich verabschiedet und pensioniert. Er hatte nämlich während eines Diners den Degen abgeschnallt, was gegen die Hofsitte war, und ihn zur Seite an seinen Stuhl gelehnt. Die Gräfin hob die Tafel früher auf, als er erwartete, und hastig nach seiner Degenkuppel greifend, die, ich weiß nicht durch welchen Zufall, sich durch die Lehne seines Stuhles geschlungen hatte, schnallte der alte und zerstreute Mann sich den Stuhl, der nun rasch mit ihm auffuhr, unter den Theil seines Körpers, der auf ihm geruht hatte, so daß sich nur auf dem feierlichen und indignierten Gesichte der Erlaucht allein keine Spuren eines gewaltsam unterdrückten Lachens zeigten, als der Stuhl mit dem Rentmeister wie ein integrierender Theil desselben eine tiefe Verbeugung machte.

Der Landesverweser dagegen war ein lebenslustiger, jovialer Mann, der fünf eine grade Zahl sein ließ. Er war, wie diese kleinen regierenden Herren alle sind, gutmüthig, schwach, eitel, kindisch, beschränkt, voller Vorurtheile und stolz auf eine eingebildete große Menschenkenntniß und Welterfahrung, die sie entweder gar nicht oder doch nur nach außen hin besitzen, ohne daß ihre Stellung ihnen erlaubt hätte, je ergründende Blicke in das tiefinnerste Leben der Menschenseele zu werfen. Das Urtheil, welches er von Jemandem im ersten Augenblicke fällte, blieb bei ihm für immer in Rechtskraft; war er in seltenen Fällen durch die Evidenz genöthigt, es zu ändern, dann war ihm Der, welcher schlechter, als er geglaubt, fast lieber denn Der, welcher besser. Bei Jenem konnte er sich damit trösten, daß er aus eigener Herzensgüte und Arglosigkeit das Schlechte nicht vorausgesetzt. Der Letztere blieb ihm ein fortwährender Beweis, daß seine Menschenkenntniß einmal gehinkt habe, ohne daß er eine Ausrede für sich selber wußte. Daher kam es, daß ihm oft ganz tüchtige Leute unter seinen Beamten fatal waren. Auch war er zum Jähzorn geneigt und ließ sich dadurch mitunter zu Handlungen hinreißen, welche ihm höchst verdrießliche Mandate vom Reichshofrath zu Wege brachten.

Zu den bemerkenswerthen Charakteren am Hofe gehörten noch zwei Stamm- und Lehnsvettern des Oheims, zwei nachgeborene Söhne aus einer vornehmen, aber in ihren Verhältnissen sehr zerrütteten Familie: Graf Osmund und Graf Ludolph von W. Dem oberflächlichsten Beobachter konnte es nicht entgehen, daß sie sich Beide um die Hand der jungen Gräfin bewarben; ebenso wenig aber auch, daß ihnen wenig Hoffnungen gegeben wurden. Und dies war freilich kein Wunder. Ich habe in meinem Leben nicht wieder zwei so verkniffene Galgenphysiognomien gesehen, als die der beiden Freier waren; sie mußten Jedem auffallen, obwol es streitig bleiben konnte, in welchem Gesichte mehr der Schelm und in welchem mehr der gewaltthätige Raufbold sich ausgeprägt hatte. Sie waren aller Welt verhaßt, selbst die alte Gräfin schien sie nicht gern zu sehen und nur der Landverweser war blind gegen sie; doch schien er den ältern, Osmund, vorzuziehen und hauptsächlich für ihn die Hand seiner Nichte und ihre Besitzthümer bestimmt zu haben.

Von dieser Letztern, der jungen Gräfin Eleonore, habe ich aufgeschoben zu reden, weil ich länger bei ihr verweilen werde. Es ist nie mehr und wird auch nie wieder etwas in mein Leben treten, das einen solchen Eindruck mich gemacht hätte, als die Erscheinung dieses Weibes. Ich habe später noch einmal geliebt; aber es war ein Genuß, wie ein Trunk lauwarmer Milch nach jenem Berauschtsein in gekochtem Xeres, welches ich aus dem Becher meiner ersten heißen Leidenschaft eingesogen. Ich will vom Weibe keine Elasticität, keine schwache, weinerliche Hingabe; es soll stark sein, ich will mit ihm ringen.

Als ich sie zum erstenmale sah, stand ich wie an den Boden geheftet, die Arme unterschlagend, meine Seele nur noch in meinen Augen und in dem Pochen meines Herzens fühlend. Sie sprach einige Worte zu mir. Ich war nicht in der Fassung, sie zu verstehen oder zu antworten.

So blöde, oder so taub, stummer Ritter? fuhr sie fort.

Keines von Beiden, versetzte ich; aber erschrocken, zum erstenmale in meinem Leben.

Ein höchst verbindliches Compliment, das muß ich gestehen! sagte sie lächelnd und wendete mir den Rücken. Ich sah, daß fiel trotzdem nicht ungehalten darüber war.

Einige Tage nachher war ein großes Treibjagen, dem die Herrschaft, mit Ausnahme der alten Gräfin, beiwohnte. Ich war – zum erstenmale in meiner Junkeruniform und in Function, und als junger Mensch eitel darauf – im Gefolge. Als ich beim zweiten Trieb, der im Walde stattfand, angestellt war, sah ich, daß die Gräfin Eleonore meine Nachbarin geworden. Während man erst einzelne Fanfaren der Jäger in weitester Ferne, von dem Lärm der Treiber aber noch nichts vernahm, und es noch lange währen konnte, bis sich ein Wild näherte, verließ ich den Stand, den man mir angewiesen, und schlich sacht hinter eine junge Tanne, welche mich, obwol ich meiner Nachbarin nahe war, doch ganz vor ihren Blicken schützte. Hier stemmte ich die Arme auf die Läufe meines Gewehrs und lugte durch die Nadeln der Zweige vor mir unverwandt die Gräfin an. Sie stand, im Jagdkostüm, das sich knapp um ihren, wie eine griechische Statue schlanken Gliederbau legte und ihre vollen und anmuthigen Formen zeigte, an den moosigen Stamm einer Eiche gelehnt; ihre wie Elfenbein weiße Stirn hatte einen sinnenden Ausdruck; ohne sich abzuwenden, blickte sie auf das Gebüsch vor ihr, und doch lag auf ihrem regelmäßigen und edeln Profil eine so erhabene Schönheit, daß man unmöglich annehmen konnte, die Gedanken dieses herrlichen, von dunkeln Locken umflossenen Kopfes seien nur mit dem Wilde beschäftigt, welches im nächsten Augenblicke aus dem Gebüsche brechen konnte. Wer jedenfalls am wenigsten sich damit beschäftigte, war ich; ich hatte nur Auge für das Bild vor mir, denn wie ein Bild regungslos stand sie da, und selbst der volle und durchdringende Blick ihres Auges wurde nie durch ein Zucken der Wimpern gebrochen – was das Zeichen eines starken und klaren Charakters ist. Das üppige Laubwerk des Waldes umrahmte sie, im leisen Luftzuge sich wiegend, flüsternd und, je nachdem der Wind die Blätter bewegte, mit den irren Lichtern der Sonnenstrahlen spielend.

Unterdeß wurde der Lärm der Treiber hörbar; ich hörte ihn nicht. Von den Schützen an den äußersten Enden unserer Reihe, wo das Wild immer zuerst durchzubrechen sucht, geschahen einzelne Schüsse; ich war taub für sie. Endlich hörte ich von meinem Nachbar zur andern Seite mit gedämpfter Stimme meinen Namen rufen. Auf meinen Stand zurückeilend, sah ich, wie gerade dort ein alter Fuchs, geduckt und schlangenartig unter dem Farrenkraut und den Brombeerstauden fortkriechend, sich so eben durchgeschlichen hatte und im nächsten Augenblicke, ehe ich anschlagen konnte, im Gebüsch verschwunden war.

Als der Trieb beendet und um die zusammengebrachte, eroberte Beute das Jagdgefolge sich versammelt hatte, kam der Fuchs zur Sprache und nicht minder die Frage, wer ihn durchgelassen habe? Graf Osmund war es, der seinem Oheim mich als Schuldigen nannte, und zwar, weil ich – wie er von meinem Nachbar erfahren – meinen Stand verlassen hatte.

Das war nun eine arge Verletzung der Jagdgesetze, und der Landesverweser erkannte mir dafür die Strafe des Waidmessers zu. Ich sollte über ein getödtetes Edelwild gelegt, unter dem Hallohgeschrei des Gefolges und den Fanfaren des Jägerchors drei feierliche Hiebe von dem Forstmeister empfangen, und zwar, nach der altherkömmlichen Waldetiquette, »den ersten für den Erlauchteten Grafen und Herrn, – den zweiten für Ritter, Knappen und Knecht, – den dritten fürs edle Jägerrecht!« An und für sich soll, nach den ausdrücklichen Worten jedes Jagdcodex, diese gothische und ungeschlachte Manier, gebildete Leute zu behandeln, nichts Entehrendes haben. Trotzdem wünschte ich in jenem Augenblicke von ganzer Seele, daß sich vor uns die Erde öffnen, um zuerst den Angeber, die grinsende Figur des Grafen Osmund, und darauf den ganzen Troß obendrein zu verschlingen. Ich wollte nun und nimmermehr eine solche Züchtigung dulden, der ich mich jetzt endlich ein- für allemal entwachsen wähnte; der Gedanke daran machte mich rasend. Hatte ich mich deshalb so froh und leicht gefühlt, als ich meines Vaters altes Castell hinter mir wußte? Und nun heute, bei meinem ersten Dienstantritt, – heute, unter Eleonorens Augen, – um eines lausigen Fuchses willen!...

Ich will nicht! sagte ich laut und die Zähne zusammenbeißend.

Man will nicht? fuhr der Landesverweser mich zornig an. Herr, wenn Sie meinen Befehlen nicht gehorchen wollen, dann gehen Sie!

Oheim! unterbrach ihn die junge Gräfin, die bis jetzt, dem Anschein nach, theilnahmlos dagestanden, aber, wie mir schien, verstohlen den Ausdruck meiner Züge beobachtet hatte. Sie winkte mich zu sich und trat zur Seite.

Herr von D., sagte sie dann, von den Uebrigen abgewendet und flüsternd, während Graf Osmund uns scharf im Auge behielt, der Umstand, daß Sie als Fremder allerdings mehr Gewicht auf die kindische Ceremonie legen müssen, als ein daran Gewöhnter thun würde, und daß Sie, dadurch veranlaßt, im Begriffe stehen, nicht sich allein, sondern ihrer Familie einen großen Verdruß zuzuziehen, flößt mir ein gewisses Mitleid mit Ihnen ein. Um Sie zu beruhigen, will ich selbst das Waidmesser austheilen, wie es in der Ordnung ist, da Sie es verlangen können, sobald eine Dame sich dem Jagdzuge angeschlossen hat.

