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I.

Das ist der Fluch der Liebe,
Daß unauflösbar sie die Herzen kettet.
Und stürzt das eine, reißt's das andre mit.

Ein grauer Himmel lag über einer eintönigen Landschaft, die sich flach und eben ausdehnte, menschenleer, ohne Leben. Die Menschen schienen die wenig fruchtbaren Äcker ringsum der Obsorge der Sonne überlassen zu haben, daß sie etwas auf ihnen gedeihen lasse, und die Sonne ihrerseits schien abzuwarten, daß die Wolken, die sich immer mehr herabsenkten, sich der Sache annähmen. Rege war nur ein lauer Wind, der auf der langen, unbelebten Chaussee von Zeit zu Zeit eine starke Staubwolke aufjagte, eine Strecke weit vor sich hin trieb und dann fallen ließ, als ob er sich plötzlich besinne, daß es ein kindisches Treiben sei, hinter Dust und Staub dreinzujagen, und daß er solche Jagd füglich den glückshungerigen Menschenkindern überlassen könne.

Zuweilen trieb dieser laue, aus Westen einer einsamen Wanderin entgegenkommende Wind jedoch ein heiteres Spiel. Er warf die dunkelblonden, üppig-reichen Locken zurück, welche unter dem schmalrandigen, kleinen Rubenshut dieser Wanderin auf Nacken und Schultern niederquollen, und blähte den blauen Schleier auf, den sie mit der Linken zusammenhielt. Sie war jung, und die ziemlich große, auffallend edle Gestalt, so einfach sie in einen hellgrauen Wollstoff gekleidet war, bildete doch eine Erscheinung, daß man sich überrascht fragen mußte, woher diese vornehme junge Dame gekommen und so völlig allein zu Fuß auf die Chaussee geraten sein könne.

In der Tat wurde sie auch, ehe viel Zeit vergangen, von einem Begegnenden danach gefragt und um Auskunft darüber angehalten.

Es war ein wohlgenährter und jovial aus den kleinen, blinzelnden Augen im geröteten, gutmütigen Gesicht blickender Herr, der es tat. Er saß zurückgelehnt, aus einer Meerschaumpfeife rauchend, in einem leichten Gefährt, dessen Verdeck zurückgeschlagen war, und das zwei Litauerpferdchen eben aus einem sandigen Nebenwege heraus auf die Chaussee gezogen hatten.

Als er zur Seite der rasch schreitenden Dame angekommen war, ließ er die lustig trabenden Pferdchen anhalten.

»Guten Morgen, mein gnädiges Fräulein,« rief er, »Sie hier? Und allein? Zu Fuß? Und so ganz allein?«

»Was wollen Sie, Doktor,« versetzte die junge Dame mit einem vollen, wohllautenden Organ, das Wind und Staub vielleicht um etwas von seinem Metallklang gebracht, »weshalb soll ich nicht allein gehen? Mir tut niemand etwas zuleide. Soll ich die gute Brigitte zwingen, mit mir gleichen Schritt zu halten? Wozu? Ich habe ihr eingeredet, daß sie heute morgen an ihrem alten Kopfweh leide, und daraufhin hat sie eingewilligt, mich allein gehen zu lassen. Wollen Sie, wenn Sie am Hause vorüberkommen, einmal nach ihr sehen?«

»Um eines eingebildeten Kopfwehs willen? Nein, meine Gnädige; viel lieber böt' ich Ihnen für Ihren Weg meinen Wagen an, wenn ich nicht Kranke zu besuchen hätte, bei denen es sich leider nicht um Einbildungen handelt. Aber was verlockt Sie denn so eiligen Schrittes nach unserm guten, langweiligen Urbach?«

»Fragen Sie lieber, was mich dahin treibt! Leider die Notwendigkeit! Ich habe mit dem Justizrat zu reden, und kann ihm nicht zumuten, mit Akten und Büchern beladen zu mir herauszukommen. So muß ich denn selbst gehen. Und nun wissen Sie's. Guten Morgen, Doktor, auf Wiedersehen! Ihre kleinen Braunen sind Philanthropen; sie stampfen und drängen vorwärts zu Ihren Kranken!«

