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VI.

Es begann kaum Dämmerung zu werden, als dasselbe Gefährt wieder vor dem Portal des Edelhofes hielt und Ludgarde still und wie ermüdet heraus und die Stufen ins Innere emporstieg. Brigitte kam ihr entgegen – Ludgarde beantwortete ihre eifrigen Fragen mit einem lakonischen:

»Ich werde dir im Wohnzimmer sogleich alles erzählen. Laß mich nur ablegen – nur zu Atem kommen.«

Brigitte ging trippelnd vor Ungeduld im Wohnzimmer auf und ab. Es dauerte so lange, bis Ludgarde aus ihrem Schlafzimmer wieder erschien und dann still sich niederlassend, mit gedämpfter Stimme sagte: »Es ist so, wie du hörtest, Brigitte, er hat sich geschossen, ist verwundet, nicht unbedenklich verwundet – und hat sich geschossen meinetwegen!«

»Deinetwegen, Kind?« rief Brigitte erstaunt aus.

»Meinetwegen! Ich will dir alles der Reihe nach erzählen ...«

»Hast du ihn gesehen, gesprochen?«

»Nein – nicht selbst! Ich fand im Gasthofe in seinem Vorzimmer den Doktor, der mir den Zutritt verwehrte, er habe Wundfieber, ich würde ihn aufregen; er erfreue sich der besten, ausreichendsten Pflege; er, der Doktor, wolle ihm mitteilen, daß ich dagewesen; aber es sei liebenswürdig von mir, daß ich selbst gekommen, nach meinem Ritter zu sehen, sagte er lächelnd und in seiner nach schlechten Scherzen haschenden Manier. Als ich erstaunt wissen wollte, wie er zu dem Ausdrucke ›meinem Ritter‹ komme, kam es heraus: Herr Wendt hatte am vorgestrigen Abend unter den Herren von der Aushebungskommission einen Bekannten, den Adjutanten des Generals, gefunden, sich abends von ihm in den Kreis derselben ziehen lassen; sie hatten von mir zu reden begonnen und darüber waren sie in einen hitzigen Streit geraten – so war es endlich zu einer Forderung und zu einem raschen Austrag der Sache schon am gestrigen Tage, in der frühesten Frühe des Morgens, gekommen. Der Arzt, welcher die Kommission begleitet, hat Wendt sekundiert, dem Adjutanten der Major von der Kommission; sie hatten zweimal Schüsse gewechselt, beim zweiten Mal hatte eine Kugel Wendt an der rechten Seite, unter dem Brustbein, getroffen, nachdem sie den Oberarm gestreift – sie war gefunden und entfernt worden; wieviel Unheil sie angerichtet, war noch schwer zu sagen – der Doktor will mir morgen, übermorgen Nachricht senden, welche Wendung es nimmt; fürs erste sollte ich seinen Patienten vollständig in Ruhe lassen, bat er brüsk sich aus. Worüber denn eigentlich der Streit entstanden, wie ich die Veranlassung dazu gewesen sein könne, darüber war nichts weiter von ihm zu erfahren; er versicherte mich, es nicht zu wissen, und machte dabei ein so sarkastisches Gesicht, daß ich sah, er log.«

»Sicher wußte er es,« fiel Brigitte lebhaft ein, »wie sollte in der kleinen Stadt solch ein Ereignis nicht gründlich durchgesprochen sein ...«

»Weil ich dies letztere mir ebenfalls sagte,« fuhr Ludgarde fort, »und weil ich wissen wollte, wie ich zur unschuldigen Ursache dieses Unglücks habe werden können, entschloß ich mich kurz und ging hinüber zur Justizrätin. Ich wußte, daß die schwatzhafte kleine Frau offener gegen mich sein würde, wenn ich sie nur in das rechte Fahrwasser, in den Strom des Erzählens bringe. Und in der Tat, sie enthielt mir denn auch die Sache nicht vor ...«

»Und was war es?«

»Der fremde Offizier, ein Herr von Derwitz, dessen ich mich aus der Hauptstadt als eines geschwätzigen jungen Menschen erinnere – Zerrwitz nannten ihn die jungen Mädchen – hatte mich ›die verrückte Nyvenheim‹ genannt, hatte behauptet, ich sei geisteskrank, und Wendt ihn so zornig über diese Ausdrücke angefahren ...«

»Das war's!« rief Brigitte erschrocken aus, »und das sagte die Greving dir, das erzählte sie dir?«

»Ich bitte dich, Brigitte, weshalb sollte sie nicht? Sollte ich es nicht erfahren und mir noch Ärgeres denken, ergrübeln? Und glaubst du, es hätte mich so sehr erschreckt? Denkst du, ich wüßte nicht längst, daß man mich für eine verrückte Person hält? Etwas muß man doch den Leuten nachsagen, und weiß man gar nichts anderes, so bleibt immer dies. Und du glaubst, so etwas erführe man nicht? Wozu sind die guten Freunde da, geschwätzige Nähterinnen, plappernde Kinder ...? Ich weiß längst, daß ich auf einige Meilen in der Runde für eine Gestörte gelte, weil ich einsam hier wohne und andere Interessen habe, als andere junge Mädchen. Daß es jedoch dieser Mensch, der aus der Residenz kommt, ausgesprochen hat, macht mich betroffen.«

»Vielleicht hatte er es irgendwo hier in der Nachbarschaft aufgefangen, diese unsägliche Albernheit,« sagte seufzend und die Hände resigniert in ihren Schoß legend, Brigitte.