Ein entschiedenes Nein! schwebte mir auf den Lippen; aber da ich einsah, daß ich dadurch ganz das Ansehen eines eigensinnigen Knaben bekommen würde, und auch zu fürchten begann, daß ich im Ernste genöthigt sein könnte, einen Dienst zu verlassen, der mich in ihre Nähe gebracht hatte, stotterte ich mit einer verlegenen Keckheit, welche mir alles Blut ins Gesicht jagte:

Dann unterwerfe ich mich freilich, aber nur, wenn sie die Gnade haben, mir die Schläge auf die linke Schulter zu ertheilen, und ich mir dabei denken darf, Sie schlügen mich also zu Ihrem Ritter!

Sie sah mich anfangs sehr überrascht, aber nicht beleidigt an, sondern wandte sich, indem sie mir lächelnd erwiderte: Denken können Sie freilich, was Sie wollen, zu ihrem Onkel, um ihm zu sagen, auf welche Bedingung hin sie mich zur Unterwerfung gebracht. Die Vettern betheuerten nun zwar, das sei gegen alles Herkommen, und wenn man an einem Jagdjunker die Jagdgesetze nicht mehr in Ausübung bringe, wer sich ihnen dann noch unterwerfen werde? – Der Oheim aber, der anfangs unentschlüssig war, zog sich mit einer Galanterie gegen seine Nichte aus der Sache, und ohne weiter auf jene zu hören, kniete ich vor Eleonoren nieder, empfing die Schläge und erhob mich selig und froh in dem Gedanken, den sie mir erlaubt hatte und an dem ich aufs Ernsthafteste festhielt.

Auch Eleonore schien mir von diesem Augenblicke an das Bewußtsein zu haben, daß zwischen uns ein gewisser wechselseitiger Bezug stattfinde, obwol ich anfangs freilich dies Bewußtsein nur aus ihren Blicken lesen konnte, die oft ernst und groß auf mir ruhten. Nur selten, wenn ich in ihre Nähe kam, richtete sie das Gespräch an mich, und dann mit einer Neckerei, die aber nicht immer gerieth, sondern oft eine Art Befangenheit zeigte, so daß sie zuweilen mitten in einem an »den Ritter mit dem Fuchs«, wie sie mich nannte, gerichteten Scherz stecken blieb. Der Reichsgräfin sogar fiel dies einmal auf, und mit einem Gesichte, das halb Verwunderung, halb Mißbilligung ausdrückte, sagte sie:

Dein Witz ist in der Mauserung, Kind; er hat seine Stimme verloren, obwol er sonst ein lauter Vogel war. – Eleonore wurde roth und von nun an schweigsamer gegen mich und, wie es mir schien, überhaupt, obwol sie im Ganzen von lebendigem und feurigem Geiste war, der sehr der Mittheilung bedurfte und hierin sowol, wie in jeder andern Beziehung, ziemlich sich gehen zu lassen gewöhnt war. Ihr Vater hatte ihr, als seinem einzigen Kinde, viel nachgesehen und auch gegen die strengere Mutter Schutz gewährt; er hatte ihrer Erziehung eine etwas männliche Richtung gegeben, und so kam es, daß sie einen unabhängigen, muthigen und offenen Charakter bekommen – offen auch für eine tiefe und ächte Leidenschaft, die über die Brücke eines reizbaren Temperaments ihren Einzug bei ihr halten konnte. Unterdeß, während ich, von einer hoffnungslosen innern Leerheit gepeinigt, mich umhertrieb, bei meinen Bekannten Besuche machte, um brütend in einem Winkel zu sitzen, auf den Feldern umherlief, um auf jedes Wild mit dem hartnäckigsten Unglück fehl zu schießen – mit der Ausnahme, daß ich einst einem armen Treiber eine volle Ladung Schrot in den Schenkel schoß – blieb es mir nicht verborgen, daß ich Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit für die Reichsgräfliche Familie geworden, und zwar, glaube ich, nicht gerade der wohlwollendsten. Der Graf Osmund schien sogar bestrebt zu sein, sich an mir zu reiben; der Oheim sagte mir eines Tages, er werde allernächstens genöthigt sein, eine bedeutende Reduction des bestehenden Jagdpersonals vorzunehmen, und die alte Gräfin sagte mir gar nichts mehr.

So ein verliebter Träumer ich nun auch geworden, blieb mir doch nicht verborgen, daß ich nichts Besseres thun könne, als einen Hof verlassen, an welchem man mir zeigte, wie wenig man meiner weitern Dienste bedürftig sei. Aber ich war von einem Zauber befangen, der mich an diesen Ort bannte, und konnte nicht zum Entschlusse kommen. Und dann diese schnelle Rückkehr, – wie würde man sie daheim ausgelegt haben? Diese Rückkehr in das düstere Castell eines tyrannischen Vaters – nein, das Scheiden wurde mir zu schwer; ich verschob es von einer Woche auf die andere; jeden Morgen war ich entschlossen, abzureisen, und jeden Abend, wenn ich im Laufe des Tages Eleonoren gesehen, wenn ich einige nichtssagende Worte mit ihr gewechselt hatte, war ich entschlossen, der Unfreundlichkeit aller alten Reichsgräfinnen und regierenden Oheime in der Welt zu trotzen.

Weshalb ich der Gegenstand eines solchen Mißbeliebens geworden, weiß ich nicht, da ich nicht glaube, mein Gefühl durch unvorsichtige Aeußerungen verrathen zu haben; vielleicht trug Eleonorens Betragen bei jener Jagd und dem Ritterschlage, von dem ich eben erzählte, die Schuld, vielleicht auch nur eine vage Eifersucht des Grafen Osmund, der von Tag zu Tag schlechter von dem Gegenstande seiner Wünsche behandelt wurde. Ich selbst war sogar mitunter Zeuge der Herbheit, womit die aufdringliche Courtoisie dieses Menschen erwidert wurde, und es schien mir, als ob Eleonore dann eine Art innerer Befriedigung empfinde, ja einer gewissen Leidenschaftlichkeit mit Vergnügen Luft mache, wenn sie recht schroff und verletzend ihren Anbeter zurückweisen konnte. Sie mußte hierin einmal sogar so weit gegangen sein, daß eine Scene entstanden, die, von ihr und dem Grafen Osmund begonnen, sich zwischen der Gräfin, ihrer Mutter, und dem Landesverweser fortgesetzt hatte und die, wie ich hörte, mit den Worten der Mutter geendet worden war: sie werde nie dulden, daß den Neigungen ihrer Tochter so rücksichtslos Gewalt angethan werde, wie man sich zu schmeicheln scheine, thun zu dürfen.

Damit war denn eigentlich den Prätendenten auf die Reichsgrafschaft alle Hoffnung abgeschnitten, und ich schmeichelte mir demnach, sie beide zusammen eines schönen Morgens aus dem Thore der Residenz abziehen zu sehen, um in einer andern Sphäre den Zauber ihrer Erscheinung aufgehen zu lassen; aber sie schienen entschlossen, ihre Pläne mit einer Hartnäckigkeit zu verfolgen, die, wie ich bald erfuhr, noch Größeres wagte, als den passiven Trotz der Unverschämtheit.

Ich fuhr fort, dem Gegenstande meiner Leidenschaft eine Verehrung zu widmen, der einen offenen und beredten Ausdruck zu geben ich von Tag zu Tag entschlossener wurde, um, wenn auch hoffnungslos, doch mit der Befriedigung scheiden zu können, mir einmal die Last, die mich niederdrückte, von der Leber weggesprochen zu haben. Aber so oft ich Eleonoren sah, wandelte mich die Verwirrung an, die Jeder kennt, der geliebt hat, und dann schien mir auch, als ob sie geflissentlich mir gegenüber immer einen heitern und scherzhaften Ton anzunehmen suche und jedes Gespräch scheue, das durch ernstere Wendung Veranlassung zu einem endlichen Mittheilen von Gefühlen und tiefern Gedanken werden könne.

War sie vielleicht ihrer selbst nicht gewiß und sicher? Fürchtete sie, in den Ernst hineinzugerathen, der eine Indiscretion der eigenen Zunge, des eigenen Herzens hätte herbeiziehen können?

Diese Fragen stellten sich mir als kühnste Endpunkte und am weitesten vorgeschobene Spitzen an eine Reihe von andern frohen und kühnen Gedanken – eines Tages, als ich über die vagesten Pläne brütend in meinem Zimmer saß. In meiner bisherigen Wohnung wurde eine bauliche Veränderung vorgenommen; unterdeß hatte ich ein paar Mansardenzimmer beziehen müssen, und hier, an jenem Tage, wurde mir eine Ueberraschung, die ich nur mit der des babylonischen Königs Belsazar vergleichen kann, als er die Hand eines unsichtbaren Armes an der Wand seines Gemaches erscheinen und Schriftzüge mysteriösen und schrecklichen Inhalts darauf einzeichnen sah. Ich hörte nämlich ein Geräusch, das wie in der Wand meines Zimmers laut wurde, sah auf und erblickte – eine geballte Hand, die durch einen kraftvollen Stoß die Mauer, wie mir schien, durchbrochen und die Tapete zerrissen hatte und dann hastig zurückgezogen wurde. Statt ihrer wurde im nächsten Augenblicke eine weiße Taube in mein Zimmer geschoben, die ängstlich flatternd einmal im Kreise umher und dann gegen die Scheiben des Fensters fuhr. Sie schien unter ihrem Flügel etwas Glänzendes zu tragen. Durch ein übergeworfenes Tuch fing ich sie leicht, und in der That, sie trug an einer rothseidenen Schnur, die um eines der Flügelgelenke geknüpft war, ein Bijou, und dies war nichts Anderes als ein aus Silber gearbeitetes, sehr hübsches kleines Waidmesser, das in einer rothsammetnen Miniaturscheide stak. Als ich es aus dieser Scheide zog, fand ich auf der Klinge die Figur einer Dame geätzt, welche einem vor ihr knienden jungen Manne in Rüstung den Ritterschlag ertheilt.

Ich habe eben die Hand, welche mir dies Geschenk sendete und noch dazu eine so bedeutungsvolle Botin gebrauchte, wegen ihres plötzlichen und im ersten Augenblick mir unerklärlichen Auftauchens aus meiner Wand mit jener verglichen, welche die Gäste der babylonischen Königsburg überraschte. Die Wirkung beider Erscheinungen war freilich eine schnurstracks entgegengesetzte, denn während die letztere einen lauten Jubel in das Schweigen der ängstlichsten Bestürzung verwandelte, verkehrte jene eine still an mir zehrende Leidenschaft in den lauten Jubel der Berauschung – ja, wenn es auch nur ein Spott sein sollte, so war es doch eine gutmüthige und harmlose Neckerei, welche mir bewies, daß ich der Mühe werth gehalten worden, eine so geschmackvolle und nicht leicht auszuführende Neckerei gegen mich zu richten. Nachdem ich mich von der ersten Ueberraschung erholt, eilte ich hinaus, um vielleicht noch ihren Urheber zu sehen und zu untersuchen, wie man sie bewerkstelligt habe. Jenes gelang mir nicht, aber in dem benachbarten Raume sah ich, wie die Mauer, die schadhaft und baufällig, einen großen Riß hatte, der im Innern meines Zimmers durch die Tapete verdeckt war. Man hatte also diese nur durchzustoßen brauchen, um die Taube in meine Arche zu senden, welche für mich eine so frohe Botin der Verheißung war, wie jene, die den neu grünenden Oelzweig trug.