Sie schritt mit einem freundlichen und doch herablassenden Kopfnicken weiter, und der Doktor ließ sein Wägelchen in entgegengesetzter Richtung dahinrollen; dabei zog er aus der während des Gesprächs halb erloschenen Pfeife starke Rauchwolken, die er mit besonderem Nachdruck von sich blies, um dann vor sich hin zu sagen:

»Die arme Person! Sie wird verrückt darüber! Läuft deswegen bereits allein über Land, und belagert den unglücklichen Justizrat, der ihr nicht helfen kann! Ganz sicherlich verrückt! Die fixe Idee hätten wir ja schon, dies starrsinnige Widerstreben! Und das Verrücktwerden – du lieber Gott, es ist einmal die Zeitkrankheit; es wird noch dahin kommen, daß jeder Mensch, wie er in seinem Leben einmal die Masern oder den Scharlach oder ein Fieber gehabt hat, so auch einmal seinen Anfall von einem kleinen Wahnsinn überstanden haben wird. Es ist nicht anders! Wär' ich jünger, würde ich Spezialist – wählte Psychiatrie. Gäb' eine reiche Praxis das! Armes Fräulein Ludgarde! Das fühlt sich unglücklicher als Lucie, die weinende Braut von Lammermoor, oder was man denn jetzt von bedrängten Frauenzimmern auf der Bühne in Mode haben mag. Tut mir leid, die arme Person!«

Die »arme Person« schritt unterdes ihres Weges weiter und warf, da der Wind aufhörte, ihr entgegenzuwehen und ihr Staub ins Antlitz zu werfen, ihren blauen Schleier zurück, wie um freier zu atmen. Ihre schönen Züge, welche dadurch um so auffallender hervortraten, gaben der bösen Voraussagung des Landarztes sehr wenig recht. Ihre ziemlich hohe und vorgewölbte Stirn schien immer nur der Sitz klarer und stiller Gedanken sein zu können; die sanften, großen, graublauen Augen blickten fest und mit ruhiger Stetigkeit die Gegenstände an. Wenn dies Gesicht etwas Besonderes ausdrückte, so war es mutiges und gefaßtes Selbstbewußtsein, war es der Ausdruck einer aristokratischen Natur, die doch immer mit ruhiger Selbstbeherrschung verbunden ist.

Als sie in der kleinen Stadt – Urbach hatte der Doktor sie genannt – angekommen war, schritt sie über den Marktplatz einem mit der Giebelseite dem Platz zugekehrten und eigentümlich unangenehm aussehenden Hause zu. Der rohe Kalkverputz desselben war nämlich beworfen mit einer Unzahl kleiner Glasscherben, welche sinnreiche Verzierung bei hellem Sonnenschein mit ihrem Blinken und Blitzen unbarmherzig die Augen zerstach, und an Tagen ohne Sonnenschein nur häßlich war. Hinter diesen menschenfeindlichen Wänden lag, mit einem blankgewaschenen Fenster auf den Markt hinausgehend, das Arbeitszimmer des Justizrats. Durch die hellen Scheiben des Fensters war im Innern die Gestalt eines großgewachsenen Mannes wahrzunehmen, der sich mit dem Rücken an dasselbe lehnte und mit dem Bewohner zu sprechen schien. Fräulein Ludgarde stutzte und hielt einen Augenblick ihren Schritt an; sie wünschte durchaus nicht mit einem Fremden zusammenzutreffen. Gleich darauf aber öffnete sich die Haustür; der pockennarbige alte Herr, der etwas von einer Fuchsphysiognomie hatte, dessen Malepartus jedoch in der ganzen Gegend die »Herberge der Gerechtigkeit« für alle war, die recht zu haben glaubten – ob sie es wirklich hatten, darauf kam es ja dem Justizrat Greving weniger an – der Hausherr trat auf die Schwelle, zupfte sich mit einem freundlichen Lächeln den Hemdkragen in die Höhe und verbeugte sich dann mehrmals außerordentlich tief und untertänig. Fräulein Ludgarde hätte dadurch an das spanische Sprichwort erinnert werden können:

Wer sich tiefer als nötig bückt,
Spottet deiner oder berückt.