»Möglich! Und was liegt am Ende daran? Das Schreckliche ist mir, daß um solcher Nachrede willen, solch verächtlicher, leichtsinniger Behauptung eines übelberatenen jungen Menschen willen, Herr Wendt nun daniederliegen muß, schwer verwundet, in einem sein Leben gefährdenden Zustande!«

»Er ist ein so starker, junger Mann, es wird sein Leben gewiß nicht gefährdet sein. Du weißt, wie unser Doktor die Sachen aufbläst,« tröstete Brigitte.

»Es ist aber doch ganz schrecklich für mich, mir sagen zu müssen ...«

»Daß du absolut unschuldig bist? Und daß – daß es von Herrn Wendt sehr edel, sehr ritterlich gehandelt war? Freilich,« setzte Brigitte, ihre Augen wie prüfend und forschend auf Ludgarde heftend, hinzu, »freilich, du bekommst eine Dankesschuld gegen ihn, die ...«

»O, die mich nicht drückt, Brigitte, die mich wahrlich nicht drückt. Ich frage mich selbst, wie es kommt, daß mir dies auch nicht an der Sache schrecklich ist; ich weiß es nicht, aber es ist so, ich werfe es mir selbst vor und auch, daß in dem ganzen Ereignis etwas liegt, das ... o nein, nein, das nicht, es ist zu schlecht von mir, das ...«

»Was wolltest du sagen?« drängte Brigitte.

»Nichts, nichts, nein, es ist zu schlecht von mir!«

Brigitte drängte nicht weiter. Sie war klug genug, Ludgarde ohnehin zu verstehen. Es lag in dem ganzen Ereignis etwas, das Ludgarde erfreute, ihr Herz mit Jubel erfüllte. Sie ahnte daraus, daß der junge Mann, der ihr Ritter geworden, sie liebe!

Und so war es. Ludgardens Herz war gefangen und gab sich jetzt, wo sie glaubte lieben zu dürfen, mit seiner vollen, leidenschaftlichen Kraft dahin. All ihr Denken war bei dem armen Verwundeten. Sie lebte von heute an nur noch in der Erwartung des nächsten Tages, der Stunde, welche die Post brachte, mit einer Postkarte des Doktors, worauf dieser mit seiner kritzeligen Hand in Bleistiftschrift die lakonischen Worte: »Es geht leidlich« – »ordentlich« – »recht befriedigend«, geschrieben hatte. Und dabei ging ein wunderlicher Wandel in ihrer Seele vor. Die furchtbare Entschlossenheit, welche in ihr gelegen, ihr Vaterhaus zu verteidigen bis aufs äußerste, verlor von ihrer Stärke; das Schicksal hing wenigstens nicht mehr so beklemmend, drohend über ihr; es war wie eine große Angst vor einem vernichtenden Schlage von ihrer Seele genommen. Hatte sie sich dies zum Bewußtsein gebracht, sie hätte es sich vielleicht bitter als Untreue an sich selber, an allem, wofür sie bisher gelebt, vorgeworfen; aber sie kam in einem eigentümlichen, frohen Empfinden und träumerischen Vorempfinden von Glück nicht dazu, solch eine Gewissenserforschung vorzunehmen. Zugleich beschlich sie eine anfangs leise, aber wachsende Unzufriedenheit mit der völligen Vereinsamung, in der sie lebte. Mit ihrem vollen Herzen hätte sie Menschen, junge, von Lebensfrische erfüllte Menschen um sich haben mögen, um ein freudiges, inneres Aufleben, ein sich aufschwingendes Herzenserwachen kundzutun. Es war eben wie ein finsterer Bann von ihr genommen, ein Siegel von ihrer Seele gelöst; es war ihr wirklich in Momenten zumute, als sei sie früher eine trübselige, gestörte Person gewesen. Und um so mehr klammerte sich ihr Herzensleben an den festen, ruhigen, klar denkenden und starken Mann, dem sie sich für immer und ewig zu eigen fühlte.

So gingen die Tage dahin; die Bulletins des Doktors waren gleichmäßig befriedigend gewesen; auf das letzte hin hatte Ludgarde bereits geantwortet, sie werde sich nun nicht mehr abhalten lassen, selbst zu kommen, um Max Wendt zu sehen und ihm zu danken, und herzklopfend dachte sie an den folgenden Tag, an welchem sie zu der kleinen Stadt hinausfahren wollte. Brigitte sah mit einem schlau zufriedenen Lächeln, wie sie in ihrem Garderobezimmer vor einem geöffneten Kleiderschranke stand und ihren Vorrat an Anzügen musterte.

»Dieser Herr Max Wendt, dieser Herr Referendarius,« sagte sich Brigitte zufrieden, »er zieht sich doch ein glänzendes Los aus der Lebenslotterie! Ist ihm an der Wiege wohl nicht gesungen! Und wenn er nun gar noch Nyvenheim uns aus den Krallen des alten Hasberg rettet, in der Tat, man könnte ihm gratulieren! Und das täte ich aus Herzensgrunde!«

Spät noch, als fast die Dämmerung schon nahte, ging Ludgarde noch aus, über die Brücke, aber nicht der Lindenallee nach, sondern links ab in den kleinen Eichenwald. Sie blieb lange; tiefe, dunkle Schatten legten sich bereits über das Tal und ließen im Wohnzimmer Brigitten die Lampe entzünden, als sie endlich zurück und raschen, elastischen Schrittes die Treppe heraufkam. Sie trug zwei volle, dichtlaubige Eichenkränze in der Hand.

»Wozu, Kind?« fragte Brigitte ganz überrascht – »doch nicht für ...«

»Nicht für ...? Was meinst du?« antwortete sie lächelnd. »Nein, für diese!«

Damit hob sie sich auf einen Stuhl, und hing den einen Kranz um ihres Vaters Bild, und sodann den zweiten um das ihres Bruders. Was sie gerade heute dazu trieb – Brigitte las genug in ihrer Seele, um auch das zu verstehen.


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