Natürlich wurde nun in mir das brennendste Verlangen rege, Eleonoren zu sehen, ihr zu sagen, wie ihr Scherz mich gefreut – denn welcher Zweifel konnte sein, daß er von ihr ausgegangen? Aber es konnten, nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge, Tage darüber hingehen, ehe eine Gelegenheit kam, wo ich sie hätte ohne Zeugen sprechen können. Als ich verzweifelt darüber mich umhertrieb und einen Plan nach dem andern entwarf, der mich eher sollte zum Ziele führen und immer unausführlicher als der vorige war, begegnete mir in einer zum Schlosse führenden Allee eine Zofe, die ich in der Umgebung Leonorens gesehen; sie trug ein Päckchen Sachen, in ein Tuch zusammengeschlagen, und schlüpfte eilig die Baumreihe entlang. Als ich sie erreicht hatte, blieb sie stehen und sagte halb schmollend, halb verschmitzt lächelnd:

Da sehen der junge Herr Baron, was man Alles für ihn thun muß, laufen und schleppen, daß Einem der Athem ausgeht!

Für mich? Sie hat doch für mich nichts zu tragen?

O, alles Mögliche! Wäsche, warme Decken, Suppen, Wein, Geld und – was weiß ich Alles!

Nun, hört Sie, das ist räthselhaft. Was hab' ich denn damit zu schaffen?

Freilich nichts Anderes, als daß just der Herr Baron Einem so viel zu schaffen macht; der schießt den armen Leuten den Schrot in die Schenkel und unsereins muß dann laufen, bis sie curiert sind.

So, nun versteh' ich Dich! Du bringst das dem armen Schelm von Treiber. Und Deine Herrschaft schickt Dich?

Ja, die junge Gräfin; und des Abends geht sie mitunter selber noch nach der Hütte, denn bei Tage duldet's die alte Frau Gräfin nicht, daß sie zu den armen Leuten geht.

Und geht sie heute?

Ich glaube schon; in der Dämmerung. Gott behüte!

Sie eilte mit ihrer Bürde weiter, indem sie ein paar Mal nach mir umschaute, mit jenem Zofenlächeln, dessen vertrauliche Verschmitztheit in der Antichambre so in den Harnisch bringen kann.

Was ist natürlicher, als daß ich in der Abenddämmerung desselben Tages auf dem Wege zu der Hütte des armen Treibers war, den meine Unvorsichtigkeit, oder vielmehr ein tückischer Streich des Zufalls, aufs Krankenlager geworfen hatte? und was ferner natürlicher, als daß ich die Dämmerung nicht abwarten konnte und schon viel früher, als Eleonorens Erscheinen zu erwarten war, drei- bis viermal an der Thür des niedern, mit Stroh und Reisig bedeckten Häuschens stand? Die Hütte des Treibers lag auf einer grünen Wiesenfläche an einem Bache, der an der einen Seite der kleinen Aue unter hohen Waldbäumen hervorkam und, sacht weiter rieselnd, bald an der andern Seite wieder im Dunkel des Gehölzes verschwand; denn rings umher zog sich eine ausgedehnte, nur von wenigen Holzwegen durchschnittene Waldung, die sich noch Stunden weit, jenseits der in der Mitte hindurchführenden Heerstraße, erstreckte.

Wenn ich erlauscht, daß die Gräfin noch nicht in der Hütte war, verschob ich jedesmal auch mein Eintreten und schlenderte in den Wald zurück. Ich hielt mich dann in der Nähe des Weges, der zum Schlosse führte, ohne ihn selbst zu betreten, da ich mich auch von Eleonoren nicht auf dem Harren betreten lassen wollte. An den Stamm einer Buche gelehnt, rings von dichtem Unterholz verborgen, blickte ich bald auf meine Uhr, bald durch das Geäst über mir, um zu spähen, ob noch kein Stern als Bote des Abends hindurch glänze. Da hörte ich Stimmen; verständlich nicht, aber – den Ton erkannte ich, und ich kann unmöglich schildern, welche Wuth der Ton dieser Stimmen, wie mit einem elektrischen Schlage, in mir aufflammen ließ; es waren die Grafen Osmund und Ludolph, die durch den Wald daher kamen und denen ein Diener folgte. Also auch sie hatten die Gänge Eleonorens belauscht, auch sie waren im Walde! Und was konnte sie zusammen dahin führen? Drohte Eleonoren von ihrer Seite Gefahr? Diese letztere Frage mußte sich mir noch beunruhigender aufdrängen, als sie in meiner nächsten Nähe still standen und Osmund sich zu dem Diener umwandte und sagte:

Du gehst hier links ab, dem Fußsteig nach, an der hohlen Linde findest Du den Wagen; halt den Postillon bei guter Laune; ich verlasse mich auf Dich, Bursche; da, nimm auch meine Pistolen und stelle die Cassette unter den Sitz im Fond.

Ganz wohl, Herr Graf, sagte der Bursche und bog einige Zweige zurück, um einen halb überwachsenen Waldpfad zu betreten, während seine beiden Gebieter ihren Weg der Hütte zu verfolgten.

Ich fand anfangs in wirren Gedanken; meine Seele ein Meer, worin Zorn, Rachlust und Freude und höhnische Verachtung dieser beiden Junker als Stürme durcheinander tobten. Sie führten etwas Schlimmes im Schilde, gewiß eine räuberische Entführung Eleonorens. Sie wollten sie zwingen, diesen Engel, einem dieser Unmenschen sich anfesseln zu lassen – und, o Gott! wie dankte ich dir – es war in meine Hand gegeben, sie zu retten. Aber das Wie? Eleonore kam des Weges dahergeschritten, nur von einer Kammerfrau begleitet. Ich hörte ihre helle, melodienreiche Stimme sorglos ein Lied singen, dessen Töne wie bunte Schmetterlinge um das vom Abendwinde geschaukelte und flüsternde Laub gaukelten. Sollte ich sie warnen? Dann wäre sie zurückgeflohen und vergebliches Warten wäre die einzige Strafe der zwei Frevler gewesen; aus »Familienrücksichten« hätte man daheim über die ganze Geschichte kein Wort fallen lassen dürfen. Nein, sie mußten ärger bestraft, beschämt werden. Sollte ich Hülfe vom Schlosse rufen, um sie auf der That ertappen zu lassen? Das Schloß war weit und unterdeß ich es erreichte, konnte längst der abscheuliche Plan ausgeführt sein; ich beschloß etwas Anderes; ich mußte ja auch Gewißheit haben, daß sie, was ich vermuthete, beabsichtigten, hätte ich jetzt einen Schritt gethan, sie hätten noch immer läugnen und mich als einen Rasenden behandeln können; auch war es gefährlich, ihnen in den Weg zu treten, zwei starken Männern, die ich zwar nicht fürchtete; aber doch hätte ich ihnen unterliegen können und Eleonorens Rettung hing von meinem Leben und meiner Kraft ab. Nein, ich wollte anders zwischen diesen Grafen Osmund und seine Beute treten, wie ein Schicksalsschlag, wie eine höhnische Ironie wollte ich über ihn kommen; Eleonoren ließ ich ruhig und ungewarnt ihren Weg fortsetzen; ich wollte sie entführen lassen – für mich!

Ich folgte dem Bedienten, den ich Andreas hatte nennen hören, und ging dem Orte zu, wo der Wagen stehen sollte und der mir bekannt war; er war kaum zehn Minuten entfernt; die hohle Linde stand an einem Hohlwege, der von dem Wiesengrunde, worauf die Hütte des kranken Treibers lag, quer durch den Wald nach der Heerstraße führte; rings umher wucherte junger Tannennachwuchs, der wie eine undurchdringliche Hecke an beiden Seiten des selten befahrenen und von Gras überwachsenen Weges aufgeschossen war. Als ich mich dem Orte näherte, sah ich über die grünen Spitzen der jungen Tannen das schwarze Verdeck einer Reisekalesche ragen; auch der gallonierte Hut und die Peitsche eines Postillons, der die letztere zum Zeitvertreib nun und dann durch einen kurzen Ruck der Hand um die Ohren seiner Pferde schnalzen ließ, ragte über dieselbe lebendige Mauer empor. Ich schlüpfte durch das Dickicht unbemerkt in den Fahrweg und sah vor mir den Bedienten neben dem Wagen stehen und sich an den Schlag lehnen, dem Postknecht zugewandt, der seine Aufmerksamkeit zwischen ihm und den Halsbewegungen zu theilen schien, welche seine Pferde machten, wenn er mit seinem Schnalzen ihre Ohren traf.

Ist denn die junge Gräfin in den Köhlerbuben verliebt, daß sie erst Abschied von ihm nimmt, wenn sie eine Reise macht? fragte der Postknecht.

Nicht so eigentlich, versetzte Andreas, indem er auf den Rücken seiner Hand eine Prise Tabak legte und sie bedächtig aufschnupfte, und doch so eigentlich, sollte ich sagen, denn sieh, Schwager, das ist ja gerade die Ursache, weshalb sie die Reise machen muß, sie mag wollen oder nicht, daß sie nur fortkommt; sie geht zu viel da hinunter.

Ach, geht weiter mit den Flausen; Ihr habt's Aufschneiden los! lachte der Wagenlenker –

Horcht einmal, da schleicht etwas!

Was wird's sein, versetzte der Kutscher, ein Wiesel oder Eichhorn!

Aber's wird Einem doch unheimlich zu Muthe bei der Dunkelheit, wenn man im Wald ist, murmelte Andreas.

Er hatte kaum diese Worte geendet, als ich plötzlich hinter dem Wagen hervortrat und ihm heftig auf die Schulter schlug.

Herr Gott, was ist's denn! rief er erschrocken aus – wer ist das – Sie, Herr Baron?! Das ist mir in die Glieder gefahren!

Ich befahl dem Burschen, mich einige Schritte seitwärts ins Gebüsch zu begleiten. Als wir weit genug waren, um von dem Postknecht weder gesehen, noch gehört werden zu können, sagte ich:

Andreas, glaubst Du, daß ich stärker bin, als Du?

Um Vieles, gnädiger Junker! versetzte er noch zitternd.

Glaubst Du, daß ich mir ein großes Gewissen daraus machen würde, Dir den Hals abzuschneiden, wenn ich das für zweckmäßig hielte, um die junge Gräfin zu retten?

Das weniger, als daß man resoluten Leuten so leicht nicht den Hals abschneidet! Wie kommen Sie mir vor, Herr von D.?!

Ich hatte mich bei dem Burschen verrechnet; er war keine Memme, Graf Osmund hatte sich einen entschlossenen Helfershelfer ausgesucht, der nicht vergaß, daß er zwei Pistolen bei sich trug, und einen gezogenen Kugellauf für den besten Trumpf auf meine Drohung zu halten schien. Aber während seine Rechte in die Brusttasche griff, fuhr ihm die Spitze meines Hirschfängers an die Gurgel.

Lieber Andreas, sagte ich, mit der andern Hand seinen Rockkragen erfassend, ich will Dir wohl; das magst Du daraus erkennen, daß ich, statt Dich gleich an einen dieser Bäume aufzuknüpfen, geduldig zuwarten will, bis er gefällt, behauen und bearbeitet auf irgend einem Anger im heiligen römischen Reich als Dreibein aufgestellt ist, und sich ein Anderer als ich der unangenehmen Bemühung mit Dir unterwindet. Aber muckst Du, so hört die Freundschaft auf und die Feindschaft beginnt mit einem Ruck an diesem Messer.

