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VII.

Der Morgen war schön und klar herangebrochen, aber ein kühler, starker Wind strich durchs Tal und jagte Scharen vergilbender Blätter um das Gebäude, und durch die geöffneten Fenster im Wohnzimmer stieß er die weit sich aufblähenden Vorhänge ins Innere hinein.

»Du mußt dein warmes Tuch mitnehmen und über den Mantel anlegen, Ludgarde,« sagte Brigitte vorsorglich, während sie ging, die Fenster zu schließen.

»Gewiß, gewiß,« entgegnete Ludgarde ungeduldig; »hole es nur herbei, ich will sehen, wo Franz mit dem Break bleibt. Was hast du?«

»Ich sehe da einen Menschen sehr eilig den Pfad von der Höhe niederkommen, auf die Brücke zu – als ob er zu uns wolle.«

»Mag er,« versetzte Ludgarde sorglos und ging hinaus in den Flur, um nach dem säumigen Franz zu schauen. Als sie auf den Perron vor dem Portal hinaustrat, blieb sie aber doch betroffen stehen. Sie erkannte in dem Mann, der jetzt schon von der Brücke her auf sie zukam, eine bekannte Gestalt, einen Menschen, der halb Schreiber, halb Ausläufer des Justizrats war, und ihr schon öfter Mitteilungen von diesem gebracht hatte.

»Was habt Ihr denn, Wessel, daß Ihr so eilig dahergestelzt kommt?« rief sie ihm entgegen.

Der Mann griff in seine Brusttasche und holte einen Brief heraus.

»Vom Herrn Justizrat,« versetzte Wessel, den Brief überreichend. »Der Herr Justizrat sagte, er könne selbst nicht kommen, weil er Termin habe heut' morgen, und dürfe auch mit diesem Briefe nicht warten, bis heut' abend die Post gehe; ich solle ihn gleich zu Ihnen hinaustragen.«

»So geht in die Küche und laßt Euch da einen Trunk geben,« erwiderte Ludgarde und erbrach, während er ging, den Brief.

Sie las die ersten Zeilen, und dann begann furchtbar ihre Hand zu zittern, ihr Atem zu fliegen; die Augen, die den weiteren Inhalt überflogen, erweiterten sich, ihre linke Hand streckte sich nach der Einfassung der Portaltür aus, um sich daran zu stützen und aufrecht zu halten, und totenbleich wandte sie sich endlich, um mit brechenden Knien schwankend zu Brigitte zurückzukehren.

»Um Gottes willen, was hast du, Ludgarde, was ist geschehen?« rief diese bei ihrem Anblick aus.

Sie streckte ihr den Brief hin und ließ sich lautlos in einen Sessel sinken. Brigitte verschlang mit den Augen den Brief. Er lautete:

»Verehrtes Gnädiges – was ich Ihnen zu melden habe, ist um an der Welt zu verzweifeln, um hinter jedem ehrlichen Gesicht eine Canaillennatur zu suchen; der Mensch, der sich Max Wendt nannte, der sich mit einer Empfehlung von einem befreundeten Kollegen bei mir einführte, ist – ein ganz infamer Lügner, Schleicher und Kujon – wissen Sie, wer er ist? Niemand anders als Ihr Prozeßgegner, niemand anders als der Feind, der Ihnen Nyvenheim rauben will, niemand anders als Herr Max von Dalhausen-Hasberg! Gestern abend schon ist mir die Sache zu Ohren gekommen; heut' in der frühesten Frühe hat der Doktor mir alles genau bestätigt. In der Dämmerung gestern ist eine Extrapost vor unserm Gasthof vorgefahren; ein starker, breitschulteriger, herrisch auftretender alter Herr, dem man den Major a. D. auf eine halbe Stunde weit angesehen, ist daraus gestiegen, einen kleineren mit einer kahlen Glatze und einer goldenen Brille hinter sich, und zu dritt ein langer Lakai; die Herren haben sofort zu dem Verwundeten geführt zu werden verlangt; nach einer Viertelstunde ist unser Doktor hingekommen, und da ist denn die Bombe geplatzt: ›Mein lieber Herr Doktor,‹ hatte der Alte gesagt, ›ich danke Ihnen für die bisherige Behandlung meines Sohnes – ich bin der Freiherr von Dalhausen-Hasberg. Mein Sohn, der hier eine Angelegenheit zu betreiben hatte, hat dies unter einem fremden Namen zu tun vorgezogen; aber das ist nun weiter nicht nötig, und ich habe die Ungeduld bekommen, weil die Heilung sich so lange hinzieht. Der Medizinalrat hier – Herr Medizinalrat Friedrichs – hat den Zustand meines Sohnes untersucht und glaubt auch, es ist am besten, ich nehme ihn mit mir in die Stadt, in mein Haus, wo er eine ganz andere Pflege hat. Sie sind einverstanden, Doktor, daß die Reise ihm nicht mehr schadet?'

