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II.

Am nächsten Vormittage trabte unser junger Jurist auf einem eleganten und wohlgepflegten Tiere derselben Straße nach, welche wir gestern das Fräulein kommen sahen – nur in entgegengesetzter Richtung. Als er eine kleine Stunde weit der Chaussee gefolgt war, begann die letztere sich in langsamer Steigung zu erheben und eine breite, kaum Berg zu nennende Hügelwellung hinanzuziehen. Oben auf der Höhe angekommen, sah unser Reiter jedoch, daß sie bedeutend genug war, um eine Scheidung im Charakter der Landschaft zu bewirken. Er blickte von der Höhe hinab in ein sehr freundliches, muldenförmiges Tal, welches der laubholzbedeckte Höhenzug nach rechts und links hin wie mit hegenden Armen umfaßte. Die Chaussee lief mitten durch die Talmulde hindurch, in anmutigen Schlangenlinien, und wand sich mit einer gefälligen Nachgiebigkeit durch die regellos zusammengestellten Häuser eines Dorfes, das sich dann rechts von derselben weiter hinzog und um eine altersgraue Kirche gruppierte. Links, etwa zehn Minuten vom Dorfe entfernt, lag das Gut, welches das Ziel des Reiters war; ein Handweiser, der auf der Höhe stand, zeigte mit dem einen Arme darauf, um anzudeuten, daß der sich hier linkshin abzweigende breite Fußweg dahin führe.

Der junge Mann folgte diesem Fußwege, der sehr hübsch durch Wald und Gebüsch und über kurze Waldwiesen führte; an einem wunderlich gestalteten alten Steinkreuze gelangte er in eine vom Dorf zum Edelhofe führende Allee. Unser Reiter hielt hier; denn jetzt, so nahe vor dem Orte angekommen, mußte er sich gestehen, daß dieses ein reizendes Bild darstelle, das er sich einprägen zu wollen schien. Ein kleiner See lag links, und in schmaleren Armen sich fortsetzend, umschloß er das inselartig, unter prachtvollen alten Bäumen, inmitten von Rasenanlagen mit Blumenstücken daliegende Herrenhaus. Alle Nebengebäude schienen hinter den Bäumen versteckt zu sein; man sah nur das Herrenhaus, mit einem hohen, von Sandsteinarbeiten geschmückten Giebel über dem Portal und einem schönen, alten Turm, der seinen Fuß in das blanke Gewässer des Sees stellte. Außer diesem Turm mochte das nur ein hohes Erdgeschoß über Souterrains zeigende, im Rohbau aufgeführte Gebäude aus dem vorigen Jahrhundert stammen.

Unser Reiter versenkte sich eine Weile in das hübsche Bild und gelangte dann über eine lange Steinbrücke vor das Portal; ein Knecht nahm ihm sein Pferd ab, und eine ältliche Dame, noch beschäftigt, die Haubenbänder unter dem Kinn in eine anständige Schleife zu bringen, erschien unter der offen stehenden Tür.

»Herr Wendt?« sagte sie lächelnd, statt ihn mit dem zu erwartenden altmodischen Knicks zu begrüßen; sie mochte das Lächeln, das sie über ihre ernsten, hageren und langgezogenen Züge gleiten ließ, für eine hinreichend verbindliche Begrüßung solch eines Geschäftsmannes halten. Dann wandte sie sich, nach einem neugierig prüfenden Blick auf den Ankömmling, und geleitete ihn mit den Worten: »Bitte, treten Sie ein, Herr Wendt!« ins Innere. Zunächst in ein an den schmalen Flur stoßendes dunkelgetäfeltes, großes Gemach, das sich als das Eßzimmer des Hauses kennzeichnete; auf dem ovalen Tisch in der Mitte standen einige Erfrischungen auf Platten und in Schalen von altertümlich getriebenem Silber aufgestellt.