Der Bursche, den ich unterdeß an den Stamm, eines Baumes gedrängt hatte, so daß an kein Entgehen für ihn zu denken war, ließ zitternd beide Arme an seinem Leibe herunter hängen. Ich nahm ihm nun die Pistolen aus der Brusttasche und an einer den Hahn spannend und die Mündung auf meinen Gegner richtend, befahl ich ihm, seine Livree auszuziehen. Er gehorchte. Als er sie hastig abgeworfen hatte, band ich mit der Kuppel meines Hirschfängers seine Hände hinter seinem Rücken an einen jungen Birkenstamm.

Wenn Du schreist, sagte ich ihm, dann zerstörst Du allerdings vielleicht meinen Plan; aber Du kannst überzeugt sein, daß ich Dir das Hirn mit Deiner eignen Kugel einschieße. Und wenn das ein Doctor auch wieder zusammenkurierte, so kämst Du doch danach an den Galgen, weil Du die Gräfin hast entführen helfen wollen. Wohin wolltet Ihr?

Er schwieg verstockt; ein Tritt in die Seite gab ihm die Sprache wieder.

Nach R… sagte er mürrisch. Gut, und dann?

Nach S… dem Gut des Barons von L.

Der Baron von L. war ein Freund der beiden jungen Grafen. Doch befand er sich außer Landes und sein jetzt leer stehendes Schloß schien zum Schlupfwinkel bestimmt zu sein, wohin man die Beute führen wollte.

Ich hatte unterdeß rasch mich in die Livree des Gefesselten geworfen und nachdem ich ihm noch einmal meine Drohung eingeschärft hatte, für den Fall, daß er Lärm mache, ging ich zum Wagen zurück.

Was hat denn der Jagdjunker so lange mit Euch zu verhandeln gehabt hinter den Sträuchern? fragte der Postknecht, und wo ist er geblieben?

Ich wich diesen Fragen mit einem: ich glaube, die Herrschaften kommen! aus, und ging hinter dem Wagen eine Strecke des Weges auf und ab. Nach einer Weile von kaum zehn Minuten, kamen sie wirklich, zuerst Eleonore und Osmund; Graf Ludolph schlenderte hinter ihnen drein; aber die Kammerfrau war nicht bei ihnen; wie sie entfernt gehalten worden war, weiß ich nicht. Ich sprang an den Schlag und riß ihn auf; einige Schritte von mir blieb die Gräfin stehen.

Ist das der Wagen, den Sie für mich herbestellt haben, Graf Osmund? sagte sie mit einem Tone, der ein plötzliches Verzagtwerden verrieth; wenn es nicht schon so dunkel geworden, würde ich lieber gehen; aber in der That, das ist ja gar nicht mein Wagen, das ist eine Reisekalesche!

Es schien eine Ahnung dessen, was ihr bevorstehe, in ihr aufzugehen. Eine fürchterliche Angst ergriff sie.

Nein, nein, ich will nicht fahren, lassen Sie mich, rief sie, als Osmund den Arm nach ihr ausstreckte; o Gott, weshalb hab' ich nur mein Mädchen nach dem Arzt vorausschicken lassen, Graf Ludolph, das haben Sie gethan; um des Himmels willen, den Arm fort, Unverschämter!

Osmund hatte sie umfaßt und indem er seine linke Hand auf ihren Mund drückte, warf er sie leicht wie ein Kind in den Wagen, sprang ihr nach und rief laut: Andreas fort!

Ich warf den Schlag zu, sprang neben den Schwager und der Wagen rollte dahin, so rasch, wie zwei gepeitschte Postklepper über den holperigen Hohlweg ihn fortzuziehen vermochten. Ludolph blieb zurück.

Wenn je etwas einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat, so ist es diese Fahrt durch den fast schon nächtlich dunklen Wald gewesen; er ist frisch in mir geblieben, wie der Eindruck eines gestern erst vorgefallenen Ereignisses; es ist mir wenn ich mich lebendig in jene Situation zurückversetze, als fühl' ich noch die überhängenden thaufeuchten Zweige meine Wange streifen, sehe noch von dem Geklapper und Aechzen der Kalesche aufgescheuchte Nachtvögel quer über den Weg wie eine rasch verschwundene schwarze Linie ziehen, als fühlt' ich noch die Stöße, wenn die Wagenräder in tiefer ausgehöhlte Stellen der Geleise fuhren. Ich will schweigen von dieser Nacht; es war eine Wuth, die in mir kochte und die ich dennoch durch meine Willenskraft zu Boden kämpfte, welche ich nicht beschreiben mag, weil ich Gemüthsbewegungen gern, wo ich kann, aus dem Wege gehe. Gott weiß, daß sie mich doch und ohnehin zu finden wissen. Nur so viel, daß ich den Entführer für jedes seiner Flüsterworte, womit er, seinen Mund Eleonorens Gesicht nähernd, sie zu beruhigen suchte, gern erdrosselt hätte und für jede Minute, in welcher er sie ihrer Freiheit beraubt hielt, zehntausend Tode hätte sterben sehen können.

Was aber, wird man mich fragen, war Dein Plan, als Du bei der Entführung Deiner eigenen Geliebten als hülfreicher Bedienter auf dem Bocke saßest? Du verläßt sie und bist ihr so nahe; Du bist bewaffnet und ein starker Mann, und Du springt ihr nicht bei in dieser schrecklichen qualvollen Lage, Du siehst, Du hörst, und – schweigst?

Ich muß auf diese Fragen Antwort geben, obwol ich es umgehen möchte, denn die Antwort ist nicht leicht und setzt mich der Mißdeutung aus. Aber wenn man auch mich schelten wird, daß ich dem in einer solchen Lage natürlichen Antrieb widerstanden, daß ich nicht dem Drange gefolgt, den hier jeder Mann von Ehre, geschweige denn ein Liebender empfinden mußte, so bleibt mir immer noch das zu erwidern, daß dieser durch die größte Anstrengung in mir erzwungene und behauptete Widerstand gegen die natürlichsten Gefühle, wie es so oft beim willkürlichen Abweichen von dem natürlichen Verlauf geschieht, sich arg an mir gerächt habe.

Ich habe gesagt, daß ich Eleonoren für mich entführen lassen wollte. Der Gedanke, wenn sie durch den Grafen Osmund die Nacht hindurch vielleicht eine ganze Tagereise weit von ihrer Heimat entfernt worden sei, jenen in irgend einem volkreichen Orte öffentlich verhaften zu lassen, und dann allein mit Eleonoren, mit so viel Ansprüchen auf ihre Dankbarkeit die Heimreise machen, einen Tag lang ungehindert, ohne Zeugen, Aug' in Aug' mit ihr verkehren zu dürfen, die ganze glühende, wahnsinnige Rhetorik vor ihr ausschütten zu können, welche meine Leidenschaft mir eingab und die ich so lange hatte verschweigen und in mich hineinwürgen müssen, wenn ich sie nicht den Bäumen des Waldes, den Wänden meines einsamen Zimmers vorstammeln, vorweinen, ja vorfluchen mochte: dieser Gedanke, diese Hoffnungen verführten mich zu mächtig. Sie machten mich taub selbst gegen meiner Geliebten Hülferuf, hart gegen ihre Angst und ihre Leiden.

Ich sah bald, daß die erste jener Hoffnungen mich wahrscheinlich täuschen würde. Nachdem wir einige Meilen weit, bei völliger Nacht, über die bald erreichte Heerstraße dahingerollt waren und in einem Städtchen, in welchem Alles in tiefem Schlummer lag, die Pferde gewechselt hatten, vermied unsere fernere Reise die volkreichen Orte gänzlich. Die Heerstraße wurde verlassen und auf wenig befahrenen Vicinalwegen ging es weiter, nach Orten, welche Graf Osmund den Postknechten nannte. Als endlich der Tag emporstieg, fanden wir auf einer Haide, etwa eine Viertelstunde vor einem Kirchdorfe, dessen Thurm von der Morgensonne roth beschienen über dichten Baumwipfeln emporragte, ein Relais von frischen Pferden unserer harren, und nachdem sie vorgelegt worden waren, befahl der Graf dem Knechte, der sie führte, nach S... zu fahren, ohne den Ort zu berühren, welcher uns im Angesichte lag.

Nach S... – das war ja das Ziel der Reise, der Ort, wo Eleonorens Loos eine durch Gewalt herbeigeführte Entscheidung erhalten sollte! Ich durfte nun nicht länger zögern; die Vorsichtsmaßregeln schienen so gut getroffen, daß von der weitern. Fortsetzung der Reise für mich und die Ausführung meines Vorhabens nichts zu erwarten war; und da der Tag nun voll und klar heraufgestiegen, mußte ich zudem jeden Augenblick gewärtigen, daß der Graf einmal seine Aufmerksamkeit auf seinen Bedienten richtete, so standhaft ich ihm auch bisher den Rücken gewandt hatte. Und wenn er mich erkannte, bevor ich die Scene selbst herbeiführte, so war ein Theil der Ueberraschung und des Triumphes, den ich mir bereitete, für mich verloren.

Wir waren noch auf derselben Haide, auf der sich wenig Lebendiges zeigte, als ein paar aufwirbelnde Lerchen, oder eine Drossel, die fast die Spitzen des röthlich blühenden Haidekrauts streifend, von einem Wachholderstrauch zum andern flatterte. Der Wagen wurde sammt seinem bei der frühen Morgenzeit noch riesenhaft gedehnten Schatten nur langsam durch die sandigen Geleise weiter gezogen, und da er in dieser Gegend nicht recht spurte, hatte der Postknecht alle Aufmerksamkeit auf seine Führung gerichtet. Ich zog nun die Pistolen, die dem Andreas anvertraut worden, aus meiner Brusttasche hervor, untersuchte, ob das Pulver unverschüttet auf den Pfannen liege, und spannte die Hähne. Dann wandte ich mich auf meinem Sitze um und schlug auf den Räuber Eleonorens an. Ich sah, daß sie in einander gesunken, fast sich kauernd, in die Wagenecke gedrückt lag, todtenbleich, die Augenlider geschlossen, den Mund halb geöffnet und schwer athmend, als ob sie vor Ermüdung eingeschlummert sei und nun ein schwerer Traum sie ängstige. Osmund hielt ihren linken Arm mit seiner Rechten umspannt; sein Gesicht war ihr zugewandt, als ob er besorgt ihren Schlaf beobachte. Als er meine Bewegung wahrnahm, wandte er sich rasch von ihr ab und – blickte mir ins Auge.

