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Erster Theil.


Paul.


Wir führen den Leser in eine größere Stadt des nördlichen Deutschlands, zur Zeit unserer Erzählung, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, noch die Residenz eines geistlichen Fürsten. Sie spielte nur in zwei oder drei Perioden eine namhafte Rolle in der Geschichte unsers Vaterlandes. Auch war sie früher weder so groß, noch so reich und weltbekannt, wie die mächtigen Städte des Mittelalters, wie Köln, wie Nürnberg, wie Augsburg; aber dennoch hat sie ihren besondern, durch ein ernstes Gepräge imponierenden Charakter, und beim ersten Betreten derselben sucht man noch jetzt keine modernen Institute hier, keine Dampfmaschinen, keinen Fabriklärm; sondern man sieht sich nach gothischen Giebeln, nach denkwürdigen Monumenten der Vorzeit, nach einem zinnengekrönten Rathhause um; man fühlt, hier müssen frühere Jahrhunderte ihre Asyle in Kirchen und Klöstern gesucht haben, und wenn irgendwo, so muß sich hier bei einem Trödler die seltenste Ausgabe von einem seltenen Buche finden lassen, eine Pergamenthandschrift mit goldenen Initialen, und eine Rococodose, aus welcher Niemand Jüngeres als der gehörnte Siegfried die erste Prise genommen.

Diese alte, denkwürdige und durch das Gepräge eines individuellen und ungewöhnlichen Charakters in mancher Hinsicht höchst seltsame Stadt saß damals wie eine einsame Henne fortwährend über ihren eigenen Eiern brütend, und that wohl daran, weil sie oft genug die Befriedigung erlebte, allerhand kuriose Einfälle und originelle Charakterzüge ausschlüpfen zu sehen. Von den Zeitereignissen erfuhr sie nur, was ein »wöchentlicher Anzeiger« ihr aus dem »Reichspostreuter« auszugsweise zukommen zu lassen für gut fand, wenn dazu sich noch Raum zeigte, nach der wichtigen Nachricht, daß dem Herrn Erbkämmerer oder Erbküchenmeister zur größten Freude des hochgräflichen Hauses und sämmtlicher hohen Vettern und Basen ein Knäblein geboren sei, und dergleichen einflußreichen politischen Ereignissen im Vaterlande mehr. Ihre Bewohner hatten sich für höchst kühne und freisinnige Männer zu halten allen Grund, wenn sie Abends in der Weinstube, unter dem sichtbaren Einfluß waghalsiger Ideen, mit welchen das Aufdämmern einer neuen Zeit damals die Luft zu schwängern schien, laut und unverholen behaupteten, es könnte Manches besser sein, und Einer sogar so weit gegangen war, zu versetzen, nicht allein Manches, sondern sehr Vieles, worauf die Gesellschaft in ein scheues Schweigen verfiel. Sie stellte auch ein höchst respektables Contingent in blauer und gelber Uniform zur Reichsarmee, das einmal auf eine sehr rühmliche Weise die Belagerung des rebellischen Lüttich unternommen hatte, bis eine weit vorgeschobene Schildwache, an der eine Kugel vorüberpfiff, mit dem zornigen Ausruf: »Ei, ei, seht ihr denn nicht, daß hier Leute stehen!« die Muskete wegwarf und athemlos zum Lager zurückrennend die beunruhigende Nachricht verbreitete: »die Lütticher schössen scharf«, worauf die Belagerung nur noch sehr lau fortgesetzt wurde.

In dieser Stadt nun stand gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts ein großes dunkles und hohes Haus, das eben so merkwürdig war, wie der ganze Ort, zu dem es gehörte.

Mit dem Giebel war das Haus einer stillen Straße zugekehrt, aber durch einen Hof und ein eisernes Geländer davon getrennt; in verschiedenen Zeiten erbaut, ragte der hintere Theil thurmhoch über den vordern empor; man hätte von Weitem ihn in der That für irgend ein Stück einer Kirche gehalten, wenn nicht die lange und seltsam gewundene Feueresse seine Bestimmung, einen häuslichen Heerd zu umschließen, deutlich genug ausgesprochen hätte. Im Innern hatte es hohe, geräumige Gemächer, die mit einem keineswegs glänzenden und ins Auge fallenden, aber gediegenen und lang vorhaltenden Luxus ausgestattet waren; Gemälde berühmter Meister, aber in schwarzen, schlichten Rahmen, dunkle gebohnte Tische, aber von ausgezeichneter Schnitzarbeit, und große Schränke, welche man jetzt mit enormen Summen bezahlen müßte, wahre Meisterstücke der Tischlerkunst – das waren die Gegenstände, die zunächst ins Auge fielen, deren Kostbarkeit aber erst eine nähere Untersuchung entdeckte. In jedem Zimmer des stillen Hauses hörte man eine Schlaguhr ticken, die in hohem Gehäuse aus braunem Eichenholz in der Ecke stand, nur in dem Besuchzimmer nicht, wo an ihrer Stelle ein Eckschrank die feinsten venetianischen Trinkgläser, Millefloriumkugeln und ganze Schichten von Majolikaschüsseln trug. Hinreichendes Licht, wie wir es jetzt verlangen, hatte eigentlich keines dieser Gemächer, dafür aber einen ganz eigenthümlichen Duft und Geruch, der beim ersten Eintritt dem Fremden entgegenwehte und den ich nirgends sonst wahrgenommen habe, als in eben jener Stadt, und auch da nur in alten, lange von derselben Familie bewohnten Häusern.

Die eigentlichen Merkwürdigkeiten des Hauses aber waren erstens ein schönes, aus Sandstein gehauenes Kamingesims, das auf Befehl des Grafen Peneranda, der als spanischer Gesandte einmal in alten Zeiten in diesem Hause gewohnt hatte, ausgemeißelt worden war; dann ein alter Herr in einem rothen Rocke, gepuderten Haaren, einem dreieckigen Hute und gelben Klappenstiefeln, der, ein Aktenbündel unter dem Arm, in einer Bodenkammer spukte; ferner drei Kanonenkugeln, welche die Schweden im dreißigjährigen Kriege ins Haus geschossen hatten und die noch auf dem höchsten Speicher des hohen Daches neben den Sparren lagen, welche sie damals zersplittert hatten; endlich der Hausherr selber.