»Ihr Diener, mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrat dabei, »sehe Sie eben daherkommen, bitte, bitte, treten Sie näher, Sie kommen zur guten Stunde, gerade zur guten Stunde, wie gerufen!«

»Das scheint mir nicht, Justizrat,« versetzte Fräulein Ludgarde, einen Blick auf das Fenster werfend, hinter dem der Fremde sich eben gewendet hatte und nun mit offenbarer Neugier das junge Mädchen betrachtete. »Sie sind nicht allein, Sie haben einen andern Klienten bei sich, sehe ich, und Sie wissen ...«

»Keinen Klienten, durchaus keinen Klienten; im Gegenteil,« fiel der Justizrat ein, indem er das Fräulein über die Schwelle komplimentierte, »einen Juristen, einen jungen Juristen, den unsere Gegend und unser Provinzialrecht interessiert, und der mir zur Einführung eine Karte von einem berühmten Kollegen in der Hauptstadt gebracht hat. Er kann uns, hab' ich schon ermittelt, von unschätzbarem Werte sein; diese jungen Herren sind meistens von einer rührenden Hilflosigkeit, wenn es darauf ankommt, ein Ding praktisch anzugreifen, aber sie haben vom eben bestandenen Examen her allerlei theoretische Dinge im Kopf, aus denen sich vortreffliche Haken krümmen lassen, Ankerhaken, die das Schifflein eines Prozesses nicht weiter kommen und in Ewigkeit nicht flott werden lassen. Und das ist für uns ja die Aufgabe! So recht die Aufgabe! Bitte, treten Sie ein.«

Der Justizrat, der diese Worte auf dem Flur seines Hauses gesprochen hatte, wollte eben die Tür seines Arbeitszimmers vor Ludgarde aufwerfen, aber sie legte die Hand auf seinen Arm.

»Warten Sie noch, sagen Sie mir den Namen des Mannes. Ist er wirklich Jurist, und glauben Sie, daß, wenn wir ihm vertrauen, er imstande ist, uns mit gutem Rate zu dienen und beizustehen?«

»Vertraut habe ich ihm bereits den Stand Ihrer Sache,« fiel der Justizrat ein, »gerade weil ich überzeugt bin, welch guter Konsulent er sein wird in einer Materie wie die, um welche es sich handelt. Seinen Namen wollen Sie wissen? Referendar Wendt hat sich besonders mit Deutschem Recht und Lehnrecht beschäftigt, sagt er, ist daher bereits bewandert in Rechtsfragen von einer feudalen Natur, mit denen ja unsereins sich so selten zu befassen hat ...«

Damit hatte er die Tür zu seinem Allerheiligsten aufgeworfen und Ludgarde genötigt, einzutreten.

Trotz des hellgewaschenen Fensters war der Raum nichts weniger als lichtvoll; er war sehr tief, und dunkelrote Wände schluckten an Licht ein, was die gebräunten Schränke und Aktenrepositorien nicht einsaugten. So kam es, daß Ludgarde von dem Aussehen des jungen Mannes, der sich bei ihrem Eintreten leicht verbeugt hatte, wenig wahrnahm, da er sich mit dem Rücken dem Fenster zugewendet hielt; das junge Mädchen, das in dem alten Roßhaarsofa des Anwalts Platz nahm, vermied auch ihn anzusehen, weil sie seinen Blick auf sich gerichtet fühlte.

»Herr Referendar Max Wendt und: Fräulein von Dalhausen auf Nyvenheim,« stellte der Justizrat vor; Fräulein Ludgarde ließ sich zu einer kurzen Verneigung des Kopfes herab und sagte:

»Sie wissen, weshalb ich komme, Justizrat; Sie haben mir geschrieben, daß das Urteil also gegen mich ausgefallen ist, ist es das wirklich, wirklich ganz und völlig gegen mich?«

»Leider, leider, leider,« versetzte mit einer Miene, in welche er so viel Seelenschmerz, als in seine Fuchsmiene hineinging, zu legen suchte, der Justizrat und schlug ein auf dem Tisch vor dem Fräulein liegendes dickes Aktenheft auf; »da lesen Sie selber die ganze Kantilene ...«

»So daß ich,« fuhr das Fräulein, ohne das schreckliche Aktenstück anzusehen, fort, »nun in wenig Tagen von Nyvenheim exmittiert, durch den Gerichtsdiener hinausgeworfen werden kann?«

»Nach dem Inhalt dieses Urteils hatte Ihr Gegner das Recht, es zu beantragen,« entgegnete der alte Jurist.