Einverstanden – wie hätte unser Doktor nicht einverstanden sein sollen, einem solchen Herrn gegenüber! Einem Herrn Medizinalrat mit einer so gelehrten Glatze und einer so großen goldenen Brille gegenüber, hinter der er eine kollegialisch warme Bereitwilligkeit, ihn für einen beklagenswerten Pfuscher zu erklären, vermuten konnte! Natürlich ist er einverstanden gewesen, hat dem Alten eine formidable Rechnung gemacht und – nun, das ist die ganze Geschichte. Sie sind diesen Morgen in der Frühe von hier abkutschiert. Se. Gestrengen Gnaden der Herr Freiherr, Ihre Wohlgelahrtheit die goldene Brille, Se. Pfiffigkeit der Herr Sohn und Se. Stupidität der Herr Lakai. Hol' sie dieser und jener! Herr Max Wendt hat also nichts hier wollen, als sich einschleichen ins Herz der feindlichen Festung, ihr Archiv sich öffnen lassen, sich in Besitz allen nötigen Materials setzen, um unsere Behauptungen, alles und jedes, was wir in der nächsten Instanz vorbringen können, zurückzuschlagen – ist solch eine niederträchtige Perfidie je erhört? Ich hoffe, Sie kommen den Nachmittag heraus, damit wir weiteres besprechen. Urkunden Ihres Archivs in seine Tasche gleiten lassen wird er nicht gewagt haben. Aber sehen Sie nach! In Eile Ihr ergebenster Greving.«

Das war des Justizrats Brief. Brigitte legte ihn auf den Tisch, faltete die Hände, sah stumm auf Ludgarde, die wie ein starres Jammerbild dasaß, und sagte endlich:

»Etwas Schrecklicheres ist doch nicht erhört worden!«

»Nein!« stieß Ludgarde heftig hervor. »Etwas Schrecklicheres nicht!«

Und nun atmete sie lange heftig auf und, erhob die Hände, als ob sie etwas tun, etwas Gewaltsames vornehmen, etwas zerbrechen wolle, und sank dann mit einem herzbrechenden Klageschrei, mit einem »O mein Gott!« wie vernichtet in ihren Sessel zurück.

Brigitte kniete geängstet neben ihr, und ergriff ihre herabhängende Hand und drückte sie mit ihren beiden: sie legte leis und stumm ihre Wange darauf, als ob sie so Ludgardens inneren Sturm beschwichtigen könne.

»Wir sind ein Paar arme, unbeschützte Frauen,« flüsterte in der Tat, wie gefaßter, nach einer Weile Ludgarde, als sie ihre Hand naß werden fühlte von dem Weinen der guten Brigitte. »Wir müssen es hinnehmen, es uns gefallen lassen.«

»Wenn doch nur dein Bruder Hugo noch lebte!«

Ludgarde antwortete darauf nicht. Sie starrte vor sich hin, sie sprach lange, lange Zeit keine Silbe mehr. Brigitten wurde ganz ängstlich dabei zumute; sie begann trösten zu wollen.

»Es ist schrecklich, solche Täuschung zu erfahren!« sagte sie. »Schrecklich, daß es solche Schlechtigkeit in der Welt gibt! Aber wir müssen es verwinden. Es muß doch gut um den Prozeß stehen. Die Hasbergs müssen sich doch sehr schwach fühlen, wenn sie zu solchen Mitteln greifen!«

Der Gedanke machte auf Ludgarde keinen Eindruck; sie schien gar nicht auf Brigitte zu hören. Sie starrte fortwährend wie ganz abwesend die Fensterecke vor ihr an. Jene zog ihr Tuch hervor und fuhr damit zu den Augen. Im Zimmer wurde es still, lautlos, daß man die Wanduhr ticken hörte. Draußen flogen, vom stärker werdenden Winde geworfen, die gelben Blätter an die Scheiben.