Der Hausherr fand in der ganzen Stadt in dem Rufe eines gelehrten und gescheidten Mannes und eines unbestechlichen Richters; denn er war früher Vorstand der höchsten richterlichen Instanz des Landes gewesen. Dieser Ruf aber war jetzt schon fast fünfzehn Jahre lang nichts Anderes mehr als eine Sage, die sich im Munde der Leute erhielt, da in diesem ganzen Zeitraum sehr Wenige ihn gesehen, ihn gehört, ja nur etwas von ihm vernommen hatten. Er lebte mit zwei nicht mehr jungen Töchtern und einem Enkel so ganz auf das Haus beschränkt, daß ihn draußen nur an einzelnen durchaus heitern und schönen Tagen die üppigen Nelken seines Gärtchens erblickten, deren Zucht sein Steckenpferd war. Er war eine feine und vornehme Gestalt, von mittlerer Größe, zartem Bau und mit Zügen, welche ehemals eine außergewöhnliche, wenn auch vielleicht etwas weibische Schönheit gehabt haben mochten. Seine ganze Erscheinung hatte etwas sehr Aristokratisches und Feierliches; und trotz dem, daß er fast nie den Fuß vor die Thüre setzte, war seine Perrücke doch täglich so sorgfältig gepudert, sein Degen so akkurat geschnallt, wenn er seinen Hausgenossen erschien, als begebe er sich zu einer Audienz bei Hofe.

Dieses Sichtbarwerden für die Seinigen ereignete sich täglich dreimal. Er kam zuerst mit dem Glockenschlag zwölf um Mittag, um alle Uhren im Hause aufzuziehen; eine Stunde später erschien er zum zweitenmal, um sich zur Tafel zu begeben, und nach Tisch zum drittenmal, um langsam durch alle Zimmer zu wandern, in der Hand ein silbernes Kohlenbecken, aus welchem eine Rauchsäule von Wohlgerüchen aufstieg. Seine Töchter hatten einst, wenn sie als Kinder die Wichtigkeit dieser Augenblicke verkannten, oft genug eine derbe Züchtigung bekommen, um nicht jetzt noch in ein respektvolles Schweigen zu verfallen, sobald sie ihn kommen hörten; und da nach ihnen das Hausgesinde sich richtete, so ging einem Erscheinen immer im ganzen Hause die ahnungsvolle Stille vorher, welche das Eintreten eines wichtigen und feierlichen Akts begleitet.

Ceremoniel und Feierlichkeit war überhaupt der Aether, in dem er athmete. Als bei seinem Hochzeitmahl sein Schwiegervater, ein Kauz ganz eigener Art, um dem großen Festbraten besser beikommen zu können, sich mit einem Knie auf den Stuhl, mit dem andern auf den Tisch gestemmt, hatte er sich von seiner Neuvermählten, als der Tochter eines solchen Vaters, auf der Stelle scheiden lassen wollen. Zu den unglücklichsten Ereignissen seines Lebens rechnete er, daß er einen Vetter im Duell erstochen, dann daß er seine Frau verloren, und endlich, daß er einst baarhaupt aus der Kirche hatte heimkehren müssen, weil ihm ein Schalk seinen Hut gestohlen. Zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften gehörten Mißtrauen und Zornmüthigkeit. Sein Vater war ein namhafter Schriftsteller gewesen, der in französischen Versen die Marquise Duchatelet besang und im Geiste Montesquieu's politische Abhandlungen verfaßte. Niemand aber, der nicht Lust gehabt, ihn vor Zorn drei Schuh hoch in die Luft springen zu sehen, hätte wagen dürfen, ihn nach diesem Vater zu fragen; er hätte geglaubt, man wolle ihm vorwerfen, daß er nicht eine eben so große geistige Bedeutung erlangt. Ueberhaupt gab es eine Menge Gegenstände, die man in seiner Gegenwart nicht berühren durfte, weil sie ihm unbequem waren oder unangenehme Vorstellungen weckten. Dahin gehörte vor allen Dingen die Nachricht von irgend einem Todesfall.

Eine besondere Eigenheit des Hofgerichtsamtsverwalters v. S. bestand darin, daß er grob wurde, sobald ihm Jemand sagte, es sei gutes Wetter. Er hatte sich daran gewöhnt, täglich über das schlechte Klima seines Vaterlandes Klage zu führen, und ein entschieden schöner Tag hätte ihn des Vergnügens beraubt, sich wenigstens einmal alle 24 Stunden recht kräftig zu expectorieren. Eine kleine, verwachsene Person, die seine Aufwärterin war, ein verschmitztes, altes Hausmöbel, kannte diese Passion und fand für gut, ihr beständig Nahrung zu geben. So durfte er jeden Morgen sicher sein zu erfahren, daß an dem Strich des Himmels, den er von seinen Fenstern aus nicht übersehen konnte, sich wieder eine Unzahl grauer Wolken aufthürmte.

Das ist doch endlich ein vollkommen schöner und heiterer Tag, Gertrude; meint Sie nicht auch? – hub er eines Morgens an, als ihm sein Frühstück gebracht wurde.

Ja ich weiß nicht, Herr Hofgerichtsamtsverwalter; im Westen steigen mir so verdächtige Wolken auf, und der Hund hat diesen Morgen auch wieder Gras gefressen; ich möchte wetten, es gibt einen Abendregen.

So, so! ich glaube es wohl; ich sage immer, ein Land wie dieses, wo die natürliche Wärme des Menschen nicht ausreicht, so daß man im Winter zu künstlichen Mitteln greifen und einheizen muß, das ist von der Natur gar nicht für Menschen zum Bewohnen bestimmt. Gertrude, geh' Sie jetzt zum Herrn Hofkammerrath R. und sage Sie eine schöne Empfehlung vom Hofgerichtsamtsverwalter an Herrn Hofkammerrath, und der Hofgerichtsamtsverwalter ließe Herrn Hofkammerrath bitten, ob Herr Hofkammerrath nicht mit einem Löffel Suppe heute Mittag bei ihm vorliebnehmen wollte. Verstanden?

Wie Herr Hofgerichtsamtsverwalter befehlen, sagte das Mädchen mit einem schlauen Lächeln.