Ich habe gesehen, wie unsere Waldschlangen, ihre Köpfe flach auf den Boden drückend, einen jungen Frosch anstarrten, bis dieser, wie von dem Blick überwältigt, mit einem weiten Satz in ihren rasch aufklaffenden Rachen sprang; ich habe angeschossene Füchse in meinen Gewehrkolben beißen lassen und ihren giftigen Wuthblick dabei beobachtet, aber ich glaube nicht, daß in dem Auge des Fuchses oder der Schlange in solchen Augenblicken auch nur ein Zehntheil der Wuth und des Giftes liegt, welches aus unsern Blicken sprühte, als mich der Graf Osmund und ich ihn anstarrte Die äußerste Entrüstung und ein heftiger Schrecken malten sich zudem in seinem Gesicht, während seine Augen aus ihren Höhlen vorzuquellen, seine Haare sich zu sträuben schienen; in meinen Zügen mochte dagegen ein Ausdruck von höhnischem Triumph, von grimmiger Mordlust ihn anfletschen. Ich gebrauche dieses Wort mit Vorbedacht. Denn meine Wuth brach, nachdem sie lange unterdrückt war, jetzt hervor, daß sie mich wie einen gereizten Eber faßte und meiner Vernunft mich beraubte. Die Worte, die ich sprechen wollte, würgten mir in der Gurgel, ich konnte keinen Laut hervorbringen als ha ha ha hah! – ein dumpfes Gelächter, das ich ausstieß, wie ein Unsinniger. – Eleonore hatte die Augen aufgeschlagen, mit einem Schrei des Erstaunens, des Entzückens, hatte sie beide Hände gefaltet mir entgegengestreckt und war dann in Ohnmacht gesunken.

Ueberrascht hatte der Kutscher seine Pferde angehalten, und wahrscheinlich über die Frechheit des Bedienten erstaunt, der plötzlich eine solche Haltung gegen den Herrn annahm, griff er nach meiner Waffe, um sie mir zu entreißen; aber ein gewaltiger Stoß meines linken Armes schleuderte ihn von seinem Sitz neben mir hinab auf das Haidekraut unten. Dann schrie ich dem Entführer mit einer Stimme zu, die mir selber fremd war, weil ich sie nie so aus meiner Brust kommen gehört – denn so verwandelt die Leidenschaft den ganzen Menschen – fort, schrie ich, aus dem Wagen – Deine Gegenwart tödtet sie, siehst Du nicht! Fort, ich gebe Dir drei Minuten, aus dem Bereich meiner Kugeln zu kommen, sonst wahre Deinen Schädel!

Graf Osmund sah ein, daß mit mir nicht zu unterhandeln sei, im Ausdruck seiner Züge hatte immer entschiedener die Furcht die Oberhand gewonnen, und nachdem ich noch einmal ein donnerndes »Fort!« ihm zugerufen, sprang er, ohne den Schlag zu öffnen, zum Wagen hinaus. Dann warf er mir einen wahren Hyänenblick zu und entfernte sich vom Wagen, anfangs langsam, darauf immer schneller, den Weg, den wir gekommen, verfolgend. Als er etwa funfzig Schritte weit war, konnte ich mir nicht versagen, ihm eine Kugel nachzusenden. Ich drückte, einige Schritte weit ihm nacheilend, ab; es muß dicht an seiner Schläfe vorüber gepfiffen fein; er begann eiligst zu laufen. Mir ward wohler nach dem Knall und ich vermochte wieder, tief in die Brust Athem zu schöpfen.

Danach wandte ich meine Sorgfalt Eleonoren zu, um sie zum Erwachen zu bringen; ein Bach, der sich unweit vom Wege durch einen langen Streifen grünen Rasens ankündigte, gab mir frisches Wasser in meinen Hut, um ihre Schläfe damit zu waschen. Sie schlug die Augen auf; ihre erste Regung war, sich heftig, fast krampfhaft an mich anzuklammern, an meine Brust sich zu schmiegen, wie eine vor einem Weih fliehende und todesbang flatternde Taube. Ich glaube, daß dies der glücklichste Augenblick meines Lebens war. Aber gleich darauf, nach wenigen Sekunden völligen Selbstvergessens, übergoß eine tiefe Röthe ihr bleiches, verweintes Gesicht und sie drückte sich, die Augen schließend in die Wagenecke. Mit leiser Stimme sprach sie den Wunsch aus, irgendwo hingeführt zu werden, wo sie ruhen könne. Der Kutscher, der voll Respektes vor meiner körperlichen Kraft nach seinem Sturze und voll Staunens über die unerklärlichen Vorgänge, deren Zeuge er wurde, stumm dagestanden hatte, ward nun mit einigen Worten von mir ins Geheimniß gezogen und lenkte darauf willig seine Rosse dem Orte zu, aus dessen Nähe wir uns noch immer nicht entfernt hatten.

Es ist ein eigenthümlich freudiges Gefühl für einen jungen Menschen, wenn er zum erstenmale das Bewußtsein hat, daß auf seine Existenz eine andere sich stützt, daß er nothwendig ist für irgend Jemandes Wohl und gebunden an ein Verhältniß, nachdem er sich so lange als für die Welt überflüssig hat betrachten müssen. Nachdem ich Eleonoren in einem freundlichen und anständigen, in der Mitte des erwähnten Ortes an einem freien, mit Bäumen besetzten Platze gelegenen Wirthshause untergebracht, und sie in einem stillen, von Rebengrün vor den Fenstern beschatteten, sommerlichen Zimmer sich zum Ausruhen niedergelegt hatte, konnte ich mich ganz diesem Gefühle hingeben, und einem noch freudigern; ich hatte die Gewißheit, wiedergeliebt zu sein; ja, wenn auch nicht so leidenschaftlich, doch eben so innig, eben so tief, wie ich selbst liebte. Eleonore verbarg es mir jetzt nicht mehr; sie sagte, daß sie mir ihr Leben danke, und daß sie mich durch die Hingabe ihrer ganzen Seele dafür lohnen wolle. Es war natürlich, daß in unserer Lage jede Ziererei, jeder Gedanke an den Abstand unsers Ranges schwand. Sie wurde ganz mein. In jener sommerlichen Stube, hinter den rankenumsponnenen Scheiben, hat sie an meinem Herzen geruht; und wenn mein ganzes Sein und Leben sich in mein Herz drängte, und nichts davon im Kopfe übrig blieb, um mit besonnenen und vernünftigen Gedanken mein Betragen zu überwachen, ist es ein Wunder?

Am andern Morgen fühlte sich Eleonore noch zu schwach, um die Heimreise antreten zu können; und wenn es sie auf der einen Seite auch drängte, ihrer Mutter durch ihr Wiedererscheinen so schleunig als möglich Beruhigung zu bringen, so mochte sie auf der andern Seite vielleicht eben so gern meinen Bitten nachgeben, das wunderbar selige Stillleben, in welchem wir wie verschollen waren, noch um einige Stunden zu verlängern. Endlich konnte die Abreise nicht länger verschoben werden; wir machten uns auf den Weg, und suchten so gut es ging, eine gewisse heimliche Angst, welche wir, wie aus der Schule gebliebene Kinder, vor dem Zurückkommen empfanden, und nicht verhehlen konnten, uns gegenseitig auszureden.

Wir hatten die Heerstraße erreicht und kamen zu einer Station, wo ich frische Pferde verlangte. Während diese herbeigeschafft wurden, trat ich, um eine Erfrischung für Eleonore zu verlangen, in die Gaststube des Posthauses. Es befanden sich zwei Fremde darin, reisende Kaufleute, wie es schien, die in der Fensterbrüstung stehend, sich mit einander besprachen, und zwar laut genug, daß auch der nicht auf sie Achtende sie verstehen mußte, wie es die Weise dieser Leute ist. Als ich eintrat, sprachen sie von Wollpreisen. Darauf sagte der Eine:

Apropos, haben Sie die merkwürdige Geschichte gehört, die in P. vorgefallen ist?

Nein, und welche?

Die junge Reichsgräfin ist entführt worden oder hat sich vielmehr entführen lassen und zwar von einem als Bedienter verkleideten Jagdjunker, der an ihrem Hofe seit etwa drei Vierteljahr angestellt gewesen ist.

Ach, warum nicht gar?! versetzte der Andere.

Auf Ehre! es soll ein gefährlicher Mensch sein, dieser Monsieur; einen Bedienten hat er ermorden wollen und endlich ausgeplündert an einen Baum festgebunden!

Unternehmender Patron!

Es hält sich in P. noch ein Graf Oscar, Osmund oder so ungefähr auf; der hat die Flucht zuerst bemerkt und ist ihnen auf Courierpferden so unverweilt nachgeeilt, daß auch von ihm Niemand gewußt hat, wo er geblieben; doch hat er bald ihre Spur verloren und ist am andern Tage abgehetzt und matt heimgekommen.

Ich hatte genug gehört, um durch diese Wendung der Dinge, welche ihnen die boshafteste Verleumdung und der Unverstand gegeben, wie vom Schlage gerührt zu werden. Wenn man so den ganzen Vorfall in P. auslegte, welcher Empfang stand uns dann bevor, bis daß es uns gelungen, die Wahrheit glaubbar zu machen? Wie sollten wir vor dem unsäglichen Stolze der Mutter Eleonorens, wie vor dem Jähzorn des Landesverwesers bestehen? Und machte nicht unsere, freilich nicht ganz zu erklärende Zögerung heimzukehren, uns ebenso verdächtig, als meine, zum mindesten auch seltsame Weise, die Entführung nicht auf der Stelle, sondern erst eine Tagereise weit von P. zu hintertreiben?

Ich stürzte hinaus zum Wagen, ich bat Eleonoren, auszusteigen, und in einem Zimmer des Posthauses, in dem wir ungestört bleiben konnten, legte ich ihr alle jene Zweifel und Bedenken vor, die unsere Rückkehr als höchst mißlich erscheinen lassen mußten, für mich sogar ernsthaft gefährlich. Ein gewisses Schuldbewußtsein erhöhte natürlich unsern Muth nicht. Und so kamen wir endlich überein, unsere Reise in gerade entgegengesetzter Richtung fortzusetzen, um zu einem Oheim und Pathen Eleonorens, einem Kirchenfürsten von hohem Range in Deutschland, unsere Zuflucht zu nehmen und seine Vermittlung zu erbitten. Vielleicht – und das war eine zweite Hoffnung, welche uns bewog, diesem Entschluß zu folgen – würde er auch gütig und edeldenkend genug sein, um nach dem, was einmal geschehen, sich vermittelnd zwischen unsere heißesten Wünschen und die stolze Mutter zu stellen, so mißlich dies freilich bei Eleonorens Eigenschaft als Erbtochter reichsunmittelbarer Besitzungen und bei der oben genannten Bedingung war, unter welcher der Kaiser die Lehen ihrer Familie ihr belassen wollte.

Glücklicherweise trug Eleonore an dem Tage ihrer Flucht ein Armband mit werthvollen Edelsteinen. Vermittelt des Werthes desselben konnten wir die Reise bestreiten, ohne daß ich genöthigt gewesen wäre, die Cassette anzugreifen, welche Graf Osmund bei seiner Flucht im Wagen gelassen hatte. Ich habe sie ihm durch die Post zurückgesendet.