»Es könnte einem das Leben verleiden in solch einer Welt!« flüsterte endlich Brigitte vor sich hin – »dieser Mensch ein Schurke! Er sah aus wie das redliche Wollen selber – so bescheiden ruhig wie das gute Gewissen. Freilich, wenn der den Lügner spielen will – ihm muß es gelingen, die Menschen zu hintergehen! O, welche Welt ist dies! Daß solche Verdorbenheit uns armen Weibern bis hierher, in diese stille Abgeschiedenheit nachgeschlichen kommen muß – das Leben könnte es einem verleiden!«

Ludgarde antwortete auf das alles nicht.

»Wunderlich auch, daß der alte Hasberg so gar keine Rücksicht auf seinen Sohn genommen, und dem Doktor so brüsk herausgesagt hat, wer er ist – er hätte seines Sohnes schlechtes Benehmen – alle Leute werden doch sagen, daß er ein ganz gemeinschlechter Mensch ist – nicht so öffentlich machen, ihm nicht hier gleich die Maske abzureißen brauchen!«

Ludgarde antwortete auch darauf nicht. Erst als Brigitte nun fortfuhr: »Du wirst nun wohl bald hinüberfahren zu Greving,« antwortete sie mit bitterem Ton:

»Wozu?«

»Wir müssen doch das Nähere hören; auch mußt du hören, was nun zu tun ist, was Greving für Mittel hat, um dich zu schützen ...«

»Wozu das alles! Wozu?« antwortete Ludgarde nur, stand tief aufseufzend auf, und nachdem sie einige Schritte durch das Zimmer gemacht, ging sie hinaus, als ob sie allein mit sich sein wolle.

Sie ging zum Hause hinaus ins Freie, über die Brücke; Brigitte sah geängstigt, wie sie den Weg zum Walde, den sie am gestrigen Abend gemacht hatte, einschlug.

»Gott nehme das arme Kind in seinen Schutz!« lispelte Brigitte vor sich hin, die Hände faltend, gebrochen in allem Lebensmut.

In ihrem Lebensmut völlig gebrochen war auch Ludgarde. Es ist ein furchtbar verhängnisvoller Augenblick, in welchem ein reines, stark empfindendes Gemüt zum erstenmal in seinem Leben auf das Schlechte, Böse stößt, und dies ihm entgegentritt in Menschen, die es hochgehalten, geliebt hat. Es ist ein Niederstürzen von lichten, sonnigen Höhen in eine schmutzige Tiefe. Und mit ihm tritt eine moralische Verfinsterung des Lebens ein, wie die Welt nur noch fahle, unheimliche Farben zeigt, wenn die Sonne sich verfinstert.

Ludgarde hatte diesen Eindruck im stärksten Maße. Das Schlechte forderte sie nicht zum zornigen Widerstande, zum Kampf heraus; es zeigte ihr die Welt in einem Lichte, wo Kämpfen, Widerstand sich nicht der Mühe lohnte. »Wozu?« hatte sie Brigitte geantwortet, und dies Wozu? ward jetzt das Echo ihrer Seele auf jede Stimme, die in ihr laut wurde. Verloren war ja doch nun einmal für sie alles: ihr Herz an einen schlechten Menschen, ihre Glückshoffnung, ihr Zukunftstraum! Sollte sie etwa ihres Gutes willen noch leben? Auch das war sicherlich verloren! Wenn er solche Mittel gebrauchte! Wie war es dawider zu retten?

Nach und nach versank sie in etwas wie einen traumhaften Zustand; die Heftigkeit ihres Empfindens milderte sich in eine gewisse moralische Erstarrung. Die Stunden verflogen ihr, ohne daß sie sich dessen bewußt wurde, und wäre Brigitte mit ihren Mahnungen nicht gewesen, sie hätte nicht Nahrung zu sich genommen, sich nicht zur Ruhe gelegt, und wohl auch kein Wort geredet, den langen Tag hindurch.

So verging der erste, vergingen die nächsten Tage.

Und dann, allmählich erwachend aus ihrem Zustande, worin ihre Gedanken so kurz waren, wie der Atem eines Schmerzgequälten kurz ist, erschrak Ludgarde innerlich über sich selber.

