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V.

Brigittens Beobachtung von Ludgardens verändertem Wesen hatte in der Tat unverkennbar ihren guten Grund; als Max am dritten Tage zurückkam – dem Justizrat hätte er heute vielleicht keine recht befriedigende Antwort geben können, was er denn, nachdem er das ganze Archiv auf seinen Zweck hin durchstöbert und exzerpiert, jetzt noch weiter da finden wolle – kam sie schon in den Vormittagsstunden zu ihm in sein Turmgemach; mit großer Unbefangenheit sagte sie, sie wolle sich heute von ihm doch ein wenig einweihen lassen in seine Entdeckungen; und als er dann von diesen begann, hörte sie doch nur zerstreut zu. Die Unterhaltung beider befand sich auch bald auf einem weit entfernten Gebiete, Ludgarde erzählte von einer Rhein- und Schweizerreise, welche sie mit ihrer kränkelnden Mutter zu deren Stärkung gemacht; sie schilderte die Naturszenerien, welche ihr den lebhaftesten Eindruck hinterlassen; und als Max sie dann fragte, ob solche Szenerien sie nicht gefesselt, nicht den Wunsch in ihr hätten entstehen lassen, einem solchen Erdfleck anzugehören, ein Kind solchen Bodens zu sein, da sich »Hütten zu bauen«, versetzte sie lebhaft:

»Das nie, nie; das wäre doch wie ein Verrat an der Heimat gewesen; solch einen paradiesischen Erdfleck zu lieben, ist das etwas Großes? Der schlichten, dürftigen Scholle mit ihren bescheidenen, am Wegrain unbeachtet verblühenden Blumen, die doch so schön und mannigfaltig sind, mit ihrem stillen einförmigen Leben, das auf Farbengluten und Formengröße gar nicht denkt und doch so viel Herzbewegendes, Rührendes hat, treu bleiben – das ist Treue. Weshalb sehen Sie mich so skeptisch zweifelnd dabei an?« »Wenn ich es sagen dürfte, ohne Sie zu beleidigen ...«

»Sprechen Sie immerhin ...«

»Nun wohl, ich denke daran, daß Sie die Treue stets so hoch stellen, und möchte Ihnen einwerfen, daß die wahre Treue, die schönste, sich nicht auf Heimat, Natur und Wegrainblumen richtet, sondern die gegen uns selbst ist. Würden Sie, wenn Ihr Gefühl, Ihr Herz sich einem stillen Wesen in einer einförmigen Existenz, die so bürgerlich bescheiden wäre wie Ihr biederes, freundliches, aber doch einfaches Tal hier, zuneigte, würden Sie dann auch diesem Ihren Gefühle, Ihrem Herzen treu zu sein und zu bleiben wissen? Würden Sie da nicht doch sich losreißen und sich sagen: ein hochgebornes Fräulein von Dalhausen-Nyvenheim gehört nicht dahin, sie gehört in irgend ein glänzendes Schweizerparadies der aristokratischen Gesellschaft?«

»Seltsame Frage!« sagte sie, durchaus nicht beleidigt, sondern nur sehr betroffen ihn ansehend. »Das habe ich selber mich nie gefragt, wie wollen Sie, daß ich darauf antworte?«

»O, ich will auch keine Antwort,« entgegnete er, ein wenig gezwungen lachend – »wenn ...«

»Wenn?«

»Wenn ich auch den lebhaften Wunsch hätte, daß Sie einmal so sich fragten.«

»Wozu?« antwortete sie, »wozu sich mit unnützen Gewissensfragen quälen!« Sie wurde dunkelrot dabei und setzte wie begütigend hinzu: »Man müßte eben abwarten, wie unsere Natur sich zeigen und was sie tun würde!«

Dann lenkte sie das Gespräch gewandt ab, indem sie ihn nach seinen Reisen fragte, nach seinem Leben. Max schilderte ihr ein paar Reisen, die er als Student durch Österreich, Oberitalien gemacht habe, sprach lebhaft von seinen Studentenjahren und von seinen Freunden aus jener Zeit, verstummte aber, als Ludgarde auch nach den Seinen fragte, seinen Eltern, seinen Geschwistern daheim; sie machte ihm einen Vorwurf darüber, und er entgegnete: »Wir sind nicht alle so glücklich wie Sie, die Sie mit den Ihren in der edelsten, geistigen Harmonie gelebt haben. Mein Vaterhaus schildere ich Ihnen – vielleicht ein anderes Mal!«