Als wir nach einer Reise von mehrern Tagen in S., der Residenz von Eleonorens Oheim, angekommen waren und dem Letztern unsere Ankunft gemeldet worden, erschien sogleich ein Kammerherr, welcher die Gräfin zu ihm führte. Dann wurde auch ich zu ihm beschieden und fand einen großen und stattlichen Herrn, der, in einer langen Robe von violettem Tuch auf- und niederschreitend, das Parquet seines Wohnzimmers maß und ein nicht allzu heiteres Gesicht machte. Eleonore ruhte mit verweinten Augen auf einer Bergère. Ich muß gestehen, daß schon beim Anblick des Prälaten der zweite und theuerste Theil meiner Hoffnungen wankend zu werden anfing. Doch richtete ich mit möglichster Ruhe meine Anrede an ihn und sagte, daß seine Erlauchte Nichte ihn wol von den seltsamen Umständen in Kenntniß gesetzt habe, welche uns veranlaßt, von seiner gnädigen und mächtigen Vermittelung zu hoffen, daß die junge Gräfin ohne Scheu in die Arme ihrer Frau Mutter heimkehren dürfe, ohne die Vorwürfe befürchten zu müssen, welche, aus einer falschen und boshaften Darstellung der Vorgänge entspringend, sonst ihr bei der Rückkunft bevorstehen würden.

Der Fürst war augenscheinlich ebenso verlegen wie bekümmert; er schob das violettseidene Käppchen, welches sein graues Haar bedeckte, von einer Seite zur andern, sah bald auf diesen, bald auf jenen seiner Schuhe, wie wenn ihm in diesem Augenblick nichts eine größere Wichtigkeit zu haben schiene, als daß sie sorgfältig geputzt seien, und antwortete endlich, aus dem Fenster schauend, statt in das Gesicht des vor ihm Stehenden:

Seltsame Umstände allerdings! Man könnte sie auch sehr seltsam nennen und betrübend. Ich will mit meiner Nichte noch weiter darüber reden und noch heute eine Stafette nach P. abschicken. Seien Sie unterdessen mein Gast. Es wird mir lieb sein, wenn Sie sich auf das Schloß beschränken wollen, und noch lieber, wenn auf Ihr Zimmer.

Darauf machte er eine Bewegung mit dem Kopfe, welche mir andeutete, daß meine Audienz zu Ende sei.

Ich ging also und erhielt nun im Schlosse Zimmer angewiesen. Mein Beschränktsein auf das Schloß, welches der Fürst gewünscht hatte, ertrug ich gern, weil ich mehrere Stunden des Tages ungehindert und oft auch allein Eleonoren sehen und sprechen konnte.

Doch ich glaube, daß diese Freiheit eine Schlinge war, welche uns gelegt wurde, denn wir bemerkten ein paar Mal zu unterm Schrecken nicht undeutliche Spuren, daß unsere Gespräche nicht so zeugenlos gewesen, wie wir geglaubt hatten. Wir mußten behorcht sein und jedenfalls blieben wir nicht unbeobachtet. Endlich langte eine Stafette mit einer Antwort aus P. an. Eleonore wurde zu ihrem Oheim gerufen und, wie es schien, blieb sie den ganzen übrigen Theil des Tages bei ihm; denn so oft ich mit einem ängstlich und erwartungsvoll pochenden Herzen in ihr Zimmer trat, ich fand sie immer noch nicht aus den Gemächern ihres Oheims zurückgekehrt. Darüber kamen der Abend und die Nacht; ich mußte, ohne sie gesehen und mich beruhigt zu haben, mich niederlegen.

Ich lag lange ohne Ruhe und wie von einem bösen Alp von der Last meiner bangen Zweifel gedrückt. Als ich aber endlich die Augen geschlossen hatte, wurde ich gleich darauf wieder geweckt durch das Aufgehen meiner Zimmerthür und den Glanz hellen Lichtes, der hindurch fiel. Emporfahrend, sah ich einen bewaffneten Offizier, der vor mein Bett trat und mir ankündigte, er habe den Befehl, mich sofort über die Gränze zu bringen.

Meine Ueberraschung, mein Zorn, meine unbändige Raserei, als man mein Weigern durch gewaltsames Handanlegen erledigte und mich wie einen Verbrecher in einen Wagen warf, den Dragoner umgaben, will ich nicht schildern. Nur das will ich sagen, daß sich die Schrecken dieser Nacht tief, und um nie zu verlöschen, in meine Brust geschrieben haben, in Feuer lodernde Schriftzüge, die Hieroglyphen, aus denen ein Herzenskundiger die Geschichte meines Charakters liest. Und ist er düster geworden, dieser Charakter, ich trage nicht die Schuld; der trägt sie, welcher in jenen Zügen ihm ein so düsteres Gepräge aufgesetzt hat.

Ich habe meiner Erzählung wenig mehr hinzuzusetzen. Als ich am andern Morgen an der Gränze mit meiner Escorte angekommen, machte mir der Offizier die Mittheilung, daß mein abermaliges Betreten der Fürstlichen, wie auch der Reichsgräflich P...schen Lande mit schwerer Leibesstrafe geahndet werden würde, und ließ mich dann allein auf der Landstraße stehen, nachdem er mir jede Auskunft über Eleonorens Geschick verweigert hatte. Sie war mir für ewig entrissen – sie, die mein war vor Gott, und weshalb nicht auch vor der Welt? Ich habe nichts, nichts mehr von ihr vernommen, diese langen, langen Jahre hindurch. Nach P. zu ihrer Mutter, in ihre Lande ist sie nicht heim gekommen. Niemand weiß dort von ihr. Auch in der Stadt ihres Oheims weiß Niemand eine Silbe über das Geschick der jungen und schönen Reichsgräfin zu sagen, die so geheimnißvoll im Schlosse des Fürsten verschwunden. Ob sie noch lebt, weiß ich nicht, obwol ich es an keiner Nachforschung habe fehlen lassen; jedenfalls lebt sie in meinem Andenken fort, das oft ihre Gestalt heraufbeschwört und sie wie einen Schatten racheheischend durch die Sturmwolken flattern sieht, die über den Meereswogen unter meinen Thürmen kochen.


Der Graf legte das Manuscript aus der Hand. Das ist Alles, sagte er; ein eigentlicher Schluß, der dramatisch wirken könnte, fehlt, wie denn auch diese Reise- und Wagen-Erlebnisse nicht dramatisch darstellbar sind. Was halten Sie sonst von dem Stück Arbeit?

Die Urtheile waren verschieden, obwol sie darin übereinstimmten, daß das unglückliche Paar sein Schicksal doch wohl verdient zu haben scheine.

Eleonore scheint eine gute Dosis Leichtsinn und Unbesonnenheit besessen zu haben, sagte die Gräfin.

Freilich, meinte Paul; doch mag sie eher Nachsicht dafür verdienen, als der Erzähler selber für die Rohheit, die sein Charakter verräth, wenn er arme Treiber halb todt schießt und sie nachher ganz vergessen hat. Und wie nun vollends Jemand, der liebt, seine Dame viele Stunden lang der unsäglichsten Angst und der entwürdigendsten Lage in der Gewalt ihres Entführers lassen kann, das ist mir unbegreiflich, dazu hab' ich keinen Schlüssel!

Aus dem Ganzen, sagte Alfieri, scheint mir ein Bestreben hervorzuleuchten, eine düstere und vielleicht ungerechte Weltanschauung – und der Himmel mag wissen, welche, aus dieser Weltanschauung herfließende, spätere Handlungen – vor dem eigenen Gewissen zu beschönigen. Und was soll ich zu dem Wunsche sagen, diese Geschichte dramatisch bearbeitet und so der Oeffentlichkeit übergeben zu sehen? Liegt es in dem Charakter des Erzählers – so wie diese Blätter ihn zeigen – sich um dramatische Kunst, Poesie, ja um die ganze Welt viel zu kümmern, wenn er nicht persönliche Zwecke dabei im Auge hat? Dieser persönliche Zweck kann hier nicht die Eitelkeit sein, seine Geschichte so verherrlicht zu sehen; denn eitel ist dieser heftige Charakter nicht. Deshalb glaube ich, daß dem ganzen Einfall, mir diese Erzählung zu überschicken, das Verlangen, sich zu rächen, zum Grunde liegt. Wahrscheinlich leben die meisten Personen dieses Dramas noch, und der Verfasser dieses Manuscripts sieht in meiner armen Kunst einen Pranger, an den er sie stellen möchte, um von der Bühne herab die Verwünschungen eines sentimentalen Publikums auf sich zu ziehen.

Uebrigens, sagte Paul, wäre es nicht unmöglich, daß, wenn ich den Namen des leidenschaftlichen Jagdjunkers wüßte, ich im Stande wäre, ihm einen Fingerzeig zu geben, der ihn auf die Entdeckung der verschwundenen Dame führte. Wenigstens hat mich der Zufall in ein geheimnißvolles Schicksal schauen lassen, an das ich jetzt lebhaft erinnert werde.

Paul erzählte die Art, wie er zum Anblick der gefangenen Dame mit der Sammetmaske gekommen.

Louise war unterdeß sehr still und nachdenklich geworden; sie saß, wie es schien, ohne Theilnahme für das Gespräch und Gedanken von ernstem, trübem Inhalte nachhängend. Als die Gräfin sie fragte: Louise, was sinnen Sie so? wich sie mit einer nichtssagenden Antwort aus und erhob sich, um allein im Garten auf und ab zu wandeln. Sobald es, ohne Aufsehen zu erregen, geschehen konnte, folgte Paul ihr nach. Er fand sie anfangs nicht; endlich, ein Gebüsch durchstreifend, sah er sie am Rande eines Teiches sitzen, der, tief versteckt, von Platanen und Ulmen beschattet, den Himmel und die laubigen Aeste spiegelte. Es war ein stiller Ort, dessen Ruhe nur das Säuseln der Zweige und das laute Plätschern des Wassers unterbrach; denn an der einen Seite empfing der Teich seinen Zufluß aus den muschelförmigen Schalen einer kleinen Grotte, aus der ein Quell rieselte und in Cascadellen über die Schalen niederfiel; auf der andern brodelte und kochte das Wasser in einem im Schilfe versteckten Mönch. Eine Menge großblätteriger Nymphäen mit prachtvollen, weiß oder gelb aufgeblühten Kelchen schwammen auf der spiegelglatten Oberfläche des Wassers.

Ich glaube nicht, sagte Louise, als Paul neben ihr stand, daß die Ueberzeugung von einer ausgleichenden Ewigkeit, von einer wirklichen Unsterblichkeit dem Menschen angeboren und eingewachsen, daß sie in der That Ueberzeugung ist.

Und weshalb nicht? versetzte Paul. Weiß nicht. Jeder irgend ein Gefühl in sich, von dessen Ewigkeit und Unsterblichkeit er ein Bewußtsein hat, das durch nichts erschüttert werden kann? Weshalb urtheilten Sie so, Louise?

Es würden sonst mehr heißschlagende Herzen, die vor dem Tode, als dem bloßen Uebergange, keine Scheu empfinden, da unten Kühlung suchen, versetzte sie, auf den er deutend. Diese arme Eleonore! Ich weiß nicht, weshalb es mir so tief ins Herz geschnitten hat, sie so hart beurtheilt hören zu müssen. Wie wenig wird die Seele eines Weibes verstanden! und wie despotisch hart, wie blind ist das Urtheil der Menschen über sie, wenn sie doch nur Dem folgt, dem von oben die Macht und das Recht gegeben ist, sie zu rufen! Führt er sie in die Irre, so ist es seine Schuld; ihn verurtheilt, nicht die arme Eleonore!