Sie erschrak darüber, daß sie keinen Haß, keinen energischen Zorn empfinde wider das, was ihr angetan worden, daß es ihr eine unangenehme, ihren Widerspruch herausfordernde Ausdrucksweise war, welche Brigitte hatte, wenn sie von Max Hasberg und seinem Benehmen sprach. Dies ging so weit, daß sie ihr endlich heftig erwiderte:

»Nun, was hat er denn getan? Du weißt doch, daß er verlobt ist, daß seine Verbindung abhängt von seinem Besitz von Nyvenheim. Vielleicht hat die Braut, die er liebt, ihm geraten und ist in ihn gedrungen, solch ein Mittel nicht zu scheuen, um besser dem Widerstande einer gestörten Person, wie ich bin« – Ludgarde sprach das mit unendlicher Bitterkeit – »ein Ende zu machen.«

Brigitte war starr über diese Verteidigung; sie verstummte ihr gegenüber, um Ludgarde nicht durch Widerspruch zu reizen.

Und doch war es eine verhängnisvolle Gedankenreihe, der sich damit das junge Mädchen hingab.

Sie entschuldigte Max, sie nahm ihn in ihren Gedanken in Schutz; sie grübelte über allem dem, was ihn rechtfertigen könne; und dann, als sie sich plötzlich bewußt wurde und aussprach, wie leidenschaftlich sie das tue, war ihr, als ob sie auf eine Schlange getreten. War es nicht etwas ganz Unerhörtes, Wahnsinniges, daß sie noch an ihm mit all ihren Gedanken hing; daß sie ihn nicht mit tiefster Verachtung von sich stoßen konnte? Sein Bild stand ewig noch vor ihren Sinnen. Es war schrecklich! Sie wollte nicht mehr an ihn denken. Sie wollte ihn verachten! Es war töricht, nein, jämmerlich, es war unsäglich charakterlos und erbärmlich, sich noch um einen Mann zu kümmern, der so gehandelt hatte! Hatte jemals ein Frauenherz so empfunden? Wo war ihre Vernunft? Wo war alles Rechtsgefühl in ihr? Wo war all ihr Stolz? Es war empörend – es war, um sich selbst aufs tiefste zu verachten. Sie kämpfte mit sich einen harten Kampf; sie klammerte sich an alle Gründe, welche die Vernunft ihr geben konnte, ihr Herz von diesem Manne loszureißen, der ihr für ihr Leben nichts, gar nichts mehr sein konnte. Aber sie unterlag in diesem Kampfe; das Bewußtsein ließ sich nicht austilgen, daß sie ihn nie in ihrem Leben vergessen, nie von seinem Bilde frei werden könne.

Und nun brachte diese Sklaverei des Herzens, die das rätselhafte Phänomen der großen Leidenschaft ist, eine furchtbar bittere Stunde über sie. Mit dem Geständnis, daß alle Klarheit der Vernunft, alles, was der Verstand ihr sagte, keine Macht über ihr Fühlen, Empfinden und ihr innerstes Denken habe, kam ihr der Gedanke, daß sie in der Tat eine Gestörte sei.

Dieser Gedanke kam ihr an einem Tage, wo sie in den Nachmittagstunden, von Brigitte daran gemahnt, sich aufgemacht hatte, um eine kranke, alte Frau zu besuchen, die in einer Hütte ganz am andern Ende des Dorfes wohnte und die gewohnt war, Ludgarde von Zeit zu Zeit erscheinen zu sehen, um ihr allerlei Stärkungsmittel und ihren Zuspruch zu bringen.

Es war wiederum ein trüber, sehr stürmischer Tag. Ludgarde schritt durch die Lindenallee, mit dem Winde kämpfend, eng in ihr Tuch gehüllt, dahin und schritt und schritt, ohne die ersten Häuser des Dorfes zu erreichen. Aber sie dachte nicht an diese Häuser, nicht an das Dorf. Unbewußt auch blieb es ihr, daß sie nach einer Weile nicht mehr mit dem Winde zu kämpfen hatte, sondern dieser sie wie mit seinen Schwingen vorwärts trug. So ging sie weiter und weiter in den immer mehr ergrauenden Tag hinein. Am Ende stand sie still, zu einem Gemäuer aufblickend, das rechts von ihr dicht am Wege sich erhob – eine Krähe, die laut schreiend vom Dach des kleinen alten Bauwerkes niederschoß und dicht vor ihr vorüberflog, hatte sie aus ihren brütenden Gedanken aufgeschreckt.