Der Hofkammerrath R. aß nämlich seit drei Vierteljahren keinen Löffel Suppe mehr, da er genau um diese Zeit eines seligen Todes verblichen war. Aber Niemand hatte gewagt, dem alten Herrn die Nachricht davon mitzuheilen; und nach einer halben Stunde erschien die krumme Gertrude wieder auf seiner Schwelle und machte mit dem ernsthaftesten Gesichte von der Welt die Meldung: »Empfehlung von Herrn Hofkammerrath an Herrn Hofgerichtsamtsverwalter, und den Herrn Hofkammerrath schmerzten seine Leichdörner so, daß er nicht über die Straße gehen könne; es sei gewiß schlechtes Wetter im Anzuge, und Herr Hofgerichtsamtsverwalter möchte ihn deshalb entschuldigen; er behielte sich aber die Ehre auf nächstens vor.«

Das letztemal, wo man mit großer Noth dem alten Herrn die Nachricht von einem Todesfall beigebracht hatte, war es seine eigene Tochter gewesen, die gestorben. Früh verwittwet, hatte diese die Sorge für ihren kleinen Knaben, das einzige Kind ihrer schnell durch den Tod gelösten Ehe, dem Großvater hinterlassen. Anfangs war es ihm äußerst lästig gewesen, ein kleines lärmendes Kind in eine schweigsame Residenz aufnehmen zu müssen; aber Paul von Mallincrodt war ein so artiges, folgsames und hübsches Kind, daß er bald der Liebling des Großvaters wurde und endlich sogar die Erlaubniß bekam, ihn jeden Morgen um zehn Uhr, wenn jener sein Brevier gebetet und seine Wetterbeobachtungen niedergeschrieben hatte, zu besuchen, um sich mit Spielsachen oder Näschereien beschenken zu lassen. Paul war acht Jahre alt: er hatte große, fahlblaue Augen, lichtbraune, lange und dichte Locken, und ein volles, blühendes Gesicht, das so schön war, wie man je eines an einem Kinde gesehen. Wenn er auf dem Hofe spielte und alle Lebhaftigkeit seines Temperaments aussprudeln ließ, war es nichts Seltenes, an die Stangen des Gitters, welches den Hof von der Straße trennte, die Gesichter von neugierigen jungen Frauen sich drücken zu sehen, die nach dem wunderhübschen Knaben schauten und gefesselt halbe Stunden lang stehen blieben. In diesem Hofe hatte er im Sommer sein Schaukelpferd aufgestellt, er hatte hier einen kleinen Garten angelegt, der mit den Nelken bepflanzt wurde, welche der Großvater aus seiner Sammlung ihm schenkte; in der Nähe war der Verschlag für die beiden Ziegenböcke, mit denen er einen kleinen Wagen bespannte und spazieren fuhr. Und doch blieb der Hof nicht lange sein Tummelplatz.

Er hatte eines Abends, im Garten umherlaufend, über die Hecke, welche diesen von dem Nachbargarten schied, ein großes, schönes und ernstes Frauenbild blicken sehen; sie hatte ihn freundlich angeredet, und obwol er sonst nicht blöde war und gern plauderte, war er bei dieser Erscheinung scheu in der Ferne stehen geblieben und hatte den Daumen in den Mund gesteckt, ein Manöver, bei welchem des Großvaters Strenge keine Grenzen kannte, wenn er es sah. Am folgenden Abend sah er sie wieder sich über die Hecke beugen; er wagte jetzt näher zu treten, und am dritten Tage war er durch eine Oeffnung der Gartenumfassung geschlüpft und saß jenseits in dem fremden Garten, der viel größer und schöner war, als der seines Großvaters, zwischen lauter fremden Bäumen, fremden Blumenbeeten und fremden Gesträuchen, der fremden Dame auf dem Schooß, ganz kühn und keck. Am vierten Abend war die Bekanntschaft so eng und vertraut geworden, daß, als die Dame ihm einen Strauß aus Malven, Kapuzinerkäppchen und englischem Gras gewunden und ihn nun auf die Stirne küßte und auf den Boden setzte, um ihn gehen zu heißen, er entschieden erklärte, bei ihr bleiben zu wollen.

Aber dein Großvater weiß nicht, wo du bleibt, Paul!

Großvater ist längst zu Bett.

Deine Tanten werden besorgt um dich.

Gertrude hat gesagt, es seien alte Schachteln.

Pfui, Paul! wenn sie das sagt, so scherzt sie.

Darf man nicht scherzen?

Ueber seine Tanten nicht: man darf nicht sagen, daß sie alte Schachteln seien. Aber jetzt geh'!

Der Knabe fing an zu weinen und klammerte sich um den Hals der Dame; erst als ein ängstliches »Paul, Paul!« von drüben her erschallte, ließ er sich bewegen, durch sein Loch zu schlüpfen und Adrian, dem alten Bedienten, der ihn suchte, ins Haus zu folgen.

Was machst du drüben, Paul, in dem fremden Garten? fragte ihn die älteste Tante, als er ins Zimmer trat.

Paul wußte keine Antwort zu geben; aber als er sah, daß die Frage mit einem gewissen Aerger gestellt worden war und er ein Verbot, ferner hinüber zu gehen, befürchtete, stotterte er in plötzlicher Herzensangst:

Ich lerne etwas, Tante.

So? und was lernst du denn?

Daß man nicht sagen darf, daß ihr alte Schachteln seid.

Man kann denken, daß diese Antwort die kleine Spannung, worin die Familie des Amtsverwalters von S. mit ihren Nachbarn lebte, nicht verminderte; der Aerger darüber war in der That so groß, daß man nicht weiter an Paul dachte und ein Verbot für diesen, die Besuche in dem Nachbargarten fortzusetzen, nicht erfolgte. Paul schlief nun ruhig ein, und schon am andern Morgen stand er im Garten; aber drüben bei den Nachbarn war noch Alles still, die Glasthüre, welche in den Garten führte, und die Jalousien waren noch dicht geschlossen. Vor Abend hatte Paul keine Hoffnung, die fremde Dame zu sehen; erst dann kam sie gewöhnlich, um an dem Springbrunnen in der Mitte des Gartens ihre Brause zu füllen, und ihre Blumenbeete zu begießen. Trotz dem war Paul von nun an oft den ganzen Tag über im Garten; es war wirklich seltsam, wie das Kind hinüber verlangte mit allen Wünschen und Gedanken seiner jungen Seele, zu der freundlichen Dame, die ihm Sträuße wand und seine braunen Locken durch ihre Finger gleiten ließ, die ihm wie die Königin aller der fremden Blumen und exotischen Gewächse mit den langgeschweiften Riesenblättern vorkam, zu deren Pflege er sie im Garten erscheinen sah.