»Sie werden einer Erfrischung nach Ihrem Ritte bedürfen,« sagte die Dame jetzt mit einem Versuche zu einer kleinen Verbeugung, »das Fräulein läßt Sie bitten; Sie werden einen kleinen Kampf mit Staub und Dust unter unsern alten Papieren zu bestehen haben, der eine Vorbereitung rätlich macht.«

Der Ankömmling schien eine Erwiderung auf diese freundliche Einladung nicht für nötig zu halten. Er nahm stumm und wie zerstreut ein Glas Wein an – leerte es halb und sagte dann, als ob er nun hinreichend der Höflichkeit genügt:

»Würden Sie die Güte haben, mich zu diesen Papieren zu führen?«

»Wenn Sie mir folgen wollen, mit Vergnügen, das Archiv ist ganz in unserer Nähe hier,« versetzte die Dame und schritt der gegenüberliegenden Tür zu, durch welche man in einen langen, galerieartigen Raum von geringer Breite trat; an eine Galerie erinnerte auch der Raum durch die Menge von Gemälden, welche fast sämtlich noch ohne Rahmen an der Wand den Fenstern gegenüber hingen. Es waren Bilder offenbar neueren Datums; Landschaften oder Genrebilder, mit einem allen gemeinsamen Vorherrschen greller und unharmonischer Farben.

»Wer hat denn all' diese Bilder gemalt?« fragte Max Wendt, indem er sein Auge aufmerksam über die wunderlichen Kunstleistungen gleiten ließ.

»Werke unsers armen jungen Herrn,« fiel die Dame mit einer Verklärung ihrer strengen Züge ein, die zeigte, wie stolz sie darauf war. »Ja, er verstand sich darauf,« fügte sie hinzu; »und er hat mit solchem Eifer gemalt! Noch drei Tage vor seinem Tode saß er den ganzen Vormittag an der Staffelei! Nicht wahr, die Sachen sind von Meisterhand?«

Von Meisterhand waren sie nun eben nicht. Aber auch nicht gerade wie von Schülerhand. Sie hatten nichts Unsicheres, Schwankendes, ängstlich Getifteltes. Im Gegenteil, es ging etwas wie ein großer Zug durch diese Schildereien; weder mit großen derben Konturen, noch mit grellen Farbenwirkungen war gespart; aber etwas forciert Genialisches lag in diesen verzerrten Spiegelbildern der Natur, in diesen nachtschwarzen Gewittern, die einen spukhaft aussehenden Wald durchtobten, diesen Flammengluten, die sich über Erde und Himmel von untergehenden Sonnen ausgossen. Der Künstler, der hier gewaltet, mußte seine Lust daran gefunden haben, die Natur nicht harmonisch sich austönen, sondern türkische Musik machen zu lassen. Die Lyrik der Natur, Goethes »Über allen Gipfeln ist Ruh'« hatte er jedenfalls nicht verstanden, obwohl sich die Schlußverse: »Warte nur, balde ruhest du auch«, an dem Frühgeschiedenen so tragisch hatten bewähren sollen. Max Wendt aber, dessen Auge mit gespanntem Interesse von einem zum andern dieser Bilder geglitten war, wandte sich plötzlich wie von etwas Unangenehmem berührt oder zurückgeschreckt davon ab. Etwas Irres, Unsinniges mochte ihn plötzlich aus solcher Naturabspiegelungsmanie anschauen und ihn nun betroffen machen, wenn er an das Schicksal dachte, welches der Justizrat so zuversichtlich der Schwester eines solchen Künstlers geweissagt hatte.

Das Archiv war in dem nächsten Raume zu finden, in einer gewölbten Kammer, welche den unteren Stock des alten Turmes einnahm. Als die Führerin des jungen Mannes die schöngeschnitzten, alten Eichenholzschränke vor ihm erschloß, sah er, daß sie allerdings wohlbewahrt und wohlgeordnet den Dokumentenschatz des Hauses enthielten. Er konnte sofort seine Nachforschungen beginnen, und seine Führerin verließ ihn nun, während er anfing Aktenstücke zu mustern, zurückzulegen, oder auf dem mit Schreibgerät versehenen Tisch am Fenster aufzuhäufen, um später Exzerpte aus den einzelnen zu machen.