Louise, versetzte Paul, um so zu urtheilen, wie Sie, muß man lieben und durch die Liebe den Scharfblick ins Innere des Menschenherzens bekommen haben, dessen letzte Gründe uns, ohne daß wir selbst geliebt haben, ewig verborgen bleiben. Die Liebe ist der scharfsichtigste, der gründlichste, der letzte Psycholog. Sie lieben, Louise. Ich weiß es. Sie haben es in dem Augenblicke verrathen, als ein Ausbruch toller Eifersucht mein Leben bedrohte. Es ist in mir wie eine heilige Offenbarung das Gefühl lebendig, daß ich von oben, von dem Geiste Ihrer Mutter, die ich in dieser Stunde uns nahe glaube, die Macht und das Recht bekommen habe – wie Sie es nennen – Sie zu rufen. Weiß Gott, Louise, ich könnte dies aus Scham und Blödigkeit nicht aussprechen, wäre mir nicht so unendlich ernst dabei zu Muthe, wäre ich nicht wie durchdrungen von dem Gefühl, daß dies der ernsteste und feierlichste Augenblick meines Lebens ist, wo ich offen zu Ihnen reden muß. Louise, folgen Sie mir! Ich werde Sie nicht in die Irre führen!

Er ließ sich neben sie nieder und legte seinen Arm um ihre Schulter. Sie lieben mich, Louise, fuhr er fort; nicht, wie ich Sie liebe, aber genug, um es mir sagen zu können. O sagen Sie es mir! Ich will meine ganze Seele vor Ihnen ausströmen aus Dankbarkeit und jubelndem Entzücken!

Louise sprang von ihrem Rasensitze auf, das Gesicht hochgeröthet, an ihrer ganzen Gestalt erzitternd, und mit einem unbeschreiblichen Blicke voll Unwillens, aus dem verletzter jungfräulicher Stolz wie ein zürnender Engel schaute, sagte sie:

Habe ich Ihnen ein Recht hierzu gegeben?

Gleich darauf nahmen ihre Züge einen andern Ausdruck an. Es war die schmelzende Weiche, die Taubenhaftigkeit, die fürbittende Schalkheit, das innig sich anschmiegende Sehnen, alle die süßen, plötzlich wie zur Blüthe aufschlagenden Empfindungen, welche selbst einem verblühten und verödeten Frauenantlitz feine Schönheit auf Augenblicke wiedergeben, wenn glückliche Augenblicke kommen, die sie erwecken.

Ja, ich habe es, Paul, fuhr sie fort, und ich glaube, ich habe dies Recht keinem Unwürdigen gegeben! Nein, ich darf, ich will es Ihnen gestehen! – sie warf sich vor ihm nieder, um ihr weinendes Gesicht in ihren Händen zu verbergen, die sie auf seine Knie legte – aber nach diesem Geständniß dürfen Sie mich nie mehr sehen. Ich kann nie die Ihre werden, mein armer, armer Freund! Fragen Sie mich nicht, weshalb nicht! Doch ja, Ihnen will ich sagen, was ich keinem lebenden Menschen sagen könnte, außer Ihnen, denn Ihrem Gefühle bin ich es schuldig! Nicht wahr?

Sie hob ihr Gesicht empor und sah ihn mit einem Blick voll unendlicher Innigkeit unter ihren nassen Wimpern, mit einem Lächeln voll der schmerzlichsten Bitterkeit an. Paul zog sie an seine Brust.

Sie dürfen nie ihr Schicksal mit dem meinen verketten, fuhr sie fort, wenn auch Ihr Herz darüber bricht, wie das meine. Mein Schicksal gehört einem Manne an, dessen Schwelle Sie nie betreten sollen; denn auf seiner Schwelle sitzt das Verbrechen, das schwärzeste, das himmelschreiendste Verbrechen, der Mord! Gott bewahre mich, daß ich Sie in dies Elend hinabzöge, in diese Existenz, die über kurz oder lang meiner harrt. Widersprechen Sie mir nicht; Sie würden nur meinen bodenlosen Schmerz vermehren, wenn ich Ihnen Alles sagen müßte. Jener Mann ist mein Vater. Ich weiß, daß das Alter, die Schwäche der letzten Jahre, die Krankheit, welche das Leben des Menschen endet, ihn mit Stunden gränzenloser Verzweiflung bedrohen. In diesen Stunden soll seine Tochter ihm nicht fehlen. Ihnen muß die Ehre höher stehen, als die Liebe; mir muß es die Kindespflicht.

Leben Sie wohl, Paul, sagte sie, heftig seine Brust umklammernd und ihre Lippen den seinen nicht entziehend. Wir sehen uns vielleicht nie oder nur nach langer, langer Zeit wieder – wenn es mich bis dahin nicht getödtet hat. Sie mögen das Bewußtsein mit sich nehmen, daß sie in mein düsteres Dasein den ersten und einzigen Lichtstrahl brachten. Haben Sie je am Meere gestanden, wenn es der Sturm zu dem furchtbarsten Bilde des Ungeheuern macht? Haben Sie je einen Menschen gesehen, der, um ein armes Stück Holz sich klammernd, alle Fibern seines Körpers krampfhaft verzerrt, alle Sinne in der Todesangst übermenschlich anspannt, sein nasses Haar über einem Gesicht voll gränzenloser Verzweiflung schüttelnd, von den Wellen umhergespült wird? O Gott, mein Vater fühlt kein Erbarmen mit solchen Menschen! und es ist mir, als ob ein tragisches Schicksal dafür an mir die Rache übte, indem es mir das Leben so heillos, so schrecklich wie ein solches Meer macht und mich – hineingeschleudert hat, der Verzweiflung des müden Schwimmers in die Arme. Dürfte ich Sie umklammern, Sie würden mich retten, Paul! Aber ich darf nicht. Ich bin wie die kranke Möve, die über den endlosen Wassern flattert und ihre Schwingen gelähmt fühlt: kein Land, kein Segel, keine Hoffnung! O, es gibt Augenblicke, wo ich mir die völlige Vernichtung wünsche!

Paul war diesem tiefen, gewaltigen Schmerze gegenüber stumm. Er hatte kein Wort, das sich hineingefügt, keines, das die vernichtende Qual, die in ihm selber wüthete, ausgedrückt hätte.

Denken Sie an mich in der Ferne! fuhr sie fort, indem sie beide Hände auf seine Schultern legte und mit tiefem, innigem Blicke in seine Augen sah. Doch nein! Der Gedanke ist zu trostlos, zu erschütternd, und ich möchte den Schmerz auf ewig von Ihnen fern halten. Es würde mir ein Trost sein, mich in der Ferne durch den Gedanken mindestens mit Ihnen verbunden zu wissen, aber da ich weiter nichts für Sie thun, nichts Ihnen opfern kann, will ich Ihnen das Opfer dieses Trostes bringen, um Ihre reine, hohe Stirn nicht durch Gedanken und Gefühle so erschütternder Art getrübt zu sehen. Vergessen Sie mich, Paul! Leben Sie wohl!

Ihre Stimme hatte angefangen, sich zu brechen, und wie dadurch gewarnt, ermannte sie sich, entriß sich rasch Pauls Armen und verschwand im Gebüsche.

Pauls Zustand war nicht leicht zu beschreiben. Er eilte heim, und nachdem sich der Schrecken, der ihn zuerst erfaßt und wie ganz gelähmt hatte, gelegt, warf er sich auf den Boden hin und weinte wie ein Kind. Er verlebte eine fürchterliche Nacht. Der Schmerz, plötzlich die Hoffnung seiner Leidenschaft getäuscht zu sehen, war ihm die Sphinx geworden, die unerwartet mit höhnischem Ton das Lebensräthsel aussprach, das uns allen einmal gesagt wird und das wir alle nicht lösen können; nur daß es sich den Meisten nach und nach, in einzelnen Lauten, in milderer und gedämpfter Stimme, vorlegt, oder in einer Reihe weit vertheilter Ereignisse wie einzelne Silben gibt, die wir endlich zusammenbuchstabieren und nun die Frage lesen: Was soll das Leben und was der Schmerz, der den Tod durch das Leben schlingt? Was dieser Tantalus-Kampf erzwungener Entsagung? Was die Entsagung, so oft ein Verrath an uns selbst ist?

Am andern Tage hatte die Gräfin Albany eine Unterredung mit ihm. Obwol sie selbst angegriffen schien, suchte sie dennoch ihn aufzurichten. Louise hatte sich ihr anvertraut und die Gräfin verhehlte Paul nicht, daß sie alle ihre Entschlüsse billige. Paul sprach ihr mit der Beredsamkeit, welche die Leidenschaft einflößt, alles Das aus, was ihn am Tage vorher seine innere Bewegung verhindert hatte, Louisen selber zu sagen. Aber das Ende der Verhandlung war, daß die Gräfin ihn bat, keine Versuche zu machen, Louisen wieder zu sehen, und abzureisen. Es war ihm ein schrecklicher Gedanke, dies Haus verlassen zu müssen, in dem er die schmerzlichsten und die seligsten Augenblicke seines Lebens gefunden; es war wie eine Verweisung in die Oede hinaus. Wie hatte er sonst so oft und so gern seine Gedanken zurück nach seiner Vaterstadt gelenkt und sie um ihre alten Giebel, ihre gothischen Domthürme und die gutmüthigen, naiven und friedlichen Physiognomien ihrer Bewohner schweben lassen. Jetzt hatte der Gedanke keinen Reiz mehr; er schien sich ein Heimatloser, wie aus der Welt gestoßen und wie ein ruheloser, gequälter Schatten an die Erde gebannt, ohne ihr mehr anzugehören.


So lange der Rhein die weite Ebene durchströmt, in der französische Raubsucht ebenso übermüthig als ungestraft ihren Fuß an sein linkes Ufer gesetzt hat, bildet er eine Menge kleiner und stiller Inseln, die über dem Flußkies mit grünen, hangenden Weiden, mit langem Halmgrase und einem Kranze dichten Schilfes emporragen. Nur ein einsames Wasserhuhn kommt, in ihren kleinen Uferbuchten sein Nest zu bauen; nur eine von fernen Seen her verschlagene Möve überflattert sie, ihre melancholischen Schreie ausstoßend, und wenn eine Schaar lärmender Staare sich auf ihnen niederläßt, so ist es nur, weil sie rasten wollen in ihrem Fluge von einem Gestade zum andern. Jetzt ist auch die Zahl dieser Bewohner durch das Leben, das dampfrollend über dem Flusse erwacht ist, vermindert. Damals aber rollte der Strom seine Wogen noch in stolzer Einsamkeit und Stille.

Es war an einem gewitterdrohenden Abend, bei schwüler Luft und bewölktem Himmel, als von dem deutschen Ufer des Rheins her ein Kahn sich bewegte, einer Stelle des andern Gestades zu, das zum obern Elsaß gehörte. Ein Ferge bewegte das Ruder, ein anderer Mann stand im Vordertheile, die Arme untergeschlagen und, wie es schien, ohne Theilnahme in die tanzenden Wellen blickend, die nach und nach höher zu gehen anfingen, da das Gewitter seinen Boten, den Sturm, zu entfesseln begann.