Pauls Freundin war ein junges Mädchen von etwa neunzehn Jahren, groß, dunkeln Haars und mit einem ausdrucks- und gedankenvollen Gesicht. Ihre Schönheit war weniger eine frappante, als fesselnd, wenn man einmal auf sie aufmerksam geworden. Es gibt eine doppelte Schönheit: einmal die, welche durch den Abglanz innerer Hoheit und des innern Geistes hervorgebracht wird, die Schönheit in ihrer Majestät, die siegende, frappante, welche allemal als verkörperter Gedanke vor euch hintritt. Wenn man sagen kann, daß Musik aus einem Menschenantlitz spricht, so ist es bei dieser Art von Schönheit Harmonie. Die andere ist die, welche als Spiegel des Gemüths wirkt, die Schönheit des Leidens oder der Sehnsucht, die fesselnde, welche vor euch tritt als ein verkörpertes Gefühl: die Musik, die ihre Züge hauchen, ist Melodie. Von der letztern Art war die Schönheit, in welche der kleine achtjährige Paul sich vergafft hatte und deren Besitzerin Louise von Meerheim hieß. Denn vergafft hatte er sich in allem Ernst darein: sie füllte seine ganze Seele aus; bei seinen Spielen und den kleinen Bravourstücken, die er im Springen und Klettern ausführte, hatte er nur den Gedanken, was sie dazu sagen würde, wenn sie es sähe; sie wob sich in seine Träume, bald indem ihr mildes Gesicht ihn aus dem Kelch einer Blume anschaute, in dem es auf und nieder tauchte, so daß er sie nun verloren, nun wiedergefunden hatte, bald indem er sie in einem großen Saale stehen sah, wo Hunderte von wunderschönen buntfarbigen Vögeln sie umflatterten und umsangen, die, als er eintrat, alle mit den Flügeln nach ihm schlugen und mit den Schnäbeln hackten, um ihn nicht bis zu ihr dringen zu lassen.

Auf diese erträumten Leiden folgten mit der Zeit wirkliche; der Winter kam und die Abende, die er früher in dem Nachbargarten hatte zubringen dürfen, wurden finster und stürmisch. Louise war in zwei Tagen nicht mehr heruntergekommen; am dritten – es war schon Nachmittag, und während all' der Zeit hatte er sie nicht gesehen – ruhte Paul nicht länger. Er schlich über den Hof vor dem Hause des Großvaters; und nachdem er einen Stein vor die Gitterthüre gelegt hatte, auf den er trat, um mit seinem kurzen Arme bis an die Klinke reichen und sie aufmachen zu können; nachdem dies ohne Schwierigkeit gelungen, der Stein wieder weggetragen war und die Hofhüre sich nun ganz leicht in ihren Angeln drehte, ging er kühn über die Straße bis an den Hof des Nachbarhauses. Auch bis in diesen zu dringen, fand er keine Schwierigkeit; doch wurde sein Schritt sachter und zaghafter, als er über den fremden Hof bis an die Hausthüre ging. Diese war verschlossen; der Schellenzug war zu hoch, als daß er ihn hätte erreichen können; auch hätte er nicht gewagt, ihn zu ziehen, denn was hätte er sagen sollen, wenn nun nicht Louise selbst, sondern nur eine Magd gekommen wäre, um zu öffnen? Er wartete lieber, als ob die Thüre durch irgend ein Wunder von selber aufgehen müsse, um ihn durchschlüpfen zu lassen; und obwol es anfing zu regnen und ein kalter Tag war, fand er, bald die grüngefärbten Bohlen der Thüre, bald den Messinggriff mit dem grinsenden Löwenkopf am Schlosse, bald den Klingelzug betrachtend – Dinge, die alle für ihn noch eine eigenthümliche Physiognomie hatten – gewiß eine halbe Stunde da, wie ein geduldiges Hündchen vor der verschlossenen Kammerthüre seines Herrn. Endlich kam Jemand aus dem Innern und öffnete; es war ein Fremder, der herausging, und als er den Knaben wartend dastehen sah, ihn einließ und darauf die Thüre hinter sich zuzog. Paul stand jetzt allein in dem breiten und langen Corridor, der durch das ganze Haus lief; rechts und links waren Thüren, aber keiner war anzusehen, welche zu Louisens Zimmer führe. Es dämmerte schon stark in dem Gange und desto bleicher und schreckhafter sahen den Knaben zwei hohe weiße Statuen an, die zu beiden Seiten der Hausthüre in Nischen an der Wand standen; am entgegengesetzten Ende des Ganges lag ein großer Hund, der seinen Kopf aufhob und einmal anschlug. Das Kind wurde ängstlich; es wäre gerne wieder hinausgegangen, aber das Thürschloß widerstand seinen schwachen Händchen; der Hund im Hintergrunde hatte sich erhoben und Paul hörte, wie er langsam näher tappte. Der kleine Held, der so kühn auf Abenteuer ausgezogen, fühlte jetzt allen seinen Muth schwinden, stieß einen heftigen Schrei aus, dem ein lautes Gebell des Hundes folgte, und stampfte nun mit seinem Fuße aus Leibeskräften gegen die verschlossene Hausthüre. Das Gesinde eilte herbei, auch Louise kam, und als sie ihren kleinen Freund erkannte, beruhigte sie ihn, trocknete seine Thränen und führte ihn zu ihrer Mutter, einer hohen und streng aussehenden Frau, die ihm Vorwürfe machte, daß er so allein in fremde Häuser gehe. Das Kind ward dadurch so verschüchtert, daß kein Wort mehr aus ihm herauszubringen war; doch als man es zu den Seinen zurückbrachte, hatte der Bediente den Auftrag, im Namen der Frau von Meerheim zu bitten, ob der kleine Paul nicht täglich eine Stunde zu ihrer Tochter herüberkommen dürfe. Da die Spannung, welche zwischen dem alten Herrn v. S. und der Mutter Louisens bestand, nur durch einige kleine Streitigkeiten über die Begrenzung beiderseitiger Nachbarrechte hervorgebracht war, so konnte diese Bitte nicht füglich abgeschlagen werden, und Paul war wieder so glücklich wie früher oder noch glücklicher, da seiner Freundin Bilderbücher, Kanarienvögel, Mährchen und Stickereien ihm jetzt noch lieber waren, als ihre Blumen und ihr Obst im Sommer und Herbst gewesen. Nur zuweilen geschah ihm ein großes Herzeleid: wenn nämlich eine seiner Tanten behauptete, Louise Meerheim sei eine Braut; Paul ward dann jedesmal feuerroth vor Zorn und tobte und schrie, als setze man ihm ein Messer an die Kehle.