Darüber verging die Zeit, vergingen Stunden. Über dem Edelhof von Nyvenheim lag eine eigentümliche, idyllische Ruhe. Nur zuweilen schnitt der Schrei eines Pfaues durch die tiefe Stille; von Bewegung aber war ringsum nichts wahrzunehmen als das Nicken der Zweige, das Flattern der Blätter in den von mattem Wehen durchstrichenen Bäumen draußen. Von Zeit zu Zeit brach Sonnenschein durch die Wolken, die am Morgen den Himmel überzogen gehalten, leuchtete in die stillbewegte Laubwelt hinein und verschwand dann wieder, als ob er durch ein solches neckendes Spiel diese träumende Welt erwecken wolle, ohne doch den rechten Willen dazu zu haben. Max Wendt blickte dann wohl auf und schaute zerstreut auf die alten Baumwipfel, die Rasenflächen, den Teil des Wasserspiegels, den er von seinem Turmfenster aus beherrschte. War es denn eigentlich, mochte er sich fragen, für ein junges Mädchen, mit einer gestrengen Duenna und niemand anders zur Gesellschaft, in dieser Stille und Einsamkeit auszuhalten? Jetzt im Sommer mochte es erträglich, ja mehr als das, ganz reizend und genußreich sein. Aber im Spätherbst, wenn die Stürme heulten, die Regenschauer sich über die entlaubten Bäume ergossen, oder gar im tiefen Winter, wenn das kalte weiße Leichentuch sich über die heute noch warme grüne Welt ausbreitete? Welch wunderlich geartetes Gemüt gehörte am Ende doch dazu, es alsdann hier in der Einsamkeit aushalten zu können, an ihr zu haften, nicht aus ihr weichen zu wollen, ja bei dem bloßen Gedanken an solches Weichen in tiefste Empörung zu geraten? Sie wird wahnsinnig, wenn sie Nyvenheim verlassen muß, hatte der Justizrat gesagt. Wäre es nicht verständiger, zu sagen: sie wird wahnsinnig, wenn sie in solcher Einsamkeit bleibt, wenn sie sich darauf versteift, es jahrelang, jahraus, jahrein darin auszuhalten?

Und dann warf Max Wendt plötzlich wie mit einer unwilligen Bewegung den Kopf zurück, wie entrüstet über den häßlichen Gedanken, der immer wieder zurückkehrte, und über den Justizrat mit seiner albernen Wahrsagung. Was war's denn anders vielleicht, als daß Fräulein Ludgarde einen inneren Reichtum hatte, der sie von fadem Gesellschaftstreiben unabhängig machte, daß sie eine anders geartete Natur als die Dutzendmenschen ringsumher war, und daß man, weil man sie nicht verstand, sie dumm verleumdete!

Max Wendt mochte eine gute Zeitlang in dem Archivzimmer gesessen, bald sinnend und träumend über ein Aktenstück fort, bald lesend hineingeblickt und bald mit raschen Zügen seine Exzerpte aufs Papier geworfen haben, als sich langsam die Tür öffnete und die Dame, welche ihn eingeführt, auf der Schwelle erschien.

»Sie werden gewiß müde sein und Appetit bekommen haben, Herr Wendt,« sagte sie, »darf ich Ihnen nicht jetzt Ihr Diner auftragen lassen?«

Der junge Mann sah ein wenig betroffen auf.

»Ich danke Ihnen, ich möchte noch eine Zeitlang meine Arbeit fortsetzen und alsdann schon sehen, im Dorfe drüben ...«

»Im Dorfe drüben werden Sie nichts bekommen; um diese Stunde, es ist zwei, schon gar nichts mehr! Auch läßt das Fräulein sehr bitten ...«

»Es ist sehr gütig vom Fräulein. Erlauben Sie dann nur, daß ich als guter Reitersmann vorher meinem Pferde einen flüchtigen Besuch abstatte.«

Damit folgte er der Duenna, die draußen auf dem Flur einem Knechte schellte, welcher Max zu den Stallungen führte, wo er sein schönes Tier wohl aufgehoben fand.

Als er zurückgekehrt war, fand er im Speisezimmer ein kleines Diner aufgetragen, das der Entschuldigung mit ländlichen Zuständen, welche die Duenna vorbrachte, wenig bedurfte.


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