»Die alte Siechenhauskapelle!« sagte sie sich, das verfallende Gemäuer anstarrend. »Wolltest du denn hierher – zu dieser Kapelle? Du wolltest – ja richtig, du wolltest zur kranken Else – und nun bist du hier? Auf dem ganz entgegengesetzten Wege! Mein Gott – wie schrecklich ist das! Du weißt nicht mehr, was du tust. Dein Verstand ist dahin – du bist nicht mehr Herrin deiner Gedanken – du bist auf dem Wege zum Wahnsinn ... ja, du bist es, die Menschen, die es dir nachgesagt – o die Menschen haben recht!«

Gewiß und ohne Zweifel, was die Menschen ihr nachgeredet, es war wahr. Sie war nicht klug mit ihrer Liebe für einen Unwürdigen. Sie wäre ja auch verächtlich gewesen, wenn es nicht so war. So aber stand sie unter einem furchtbaren Schicksal – sie war eine Wahnsinnige. Sie ging einer schaurigen Zukunft entgegen. Ihr Wahnsinn – wächst nicht der Wahnsinn, von einer fixen Idee beginnend, immer höher und höher bis zur Vernichtung alles dessen, was noch menschlich in uns ist? – ihr Wahnsinn mußte sich auch bald ihrer Umgebung enthüllen; mußte sich entwickeln, mußte sie – o Gott, in welche Zustände, in welches Elend führen!

Es war ein grauenhafter Kampf, in welchem Ludgarde mit solchen Gedanken rang – und, wie gesagt, unterlag. Sie versank in einen Zustand, worin die Kraft zu kämpfen ihr schwand, wie der Wille und der Mut zu kämpfen. Wozu auch – ihre junge Seele bedurfte der Liebe, dürstete nach Liebe. Wie ein warmer Himmelshauch hatte es sie einmal angeweht; eine innere Seligkeit hatte mit leisem Wellenschlag ihr Herz durchflutet – wenige Stunden hindurch – und nun war es zu Ende. Niemand auf Erden liebte sie; niemand konnte sie lieben. Sie mußte ein Schrecken für die Menschen werden. Denn sie war ja, was diese sie nannten – wahnsinnig! Nicht ein großer, phantastischer, dichterischer Wahngedanke, vor dem man Ehrfurcht haben kann, der Wahnsinn eines Lear, eines Menschen, der einen Gott in sich fühlt, war es, der sie über die Realität und die festen Schranken der Dinge hinwegtrug, in eine Region glücklicher Illusionen und Einbildungen. Nein, es war ein jämmerlicher, verächtlicher, demütigender Liebeswahnsinn, der sie an die Gestalt eines Unwürdigen festbannte, der sie taub für die Gründe der Vernunft, taub für die Stimme ihres Mädchenstolzes machte und sich wegwerfen ließ mit allem Besten ihrer Seele!

Hätte Ludgarde in den Tagen, worin sie so mit sich haderte, eine Menschenseele, sich ihr anzuvertrauen, gehabt, vielleicht hätte alles eine andere Wendung bekommen. Aber sie war ja auch gewohnt, so vieles allein durchzukämpfen. Und jetzt schloß ihr vollends, selbst ihrer treuen Brigitte gegenüber, die Schrecklichkeit dessen, was in ihr vorging, den Mund. So konnte ihr kein tröstendes Wort, das ihr von der Allgemeinheit eines solchen bösen Zaubers, dem jede Leidenschaft in einer tiefgründigen Natur unterliegt, gesprochen, Öl auf die Wogen ihrer Seele gießen – und Ludgarde blieb sich und ihren verhängnisvollen Entschlüssen allein überlassen.

Ludgarde wollte nicht weiter leben. Wozu? Um länger Qualen der Eifersucht gegen – seine Braut zu empfinden? Es war zu unwürdig. Um den Menschen – und auch ihm ein Schrecken, ein Bild, das nur Abscheu hervorrief, zu werden? Es war am besten, sie endete. Damit rächte sie sich ja auch an ihm, und tat ihm wohl zu gleicher Zeit. Sie endete damit allen Streit: er konnte sein junges Weib, die Bankierstochter, er konnte sie heimführen.


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