Die seltsame Neigung des Kindes hatte etwa ein Jahr lang gedauert und dieselbe Wärme behalten, als Paul bemerkte, daß Louise begann, mit geringerem Interesse seinen Plaudereien zuzuhören und weniger gern in seine Spiele einzugehen. Sie war nachdenklicher geworden, ihr mildes Gesicht wurde weicher und träumerischer, endlich sah Paul sie weinen – ein Anblick, der ihn sofort in ein nicht zu stillendes Schluchzen ausbrechen ließ. Louisens Mutter kam herzu, eine Dame, die bei Paul nicht sehr in Gnaden stand, und fragte streng, ob das Kind unartig sei? Er wurde dadurch beleidigt und verlangte nun, nach Hause geführt zu werden; aber Louisens Thränen ließen ihn Abends lange nicht einschlafen, da er allerhand Racheplane gegen ihre Mutter aussann, welche, wie er glaubte, sie gescholten haben mußte. Am andern Tage, als Paul wieder kam, war ein fremder Herr bei seiner Freundin und ihm wurde der Zutritt verwehrt, eine Maßregel, die ihn unfehlbar zum Revolutionär gemacht hätte, wenn nicht Adrian, der alte Bediente, der ihn führte, den Ausbruch seines kleinen Kummers durch einen weit größern unterdrückt hätte. Er erzählte ihm nämlich, als sie zusammen über die Straße heimgingen, daß Fräulein von Meerheim heirathe, und weit, weit weg in die Fremde ziehe.

Dem war in der That so; es hatte sich ein Freier für sie gefunden, ein Gutsbesitzer von den Küsten der Nordsee, den ein Rechtsstreit eine Zeitlang in die Hauptstadt gezogen hatte. Sein Aeußeres war weder glänzend, noch sehr gewinnend, und jedenfalls anziehender für einen Maler als für eine junge Dame; denn obwol er erst etwa fünfunddreißig Jahre zählte, hatte der Baron Walther von Dietburg doch eine so markierte Physiognomie und so harte Züge, von den scharfen Stirnrunzeln und den dichten schwarzen Brauen über seinen blitzenden Augen, bis zu dem hervortretenden breiten Kinn, daß sich nicht leicht annehmen ließ, ein junges Mädchen habe in ihm ihr Ideal gefunden. Dem sei wie ihm wolle, so viel stand fest, daß man allgemein sagte, Louise von Meerheim werde von ihm auf sein Schloß an der Nordsee, über dessen eigentliche Lage die verschiedensten Gerüchte sich kreuzten, als junge Frau heimgeführt werden. Ob sie gern oder ungern folge – nun, das ließ man um so eher dahingestellt, weil das in jenen guten alten Tagen bei der Verheirathung der Töchter wol nur nebenbei in Betracht kam. Uebrigens wußte man, daß Meerheim's nicht reich waren und daß die alte Frau von Meerheim eine strenge Vertheidigerin der alten Sitte und Weise war.

Als Paul jene Mittheilung von dem alten Adrian erhielt, dämmerte in der Seele des Kindes zum erstenmale eine Ahnung von einem Schmerze auf. Louise sollte fortziehen, sie sollte ihre Blumen, ihre Vögel, ihre Bilder, sie sollte ihn verlassen: sie kam ihm da vor, wie eine vertriebene Königin aus einem ihrer Mährchen, die verwünscht und gefesselt in einem grauen verwitterten Thurm, oder an den stürmischen Wogen eines nebelhaften, düstern Meeres sitze. Allmälig aber gewöhnte sich Paul an den Gedanken, besonders nachdem Louise ihm versprochen, er solle sie besuchen dürfen, um mit ihr auf den Dünen die bunten Muscheln aufzulesen und mit Herrn von Dietburg Halcyone und Möven zu schießen; endlich nahm er eine Einladung zu dem Hochzeitmahl, nach welchem sofort die Abreise des jungen Paars erfolgen sollte, in dem Gedanken an den Hochzeitkuchen und andere gute Dinge mit einer musterhaften Resignation entgegen.

Der Tag dieses Hochzeitmahls war gekommen; die großen, gelb und roth lakierten und in Riemenwerk von ungeheurer Länge hängenden Kutschen rasselten heran; auch der Hofgerichtsamtsverwalter von S. bestieg in feierlicher Galla, in den rothen Mantel seines Oberrichterthums gehüllt, mit seinen Töchtern und Paul eines dieser stattlichen Gebäude, um zwanzig Schritte weiter, an der nächsten Hofthüre, wieder auszusteigen. Die Gäste wurden von der Dame des Hauses sehr gnädig empfangen, und nachdem das junge Paar alle Glückwünsche angehört hatte, von denen mancher sehr zierlich gesetzt war und nicht gewöhnliche Kenntniß der Komplimentenphraseologie verrieth, die, Gott sei Dank! jetzt zu den verschollenen Dingen gehört; nachdem der Hofgerichtsamtsverwalter mehrere Bekanntschaften erneuert, die sein Einsiedlerthum ihm seit Jahren nicht mehr zu Gesichte hatte kommen lassen, und welche alle gefällig genug waren, ihm zu versichern, daß es heute ungewöhnlich schlechtes Wetter sei – nach allem Diesen setzte man sich zu einem sehr feierlichen und ernsten Mahle nieder. Es war nicht allein die geschnürte Sitte jener Tage, die sich geltend machte, auch das eigenthümlich drückende Gefühl bei jedem Hochzeitmahl, welches auf den nächsten und nähern Theilnehmenden lastet, der unbewußte Gedanke an das Entscheidende des Moments, wo die Lebenssonne eines der Unsern in einen neuen Wendekreis tritt und man nicht weiß, ist es das Zeichen der günstigen Jungfrau oder das des bösen Skorpions, welches nun herrschen wird, so daß die tiefer Fühlenden auch aus dem frohen Becherklang und den lustigen Rundgesängen schwermüthige Melodien von Scheiden und Meiden und der Einsamkeit des Menschenherzens heraushören.