Die beiden jungen Leute waren so in weniger Tage Verlauf sich mit einem Gefühle innerer Sympathie und Gleichartigkeit ihrer Naturen nahe getreten, daß Ludgarde unbewußt sich ihm wie einem Bruder gegenüber gehen ließ, und daß Max, ohne sich darüber viel Rechenschaft zu geben, was er für Ludgardens Angelegenheit leiste, den Tag in ihrer Gesellschaft zubrachte, ganz gefesselt von dem Reize, den diese auf ihn ausübte.

Als er am Abend schied, gab sie ihm die Hand, die er länger als nötig in der seinen hielt, während er fragte: »Darf ich denn wiederkommen, auch wenn ich im Archiv nichts mehr zu suchen habe, um – Ihnen die versprochene Schilderung von meinem Vaterhause zu geben?«

»Gewiß, Versprechen muß man halten!« erwiderte sie leicht errötend.

Damit schied er, um nun am andern Tage doch nicht zurückzukehren. Weder am Morgen noch am Nachmittage.

Es war befremdend, beunruhigend. Und wenn Brigitte ihre Beobachtung noch nicht gemacht hätte, würde sie sie jetzt gemacht haben. Ludgarde war die verrinnenden Stunden des Tages hindurch in einer Aufregung, welche sie unstet machte, bald zu dieser, bald zu jener Arbeit greifen ließ und mit ungewöhnlicher Unruhe bald hierhin, bald dorthin auf ihrem Gute trieb, um sich doch gleich darauf zerstreut vom Begonnenen wieder abzuwenden.

Weshalb kam er nicht? Es war doch nicht recht, nachdem er so förmlich darum gebeten – es war so unzuverlässig, es brachte ihr einen ganz fremden, häßlichen Zug in das Bild seines Charakters, welches sie sich entworfen; sie war ernstlich entrüstet, empört!

»Mein Gott, wer weiß, welchen wichtigen Abhaltungsgrund er haben mag – du bist zu leidenschaftlich, zu heftig, Kind!« würde Brigitte gesagt haben, hätte ihr Ludgarde ihre ganze innere Erregung gestanden.

Am andern Vormittag saß Ludgarde desto stiller, je unsteter bewegt sie gestern gewesen, an dem Fenster des Wohnzimmers, welches den Weg nach der kleinen Stadt beherrschte. Aber auch jetzt verrannen die Stunden, ohne daß Max' stattliche Reitergestalt auf dem sich herabsenkenden Wege aufgetaucht und dem kleinen Edelhofe zu dahergekommen wäre. Es ward Mittag. Brigitte sah besorgt, wie wenig Ludgarde von den Speisen berührte; aber sie zog es vor, ihr darüber keine Vorwürfe zu machen; sie selbst war heute mit des jungen Mannes Betragen unzufrieden – der unglückliche Gedanke quälte sie: vielleicht hat er sich gesagt: »Dies adelige Fräulein steht zu hoch über dir, zu unerreichbar; du darfst dein Herz nicht an sie verlieren, wenn du kein Tor bist, und in ihr Herz keine Unruhe bringen wollen, wenn du kein unredlicher Mensch bist.«

Über diese Sorge brütend, bewegt von allem dem, was sie so gern dem jungen Mann, der ihr den Eindruck so großer Ehrenhaftigkeit machte, hätte sagen mögen und das sie ihm doch so gar nicht sagen konnte, wandelte Brigitte nach Tisch die nach dem Dorfe führende, von Ludgarde für verhängnisvoll erklärte Lindenallee hinab, als ihr eine große, mit langen Schritten sich heranwiegende Frau, die einen geräumigen Korb am Arme trug, entgegenkam.

»Schon zurück, Marianne?« sagte sie, bei ihr stehenbleibend.