Der Mann im Vordertheile war eine untersetzte Gestalt mit einem höchst ignoblen Aussehen, obwol mit einer großen Sorgfalt gekleidet; doch sah man aus seinem Wesen und aus dem Schnitte seiner Tracht, daß er zu den untern Ständen gehörte, und sich für seine Reise in den Sonntagsstaat geworfen hatte. Mit dem grünen langschößigen Rock, dessen dickes Tuch bei der Hitze der Jahreszeit an das Sprichwort: »Hoffart muß Noth leiden«, erinnerte, contrastierte das gelbseidene mit coquetter Nachlässigkeit umschlungene Halstuch, über dem sich eine dunkelbraune Physiognomie erhob, in deren Gesellschaft sich nur ein breitschulteriger Rheinferge ohne alles Bedenken so zwischen einsamen Ufern allein dem Strome anvertraut hätte.

Herr Schiffscapitain, sagte der Mann, den Fergen ansehend, der kopfschüttelnd die Gewitterwolken betrachtete, Euer Cutter wird Schiffbruch leiden – es kommt ein Sturm, und die Wellen gehen so mächtig, als wenn ein Bube in einen Löffel mit heißer Suppe bläst!

Der Schiffer antwortete nicht, wahrscheinlich weil er den Andern nicht verstand, denn dieser sprach in einem Dialekt, welchen der Ferge nie gehört hatte. Unterdeß fing der Regen an, in schweren Tropfen niederzufallen; und der Fremde, der so wenig Besorgniß um sein Leben gezeigt hatte, schien in Beziehung auf seinen Rock nicht ganz dieselbe Gleichgültigkeit zu hegen.

Capitain, leewärts! rief er aus und deutete mit der Hand auf eine der oben beschriebenen Inseln, die einen Steinwurf weiter rechts unterhalb ihres Curses lag. Dort war unter einer Gruppe Weiden eine Art Hütte sichtbar, deren Dach von den Zweigen aufs Heftigste gepeitscht wurde. Eine männliche Gestalt verschwand eben darin, eine Ziege hinter sich herzerrend, welche sie vor dem Gewitter bergen zu wollen schien.

Die Beiden im Kahn standen bald am Ufer des Eilands. Während der Ferge den Nachen auf den trocknen Kies zog, ging der Andere der Hütte zu, die eben erst aufgebaut schien; ihr Aeußeres und die ganze Umgebung sah aus, wie eine Robinsonade, oder ein Colonisationsprojekt mit zweifelhaften Bürgschaften für einstiges Gedeihen. Die Wohnung war etwa fünf Fuß hoch aufgemauert, dann kam das Dach, das aus Bretern bestand, die an den Kanten über einander geschoben waren, wie bei einer Floßhütte; ein paar Fenster, von denen eines die Mauer durchbrach, das andere größere schräg liegend durch das Dach Licht gab, sowie die Eingangsthüre waren augenscheinlich ältern Datums, als die ganze Anlage; sie waren aus irgend einem zum Abbruch verkauften alten Gebäude. Um ein viereckiges Stück Rasen waren einzelne Pfähle eingerammt und daneben liegende Latten deuteten an, daß hier ein Zaun, wahrscheinlich zur Beschützung des künftigen Gartens, entstehen sollte. Der Besitzer dieser Anlagen stand den Stamm einer Weide gelehnt und schaute in das Wogen des Rheines, das immer heftiger und schäumender wurde, und in das Tosen des Gewitters. Es war eine schlanke, schwarz gekleidete Gestalt, der dunkle Haare ums Gesicht hingen, so regellos wie die Zweige der Weide, an die er sich lehnte. Ueberhaupt hatte die ganze schlaffe melancholische Figur etwas, das an eine Trauerweide erinnerte.

Mit Verlaub, sagte der ankommende Fremde, darf man in dieses Haus treten, um sich gegen den Regen zu schützen?

Der Insulaner öffnete, ohne eine Antwort zu geben, die Thüre seines Hauses und nachdem jener und der Ferge hineingegangen, stellte er sich selbst unter die Thüre. Im Innern war es dunkel; die Dämmerung ließ nur verworren durch einander liegende Meubles und die Stelle eines kleinen Herdes erkennen; im Hintergrunde hörte man die Ziege an frischem Laube knuspern.

Der Fremde schien ein Gespräch anknüpfen zu wollen.

Es ist sehr schwül, sagte er, indem er sein gelbes Halstuch abriß und in die Tasche steckte. Finden der Herr es nicht schwül?

Der Insulaner nickte mit dem Kopfe und fuhr fort, die Wolkenbildungen des dunkeln, oft von Blitzen zerrissenen Himmels zu betrachten.

Der Herr sind wol Schulmeister hier in der Gegend?

Der Inselbewohner sah den Fremden an und wie durch die Frage nur halb aus dem Kreise gerissen, in welchem seine Gedanken weilten, versetzte er zerstreut: Ich bin ein Einsiedler!

Kurios, sagte der Fremde; ich habe immer geglaubt, es könnte heutiges Tages keine Einsiedler mehr geben. Wenn mir Jemand gesagt hat, ich will mich aus der Welt zurückziehen, hab' ich immer gedacht: zieh' du dich nur aus der Welt zurück, über vier Wochen bist du doch wieder da, wenn auch nur, um zu sehen, was die Leute von deiner Einsiedelei sagen und wie sie dir steht. Es ist eben so, wenn einer sagt, er wolle in die Welt gehen. Wo hören denn die Städte, die Dörfer und die Höfe, kurz die Menschen auf, und wo fängt die Welt an, daß man hineingehen könnte? Möcht's wissen. Nein, Herr, man kann so wenig in die Welt gehen, als man hinausgehen kann; was ist denn das eigentlich für eine Handthierung, das Einsiedeln; eine Handthierung muß der Mensch doch haben?

So lange man glaubt, zu irgend einer tauglich und nütz zu sein; aber wenn man einsieht, daß man zu keiner paßt, daß man unbrauchbar ist, und die Menschen recht haben, wenn man von ihnen zurückgestoßen wird, dann thut man am besten, sich auf eine solche Pariahütte zu beschränken, wie diese hier, und mit eigenen Händen den eigenen Garten zu bestellen, von der Welt nichts verlangend und ihr nichts gebend.

Diese Worte waren eigentlich über die Fassungskraft des Zuhörers. Aber Charakteren, wie der Bewohner der Insel einer war, ist es eigen, ihr Thun, dessen Rechtfertigung und ihre Gedanken überhaupt auch da mitzutheilen und zu verfechten, wo einiges Nachdenken ihnen sagen könnte, daß sie nicht verstanden werden. Wie ein Rohr flüstert und schwatzt, wenn es der Wind schaukelt, werden auch die Menschen schwatzhaft, wenn sie innerlich hin- und hergeschaukelt werden. So sprach der junge Einsiedler noch Vieles aus, was der Andere nicht begriff, aber aus dem eine völlige Verzweiflung an sich selber, ein tiefes, inneres Gedemüthigtsein hervorging, das im Stande war, Alles zu erdulden und über sich ergehen zu lassen, vorausgesetzt, daß es schnell über ihn erging, denn Garantien für die Dauer irgend einer Stimmung schien dieser Charakter weniger zu enthalten als für ihre Heftigkeit.

Mit Gunst und Verlaub, unterbrach der Fremde den Einsiedler, wenn ich daheim erzähle, ich hätte einen Eremiten gesehen, wird mir's Niemand glauben, wenn ich nicht Namen und Alles mit Tag und Datum angeben kann. Darf ich nicht fragen, wie der Herr Eremite heißen?

Wahrscheinlich Manuel von Dietburg.

Der Fremde stutzte: Wahrscheinlich?! und welches Landes?

Aus dem Salzburgschen, versetzte Manuel, ohne den erstaunten und zugleich mit der Schlauigkeit des Fuchses unter buschigen Brauen hervorspähenden Blick wahrzunehmen, der über seine Gestalt glitt.

Sonderbar! rief der Andere, jetzt wie erschrocken einen Schritt zurückfahrend und tief Odem holend. Ei, das wäre mir ja vielleicht 'ne Tonne Goldes werth! Herr, ich heiße Wilm Danebrocker; ich bin Haus- und Hofmeister und so was mehr, wie man's nennen will, bei einem Baron von Dietburg, der weit von hier fort an der See wohnt. Der sucht seinen Sohn seit mehrern Jahren, das heißt, ich suche ihn; schon weit ins Land hinein bin ich drum gewesen, just im Salzburgschen. Da habe ich endlich die Mutter gefunden von dem Sohne; nun die auf dem Schlosse ist daheim bei uns, wird's ihr zu einsam und ich bin jetzt abgeschickt, um ihr zur Gesellschaft die Tochter von meinem alten Herrn zurückzuholen. Die wohnt hier in der Gegend auf einem Gut bei einem welschen Grafen und einer Gräfin und soll nun heimkommen. Da ist mein Paß, Herr, zum Beweis, daß ich nicht lügen thue, in Ordnung und Richtigkeit, in Straßburg zuletzt visirt; da hab' ich ein Päcklein mit Schriften von meinem Herrn auf die Post geben müssen an den welschen Grafen. Hier ist – fuhr er fort, in einer schmierigen Brieftasche kramend – der Brief des alten Herrn an seine Tochter, daß sie mit mir heimkommen soll; wenn der Herr Eremite verlangt, laß ich ihn die Unterschrift sehen – nur ein Wort und ich breche ihn auf! Aber mit mir muß der Herr, mit auf unser altes Castell zum Baron, daß der sehen kann, ob er sein Sohn ist; der arme Herr, so muß ich ihm seine Familienstücke zusammensuchen! Das ist mir ja eine Tonne Goldes werth, daß ich auf dies Entennest gerathen bin! Aber Fürsicht ist zu allen Dingen nütze; erzähle mir der Herr doch ein wenig von seiner Herkunft!

Manuel war begreiflicher Weise nicht weniger erstaunt, als Wilm Danebroker, nachdem er diesem von seiner Herkunft gesagt, was er selbst wußte, zu erfahren, daß er höchst wahrscheinlich dem Baron von Dietburg sein Leben verdanke, von dem dieser so unvermuthet auf seine Insel geworfene Gesandte desselben ihm erzählte. Das Ende ihres Gesprächs war, daß Manuel sich entschloß, die Reise zu machen, die der Fremde ihm vorschlug. Anfangs bebte er vor dem Gedanken, sie mit Louisen zu machen. Aber sie war ja – so schien es nach Allem, was ihm gesagt wurde – seine Schwester; sollte sie, die so gut und milde war, ihn jetzt nicht voll Verzeihung und Wohlwollen aufnehmen? Er hoffte es, und schon, um ihr als Bruder gegenüberstehen zu können, hätte er ein Königreich verlassen, wie viel mehr nicht seine improvisierte Einsiedelei. Aber zur Martinsburg konnte er nicht zurückkehren. Es war ihm unmöglich. Er hätte lieber der ganzen neugewonnenen Hoffnung entsagt, als Paul gegenübergestanden.

So redete er mit dem Haushofmeister einen bestimmten Tag ab, wo er ihn in Straßburg erwarten wollte, um sich der Reise anzuschließen.



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