Die Braut schien ruhig, obwol nun und dann scheue und ängstliche Blicke aus den Winkeln ihrer Augenlider zuckten; sie sprach wenig, aber ihr Gemahl desto mehr, und zwar bestrebte er sich unter Anderm, mit einer etwas auffallenden Lebhaftigkeit Louisens Mutter die Grundlosigkeit und Gefährlichkeit der Wege anschaulich zu machen, welche von ihrem Wohnort zu seinem Schlosse führten, und die seiner Beschreibung nach so schlecht waren, daß eine ältliche Dame kaum wagen dürfe, sich für eine so klippenreiche Fahrt einzuschiffen.

Louise wird desto öfter zu Ihnen kommen, gnädige Frau Mutter, schloß er und Frau von Meerheim ließ sichtbar verstimmt das Gespräch fallen. Am untern Ende der Tafel saßen mehrere geistliche Herren, deren Unterhaltung nach und nach lauter wurde. Männer dieses Standes zeichneten sich damals, was freilich kein Wunder war, durch ihren frohen Lebensmuth und meist auch durch eine Menge »lepider Stücklein« aus, womit sie die Gesellschaften zu erheitern wußten, deren Zierde und Angelpunkte sie oft waren. Jetzt schien Einer unter ihnen den Andern als Stichblatt für vielfältige Neckereien zu dienen, und weil sie immer lebhafter und rückhaltloser ihren Scherzen freien Lauf ließen, erfuhr endlich die ganze Tischgesellschaft, daß den Herrn Domvikar vor nicht gar langer Zeit in allem Ernst der Teufel habe holen wollen. Einige der Gäste fanden das höchst spaßhaft, andere aber, die des Domvikars Künste kannten und vielleicht auch gläubigern Sinnes waren, und zu ihnen gehörte auch der Amtsverwalter von S., hielten es im Stillen für nicht so undenkbar und glaubten jedenfalls, daß es Geistlichen schlecht anstehe, darüber zu scherzen; Alle aber äußerten die gleiche Neugier nach der nähern Bewandtniß der Sache. – Man war schon am Nachtisch und die schwerern Weine machten die Runde; dies mochte Einfluß auf den Umstand haben, daß der Domvikar, ein großer hagerer Mann mit einer sehr breiten vortretenden Stirne, die wie ein Felsgeklipp seine wasserblauen Augen überragte, sich heute weniger verschlossen zeigte, als er sonst pflegte, und sich endlich bewegen ließ, die folgende zusammenhängende Erzählung zu geben.

Sie wissen Alle, hob er an, indem er langsam den Blick über die Hochzeitgäste schweifen ließ, daß ich auf eine seltsame Art zu einem gewissen Verständniß der Geheimnisse gekommen bin, welche sich in den Zahlen bergen.

Nein, – wie denn? riefen hier mehrere Stimmen, unter denen auch die des Bräutigams war.

Nicht? fuhr der Geistliche fort; nun, dann muß ich weiter ausholen.

Es sind im nächsten Winter drei Jahre, daß ich eines Abends aus einer Gesellschaft heimging; es war spät, die Straßen wie ausgestorben, und dabei herrschte ein Unwetter, wie lange keines mehr erlebt worden. Es schneite und fror und ein scharfer Wind wehte den Schnee an den freien Plätzen zu Bergen auf, daß man bis an den Hals hätte darin versinken können. An der ersten Straßenecke blies er mir meine Handlaterne aus und ich mußte im Dunkeln weiter tappen, so gut es gehen wollte. Endlich gelangte ich an meine Hausthüre; aber als ich den Fuß auf die Treppenstufen setzen will, höre ich ein leises Stöhnen dicht neben mir. Ich will nun nicht sagen, daß ich nicht einigermaßen erschrocken sei; nichts desto weniger aber bückte ich mich, um genauer zuzusehen, und erblickte auch etwas, seitwärts in der Ecke der Treppensteine und der Mauerplinten, nämlich eine zusammengekauerte Gestalt, die halb im Schnee hockte und sich in den Winkel drückte, um einigen Schutz gegen den rauhen und schneidenden Zug zu haben, der durch die Straße ging. Es ächzte und röchelte. Um Gotteswillen, dacht' ich, das ist ja gar ein Mensch, und das in dieser Nacht! – Ich schlug heftig an den Thürklopfer, denn es grauste mir; zwei von meinen Leuten kamen herbei, und so konnten wir denn das armselige Geschöpf, das in einer solchen Nacht keinen bessern Zufluchtsort zu finden wußte, gleich anfassen und ins Haus tragen.

Und was war es? – Nichts als ein alter abgerissener polnischer Jude; es war eine schöne Last, die ich mir aufgebürdet hatte; der Mensch war sterbenskrank. Doch ließ ich ihn ordentlich verpflegen und am andern Tage war er wieder so weit zu Kräften gekommen, daß er anfing, ein vernünftiges Deutsch zu sprechen statt der einzelnen kauderwelschen Worte, die er zuerst ausgestoßen hatte. Am Nachmittage ließ er mich zu sich rufen.

Herr, sagte er, als ich in seine Kammer trat, der Gott Abrahams, der dein Gott ist, wie er ist mein Gott, soll sein mit dir. Ich bin ein armer Jude, aus dem Stamme Benjamin und geboren in der Stadt Krakau, wo du kannst fragen lassen nach Ruben Ben Eliesar, und jeder Handelsmann wird dir sagen können von Ruben, und wo er wohnt, und was ist sein Geschäft. Nun bin ich gekommen in diese Stadt, weil ich reisen wollte zum Rabbi Mailah in Amsterdam; aber ich bin krank geworden in N. und als ich mich habe bis hierher geschleppt durch den Schnee und mit erfrorenen Füßen, habe ich Herberge verlangt von der Judenschaft. Und sieh, sie haben mich gewiesen vor ihre Thüre, so wie man weiset einen Hund in das Wetter und die Nacht hinaus.

Der Jude stieß hierauf unverständliche Worte aus, die nach der Art, wie er sie hervorbrachte, Verwünschungen seiner hartherzigen Glaubensgenossen zu sein schienen. – Ich erfuhr darauf, daß er von einem andern Glaubensbekenntnisse sei wie unsere Juden, eine Art Ketzer, und daß sie ihn deshalb abgewiesen hatten.