»Und mein Gegner ist sicherlich der Mann, von einem solchen Recht Gebrauch zu brauchen!« fiel sie mit unsäglicher Bitterkeit ein, »Mein Gegner! Bei dem ist kein Erbarmen!«

»Freilich,« sagte der Justizrat, »und am Ende ist das doch auch zu erklären, Herr von Hasberg braucht eben Nyvenheim, – er will, sagt man, seinen Sohn verheiraten, das junge Paar soll Nyvenheim bewohnen – er hat kein anderes Nest für die beiden Menschen, die sich lieben und mit Sehnsucht darauf warten ...«

»Mögen sie sich lieben,« fiel beinahe zornig Ludgarde ein, »lieben so zärtlich wie sie wollen, was bedürfen sie Nyvenheim dazu? O, es ist abscheulich, unsäglich rücksichtslos von Hasberg, der noch obendrein mein Verwandter ist und soviel meinem Vater verdankt, mich, die Tochter seines Wohltäters, aus ihrer Heimstätte, ihrem ererbten Eigen, dem Hause ihrer Väter werfen zu wollen! Abscheulich! Aber ergehen wir uns nicht in müßigen Klagen, die Menschen sind einmal so! Handeln wir! Denn verteidigen – das wissen Sie, Justizrat, werde ich mich bis aufs Äußerste – bis zur letzten Stunde. Also reden Sie! Was ist zu tun?«

»Zu appellieren, natürlich,« versetzte der Justizrat, indem er mit einem gewissen Wohlbehagen Ludgardens Züge unter dem Einfluß ihrer steigenden Erregung sich röten und eigentümlich verschönern sah.

Auch des jungen Mannes Blicke lagen mit Bewunderung auf diesen feinen und wie von edlem Zorn belebten Zügen. Mit einer gewissen Befangenheit sagte er:

»Wenn ich meine Meinung zur Sache, über die der Herr Justizrat mich unterrichtet hat, äußern darf, gnädiges Fräulein, so ist jetzt bei der Appellation nur ein ganz anderes Verfahren einzuschlagen als bei Ihrer bisherigen Verteidigung. Herr von Dalhausen-Hasberg hat gegen Sie auf Räumung von Nyvenheim geklagt, weil es ein Fideikommiß sei und, nach dem Tode Ihres Herrn Bruders, jetzt ihm, als nächsten Agnaten, anheimfalle. Ihre Verteidigung dawider behauptet, Nyvenheim sei kein Fideikommiß, und wenn es einst eins gewesen, so sei es durch die während der französischen Herrschaft hier im Lande geltende Gesetzgebung aufgehoben. Beide Einreden hat das Landgericht verworfen. Herr von Hasberg hat die Fideikommißurkunde beigebracht und ihre von jener Gesetzgebung intakt gebliebene Gültigkeit in einer Weise nachgewiesen, die meines Erachtens nicht anzugreifen ist ...«

»So daß ich also gar keine Hoffnung mehr hätte ...?« fiel Ludgarde ein.

»O doch,« fuhr der junge Mann fort; »Sie haben wenigstens die Hoffnung, sich noch sehr, sehr lange verteidigen zu können, wenn Sie in der folgenden Instanz eben, wie ich meine, ein anderes Verteidigungssystem annehmen. Ganz sicherlich hat Ihr Herr Vater, Ihr Großvater vielleicht schon aus eigenen Mitteln Nyvenheim durch Ankäufe vergrößert, urbar gemacht, Waldschonungen angelegt, Gebäude errichtet, und dazu Vermögen Ihrer Mutter, Ihrer Großmutter verwendet ...«

»Das allerdings,« fiel Ludgarde ein. »Aus dem Vermögen meiner Großmutter sind mehrere Bestandteile des Gutes angekauft; mein Vater hat aus einem Vermächtnis eines Oheims ein Warmhaus gebaut, eine Heidestrecke erworben und sie zu schönen Wiesen umgewandelt; es mag noch mancherlei derartiges zum Bestande von Nyvenheim hinzugekommen sein.«