»Hatte heut' nicht viel zu schleppen,« versetzte die Frau, welche die Botengänge zwischen dem Dorfe und der kleinen Stadt machte, »und es geht sich gut bei dem Wetter ... schönes Wetter für die Nachsaat, Fräulein.«

»Etwas Neues in der Stadt?«

»Neues? Ich denke Neues genug. Der ganze Gasthof ist voll Offiziere und fremder Herren. Sind vorgestern zur Aushebung der Leute, die zu den Soldaten müssen, gekommen. Und haben auch schon wunderliche Sachen gemacht, haben Streit bekommen, haben sich geschossen, wissen Sie, wie die Leute sagen, und weiß der liebe Gott, was noch alles ...«

»Sich geschossen – die fremden Herren von der Aushebungskommission – sich untereinander?«

»Einer von den Herren mit einem andern, der schon seit einigen Tagen im Gasthof logiert – einem Herrn, der beim Justizrat zu tun hat ...«

»Ich bitte dich, Marianne – und wie ist denn der Ausgang gewesen?« rief Brigitte erschrocken aus.

»Schlimm – schlimm! sagten sie bei Lodtmanns, wo ich meine Unterkunft habe, wissen Sie, Fräulein, und wo sie davon redeten – der Herr, der, wissen Sie, der mit Greving zu tun hat, hat einen bösen Schuß bekommen, einen gefährlichen Schuß, und es sei schade um ihn, sagte Frau Lodtmann, es sei ein so schöner, stattlicher junger Herr gewesen, und besonders zu Pferde, er habe ein Reitpferd bei sich im Gasthof stehen, er habe so schön ausgesehen wie ein rechter Kavalier ...«

Brigitte hatte bei dieser erschreckenden Nachricht, die alles erklärte, schon sich zum Heimeilen gewendet. Erregt trug sie Marianne auf, was sie für Nyvenheim habe, hinzubringen, und ging dann fliegenden Schrittes, Ludgarde mitzuteilen, was sie vernommen. Daß sie wohltue, ihre Nachricht ein wenig gemildert vorzubringen, sagte sie sich dabei gleich; die Nachrichten von Erkrankungen, Verwundungen und Unglücksfällen übertrieben weiterzutragen, war ja stets der Leute menschenfreundlicher Hang.

Sie fand Ludgarde mit geschlossenen Augen im Wohnzimmer auf einem Diwan ruhend, als ob sie habe schlummern wollen, was sonst des tätig bewegten, jungen Mädchens Brauch durchaus nicht war. Als sie ihr hastig erzählt, was sie vernommen, sprang Ludgarde erschrocken auf. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie schaute weitgeöffneten Auges Brigitte an und schien eine Weile gar kein Wort der Erwiderung auf diese Nachricht zu finden.

Dann sagte sie mit einer lauten Entschiedenheit:

»Deshalb! Gott gebe, daß es nicht so schlimm ist! Aber davon will ich mich selbst überzeugen – Franz soll sogleich den Break anspannen – ich bitte dich, eile, Brigitte, ich gehe, mich zu kleiden.«

»Du willst selbst ...?«

»Gewiß will ich ... sollen wir, wenn er gefährlich verwundet ist, ihn etwa ohne Hilfe lassen? Hier, wo er niemand kennt, niemand hat als den Justizrat, der ihm nichts sein kann – er sowohl wie seine zimperliche, kopflose Frau? Geh, ich bitte dich, den Break, Brigitte – Herr Wendt hat mir helfen wollen – es ist unsere Pflicht, daß wir jetzt ihm helfen, und ich will ihm nicht fehlen!«

»Dann werde ich wenigstens dich begleiten, Kind,« fiel Brigitte ein, die ihre weitere Mißbilligung Ludgardens Heftigkeit gegenüber verschluckte.

»Ach, wozu – das hält mich auf, bis du fertig bist, laß mich immerhin allein gehen – sorg nur, rasch Franz aufzutreiben.«

Damit eilte Ludgarde in ihr Ankleidezimmer und überließ Brigitte, die über all diese Heftigkeit erstaunt ihr nachblickte, für das schnelle Bereitmachen ihres leichten, einspännigen Gefährts zu sorgen.

Ehe eine Viertelstunde vergangen, war Franz mit diesem vorgefahren, hatte Ludgarde sich hineingeschwungen und rollte schon mit dem schärfsten Trabe eines flüchtigen Rosses die Weghöhe, die zur Chaussee führte, hinan.


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