Der Kranke, fuhr der Erzähler fort, äußerte gegen mich, er sei ein sterbender Mann und wisse wohl, wie seine Stunden gezählt: er habe in meinem Hause das Kopfkissen seiner letzten Ruhe gefunden. Ein eigenthümlich schlauer Blick forschte dabei aus seinen halbverglasten Augen; als er aber wahrnahm, daß sich meine Züge bei dieser unangenehmen Nachricht nicht veränderten und ich ruhig antwortete: wie Gott will! da richtete er sich lebhaft auf und sagte:

Aber ich will dir lohnen, was du an einem armen Juden thust, und du sollst noch oft gedenken an den sterbenden Ruben Ben Eliesar aus Krakau in Polen, der in deinem Hause seine Urständ erlangt.

Das Sprechen wurde ihm sauer; nach einer Stunde mußte ich wiederkommen und nun erklärte er mir, er wolle mich einweihen in eine seltene Geheimlehre, und ich lernte von ihm die Geheimnisse einer Kunst, von deren Existenz ich früher keine Ahnung gehabt. Am dritten Tage, kurz vor seinem Ende, erfuhr ich auch ihren Namen: sie heißt die Kabbala.

Der Erzähler machte hier eine Pause.

Von den mystisch-theosophischen Lehren der Kabbala, hob er dann wieder an, weiß ich nichts; der Tod ließ dem Alten keine Zeit, sich darüber auszulassen; aber ich kenne ihre wunderbare Zahlensymbolik, die jedenfalls unerklärlich ist. Denn wenn man auch nicht an die Antworten glaubt, welche sie ertheilt, so bleibt doch das ein Wunder, daß sie überhaupt zusammenhängende Antworten gibt.

Der Domvikar wurde jetzt mit Fragen bestürmt, da Jeder über das Wie seiner Berechnungen und über die Fälle, wo er seine Kunst in Anwendung gebracht, belehrt sein wollte. Aber der Geistliche ließ die meisten dieser Fragen unbeantwortet: er hatte über das ganze Verfahren dem sterbenden Juden Stillschweigen gelobt, und beschränkte sich darauf, einige Thatsachen anzuführen, welche er durch seine Kabbala vorausgesagt haben wollte. Mehrere der Anwesenden bestätigten dies; bei einzelnen Fällen war es sogar notorisch geworden.

Und was ist es nun endlich mit dem Teufelholen? fragte Herr von Dietburg, der gespannt zugehört hatte.

Ja so, sagte der Geistliche, eigentlich wollte ich das erzählen, und weil ich's versprochen habe, mag es sein, obwol ich's besser unterließe. Vor wenigen Wochen saß ich Abends spät über meinen Büchern; als ich zwölf Uhr schlagen hörte, stand ich auf, um mich zu Bette zu legen; da sah ich auf meiner Kommode noch die Kabbala stehen, die ich am Tage gebraucht hatte. Es gehören mehrere Figuren dazu, die ich nach der Anweisung des Juden mir angefertigt habe. Nun kam mir plötzlich, ich weiß selbst nicht wie, der Gedanke, weshalb ich denn die Kabbala noch nicht befragt, wer wol ihr Erfinder sei; und gereizt von Neugier nehme ich die Figuren und stelle die Zahlen zusammen zu der Frage: » Quis est, qui cabbalam invenit?« Wer ist's, der die Kabbala erfunden hat? – Die Antwort blieb nicht aus, sie lautete: » Ne tam imprudenter quaeras! Frage nicht so fürwitzig.)« – Nun werden Sie alle mir zugeben, daß von bloßen zusammengestellten Zahlen und hölzernen Figuren das eine höchst auffallende Antwort ist, und daß, wenn man sie auf so geheimnißvolle Weise in der Zeit, die Niemandes Freund ist, in der Mitternachtsstunde, und in einer einsamen, an den Kirchhof stoßenden Stube erhält, auch einen gesetzten Mann ein Grausen anwandeln darf. Trotz dem ließ ich nicht nach, meine Neugier war nur desto höher gespannt, und ich stellte, wenn auch mit etwas stärker klopfendem Herzen, noch einmal die Frage: » Quis est, qui cabbalam invenit?« – Der Geistliche machte eine Pause; er blickte sich um und es konnte Niemandem entgehen, wie ein Auge einen starrern Ausdruck als gewöhnlich hatte. Die Antwort war, hob er dann wieder an: » Ecce, in dorso stat. Sieh, er steht dir im Rücken.

Die Gesellschaft schwieg unter dem augenscheinlichen Einfluß eines tüchtigen Gespensterschauers; nur einer der Gäste fragte hastig für alle übrigen:

Aber was thaten Sie jetzt?

Der Erzähler antwortete nicht; statt seiner sagte einer der andern Geistlichen:

Er hat die Hände an die Augen gehalten wie ein Paar Scheuklappen, ist geradeaus schreiend aus dem Zimmer, durchs Haus, zur Thüre hinaus, in die Kirche gelaufen, und hier erst, am Altar, hat er gewagt, sich umzuwenden und zu sehen. Da hat ihm freilich Niemand mehr im Rücken gestanden.

Der Domvikar schüttelte hierzu den Kopf, Herr v. Dietburg brach in ein Gelächter aus, der Hofgerichtsamtsverwalter von S. aber erhob sich und flüsterte zornig einer seiner Töchter zu, die ganze Geschichte sei abgekartet und lauter Bosheit gegen ihn, da man wisse, daß er solche haarsträubende Geschichten, die Einen das ganze Nervensystem zerrütteten, nicht leiden könne. Er machte der Hausfrau eine sehr abgemessene Verbeugung, in welche er einen starken Ausdruck von Unwillen gelegt zu haben sich schmeichelte, und zog sich mit seiner Familie zurück.

Paul fühlte, ehe er hatte Abschied nehmen können von Louisen, an deren Seite er während des Deserts saß, eine Hand, die seinen Arm ergriff und ihn hinter einem Großvater her sehr rasch der wartenden Carrosse zuschleppte. Eine Stunde später sah er vom Fenster aus, wie ein schwerbepackter Reisewagen mit seiner Freundin langsam aus dem benachbarten Hofthor lenkte und dann rasch dahinrollte, der fernen Fremde zu, die ihr eine neue Heimat werden sollte. Die Wimpern des Kindes waren feucht, und als der Wagen um die nächste Ecke verschwunden war, lief Paul in den Garten hinab, wo erst spät am Abend Adrian ihn schluchzend auf dem Rasen liegend fand.