»Worüber sich der Ausweis, die Kaufbriefe vorfinden?«

»Gewiß, das Archiv hat mein Vater stets in schönster Ordnung gehalten.«

»Nun wohl, so ist Ihnen der Weg der Verteidigung in der weiteren Instanz auch ganz klar vorgezeichnet. Sie leugnen in dieser nicht mehr, daß ein kleiner alter Kern von Nyvenheim ein Fideikommiß sei; aber Sie bestreiten den einzelnen Teilen diese Eigenschaft; Sie behaupten, daß der größte Teil Allod sei, Sie behaupten es von jedem Stück, und alsdann wird die Ausscheidung von Fideikommiß und von Allod eine so verwickelte, schwierige Arbeit werden, daß Jahre darüber hingehen, bevor der Prozeß zu einem Ende gelangt!«

Ludgarde, die gespannt aufgehorcht hatte, sah fragend den Justizrat an.

»Der Rat ist gut, sehr gut,« sagte dieser, indem er sich schmunzelnd die Hände rieb; es ist fraglich, ob aus Teilnahme an solcher Rettung seiner Klientin oder aus Vergnügen über den in Aussicht gestellten endlosen Prozeß. »Die alte Fideikommißurkunde nennt nur ›das freiadelige Gut Nyvenheim, wie es steht und liegt‹, das ist alles, genaue Kataster hatte man ja damals noch nicht, also was ist Nyvenheim? Nyvenheim ist ein unbestimmter Begriff, den wir Ihrem Gegner schon unter den Händen zerbröckeln wollen, daß er seine Freude daran hat! Nur müssen wir den Beistand dieses jungen Freundes dabei behalten, ich bin nicht der Mann, der sich auf alten Urkundenkram einzulassen die Zeit hat, auf Pergamente, wie sie doch alle samt und sonders in Ihrem Hause geprüft und durchstudiert werden müssen. Herr Wendt müßte das übernehmen, Herr Wendt hat jüngere Augen und hat sich darauf eingeübt, Sie haben Praxis darin, Herr Wendt, wie?«

Herr Wendt schien mit der Zusage seiner Bereitwilligkeit zu zögern, Fräulein Ludgarde mit dem Aussprechen einer dahin gehenden Bitte an den jungen Mann.

»Es hängt alles davon ab, daß ein kundiges Auge Ihre Archivalien durchmustert,« fuhr der Justizrat fort. »Herr Wendt muß sich dazu entschließen – Sie müssen, Herr Wendt – sind Sie nicht einverstanden, gnädiges Fräulein?« »O gewiß, ich zweifle nicht,« sagte Ludgarde, »daß es am besten wäre, wenn Herr Wendt sich dieser Mühe unterzöge, obwohl es unbescheiden von mir sein mag, ihm eine solche zuzumuten.«

»Es ist eine Berufsarbeit wie eine andere,« fiel der Justizrat ein, »er wird daheim schwerlich Dringenderes zu tun haben – haben Sie, Herr Wendt?«

»Nicht gerade,« antwortete dieser leicht errötend, »und wenn das gnädige Fräulein mir die Durchforschung ihres Archives anvertrauen will ...«

»Ich bitte darum,« sagte Ludgarde, ein wenig unsicher und jetzt erst den jungen Mann schärfer ins Auge fassend.

Er verbeugte sich, wie für das Vertrauen dankend.

»Ich werde morgen am Vormittag nach Nyvenheim kommen,« sagte er dabei.

»Vortrefflich, und ich setze noch heute die Anmeldung der Appellation auf!« rief der Justizrat aus.

Damit war das, was zu besprechen, im wesentlichen erledigt. Fräulein Ludgarde schien nicht zu den Frauen zu gehören, welche einmal Besprochenes stets noch zu einer zweiten und einer dritten Lesung zu bringen sich gedrängt fühlen. Nachdem noch einige Reden gewechselt waren, stand sie auf, um noch die Frau Justizrätin zu begrüßen, und der Advokat begleitete sie mit großer Dienstbeflissenheit hinüber.