Unterdeß hatten sich auch die übrigen Hochzeitgäste längst zerstreut. Unter den letzten war der Domvikar gewesen. Als er der Dame des Hauses seine Verbeugung machte, um sich zu verabschieden, hatte Frau von Meerheim ihn in eine Fensterbrüstung gezogen.

Herr Vikar, sagte sie, und der Angeredete bemerkte eine gewisse Bewegung in ihrer Stimme, obwol ihre Züge denselben harten und strengen Ausdruck hatten, der für sie charakteristisch war, Herr Vikar, es kann Sie nicht befremden, wenn eine Mutter an einem Tage, wie der heutige für mich ist, einige Besorgniß in Beziehung auf das Schicksal ihrer Tochter hegt. Nicht, daß ich nicht das vollste Vertrauen auf meinen Schwiegersohn setzte; ich weiß sogar, daß meine Sorge eine ganz nichtige ist, und eben darum mag sie auch mit nichtigen Dingen beschwichtigt werden. Ich bitte Sie, fragen Sie einmal Ihr Orakel über die Zukunft meiner Tochter.

Der Vikar sagte dies gerne zu und noch derselbe Abend sah ihn in der einsamen Stube, in welcher vor Kurzem ein so mysteriöser und unheimlicher Besuch bei ihm eingekehrt war, über seinen Zahlen sitzen. Er hat Frau von Meerheim nie die Antwort mitgetheilt, welche ihm die Kabbala offenbarte. Nur seinen vertrautesten Freunden soll er gesagt haben, daß, als er nach der Zukunft der an jenem Tage vermählten Braut gefragt, der Schicksalsspruch gelautet habe: In zwei Jahren wird der Tod ihr zweiter Bräutigam sein.

Woche nach Woche und Monat nach Monat verging, ohne daß Paul von seinem Großvater die Erlaubniß auswirken konnte, nach der Nordsee zu reisen, um bunte Muscheln auf den Dünen zu sammeln und Halcyone zu schießen. Er wuchs heran und wurde jetzt in die Schule geschickt; aber die Zeit war nicht im Stande, aus seinem Gedächtnisse das milde und schöne Gesicht seiner Herzensfreundin zu verwischen, noch irgend ein neuer Zeitvertreib, ihn von seinem Lieblingsspielplatze in Frau von Meerheim's Garten wegzulocken, wo er jetzt all' die schönen Blumen, welche sie einst gepflegt, verwelken und verkommen sah, als fehle dem Eisenhut die Dame, in deren Dienst er an der Sonne glänzte, der Maienglocke die träumerische Elfe, welche ihr Geläute verstand. – Pauls liebster Umgang wurde der alte Adrian; dieser war der Einzige, welcher ihm etwas von dem jetzigen Aufenthalt Louisens erzählen konnte; er hatte Bekanntschaft mit dem Bedienten ihres Mannes gemacht und wußte nun jeden Tag mehr zu erzählen, was er Alles von diesem erfahren haben wollte; wie der Baron Dietburg so reich sei und wie er auf einem festen großen alten Schlosse wohne, wohin fast niemand Fremdes komme, da es ganz einsam am Meere liege, so daß die Wogen es fast bespülten; und wie er Herr von Allem sei, was das Wasser an dem ganzen Küstenstriche ans Land werfe. Dadurch sei er so reich geworden, denn wenn im Herbst und Frühjahr die Aequinoktialstürme wehten, gingen jedesmal eine Menge Schiffe zu Grunde; Nachts höre man dann im Schlosse das Hülferufen und das Angstgeschrei der Ertrinkenden laut das Rauschen der Brandung durchgellen; es sei aber ganz gleich, ob sie ans Ufer kämen und sich retteten oder nicht; ihre gescheiterte Habe gehöre doch dem Grundherrn. Das nenne man das Strandrecht.

In der Phantasie des Kindes regten diese Erzählungen eine Menge theils angenehmer, theils beunruhigender Bilder auf. Sie versetzten ihn an das Meer mit seinem Wogengebrüll, mit der Gewaltigkeit aller seiner Erscheinungen, mit der großartigen Fülle von lebendigen Gestaltungen in seinem Schooß. Er sah die Schiffe mit den schimmernden Segeln am fernen Horizont nach neuen Welten ausziehen; dabei tauchte die ganze seltsam öde und doch so romantische Physiognomie einer nordischen Meeresküste in dämmernden Umrissen vor ihm auf: Sanddünen mit der sich sonnenden Robbenheerde, weite Föhrenwaldungen, alte, graue Schlösser, auf einzelnen Klippenhöhen wie eine Fata Morgana über deren Wogen stehend; dazu das Lied des Fischers, der seine umgekippte Barke am Ufer kalfatert und dessen Weisen so voll tiefer, einsam klagender Trauer sind, wie der Schrei der Möve über den Wassern. – Er dachte aber auch an seine Freundin, und welche Schrecken es in ihre Nächte werfen müsse, wenn das Hülferufen armer Schiffbrüchiger zugleich mit dem Toten der Brandung ihr Ohr erreiche.

Von ihr selbst hörte er nichts, auch wer sonst noch Theil an ihr nahm, hörte nichts. Frau von Meerheim, die jetzt allein ihr großes Haus bewohnte, lebte eingezogener als je; ihre Züge wurden noch ernster und trüber, als sie vorher gewesen, sie selbst schweigsamer und düsterer. Die Wenigen, welche in ihre Nähe kamen, behaupteten, es müsse wol ein geheimer Kummer an ihr nagen. Fragen über ihre Tochter pflegte sie durch unbestimmte Antworten auszuweichen.

Eines Tags – es mochten etwa zwei Jahre seit dem Hochzeitfeste verflossen sein, welches wir beschrieben haben – kehrte Paul den Donat unter dem Arm, aus der Schule heim. Als er die Blicke auf die Hausthüre warf, vor welcher er einst so geduldig eine halbe Stunde sich hatte naß regnen lassen, bemerkte er etwas Ungewöhnliches darüber; er trat näher hinzu und sah nun, das es ein großes schwarzes rautenförmiges Schild war. In der Mitte war mit bunten Farben ein prächtiges Wappen gemalt und umher fand mit goldenen Buchstaben zu lesen: Louise Amalie Reichsfreifrau v. Dietburg geb. Freiin v. Meerheim, geb. zu M. den 9. März 1757, gest. zu Schloß Dietburg den 9. Decbr. 1779.



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