Als er dann zurückkam, sagte er, seine Stimme dämpfend, mit schlauem Lächeln wieder die Hände reibend:

»Nun, Herr Referendar, was sagen Sie zu unserer Klientin?«

»Daß ich Sie um Ihre Praxis beneide, wenn sie Ihnen viele solcher Klientinnen zuführt.« »Das ist der Standpunkt eines jungen Herrn, der darauf sieht, wie eine Partei aussieht! Non olet, sagte Vespasian, eine zahlungsfähige Klientin ist nie häßlich; Schönheit aber ist keine juristische Kategorie. Und ich, ich beneide mich gar nicht um das, was wir am letzten Ende mit diesem Prozeß erleben werden ...«

»Ich muß Ihnen gestehen – ich sage Ihnen, daß ich auch in der Hauptstadt, in Bekanntenkreisen, von Fräulein von Nyvenheim reden hörte, als sei sie nicht recht gescheit, besorgniserregend überspannt – ich muß Ihnen gestehen, daß ich diesen Eindruck durchaus nicht empfangen habe.«

»Wie würden Sie das auch in einer so kurzen Unterredung? Aber richtig ist es doch. Ich bitte Sie – wie könnte es anders sein? Ihr Vater war ein Philosoph, ein Sterngucker; kümmerte sich um nichts; überließ alles den Weibern, dem jungen Mädchen, und brachte diesem seine philosophischen Halluzinationen bei – war Krausianer, denk ich – nun bitte ich Sie, wie kann man jetzt noch Krausianer sein? Bringen Sie das Fräulein einmal auf derartige Dinge – werden Übergeschnapptes genug zu hören bekommen! Damals, als ihr Vater starb, hat sie gar keine Nahrung mehr zu sich nehmen wollen, hat sich durch Hunger töten wollen – wahrhaftig, sterben! Der Bruder war ja auch – nun, in Nyvenheim werden Sie seine Malerei zu sehen bekommen – hat was Leinewand bekleckst in seinem Leben, aber die es verstehen, die Kenner, schütteln den Kopf dazu.«

»Eine bei einem jungen Mädchen ungewöhnliche Art der Erziehung und der Umgang mit einem Bruder, der ein unzulänglicher Maler ist, beweist aber noch nichts gegen ihren Verstand,« meinte Wendt. »Mag sein,« fuhr der Justizrat fort; »mag auch sein, daß ein junges Mädchen, welches sich in solcher absoluten Einsamkeit abgesperrt hält, dabei, wie man sich hier ausdrückt, ›bei Troste‹ sein mag. Aber wie es mit ihr werden wird, das ist dennoch klar vorauszusehen. Ihr Nyvenheim – wenn sie ihr Nyvenheim lassen muß, wird sie wahnsinnig. Es ist ihre fixe Idee; ihre ganze Seele hat sich daran geklammert; sie hängt daran wie die Auster an ihrer Schale, die Schnecke an ihrem Hause. Reißen Sie sie heraus, so ist sie zerstört, zugrunde gerichtet! Es ist ein leidenschaftlicher Stolz in ihr – Sie hörten ja, wie heftig sie ihren Entschluß, sich bis aufs Äußerste verteidigen zu wollen, aussprach. Und heraus muß sie doch einmal, was hilft alles Sträuben! Auch Ihr Verteidigungsmittel ...«

»Wird ihr wenigstens Zeit verschaffen – Aufschub!«

»Aufschub! Bis man uns einwirft: nun wohl, so gebt uns vorläufig einmal den unbestritten zum Fideikommiß gehörenden Kern, Haus, Hof, Garten usw. heraus!«

Der junge Mann nickte gedankenvoll dazu, dann versetzte er:

»Vielleicht! Vielleicht ist man nicht begierig, ein halb noch bestrittenes Gut in Besitz zu nehmen ...«

Der Justizrat zuckte die Achseln.

»Nun ja – tun Sie Ihr Bestes,« sagte er. »Wir werden ja sehen. Verrückt wird sie aber doch darüber – am letzten Ende!«

Der junge Mann aber nahm Hut und Reitpeitsche – er war zu Pferde nach Urbach gekommen – und empfahl sich dem Justizrat mit dem Versprechen, ihm bald über seine Ermittelungen im Nyvenheimer Archiv Bericht zu erstatten.

»Ich glaube,« dachte er, als er quer über den Marktplatz seinem Gasthofe wieder zuschritt, »es ist alles nur die Rache der kleinen Stadt dafür, daß das Fräulein ihrer Gesellschaft nicht bedarf und lieber allein ist! Das scheint den Spießbürgern ... verrückt!«


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