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Sechstes Kapitel.
Wem gehört es?

In den Nachmittagsstunden des folgenden Tages saßen unter der Veranda von Haus Gohr Dankmar, Hermine und Gundobald zusammen. Gundobald hatte sein Versprechen gehalten und Fräulein Anna Morell von Edern herüberbegleitet. Anna war drinnen im Hause, im Wohnzimmer des geistlichen Rathes.

Dankmar war zerstreut; er blickte von Zeit zu Zeit zu den Fenstern des Studirzimmers seines frühern Lehrers auf, und Hermine folgte diesen Blicken mit der immer regen weiblichen Beobachtungsgabe.

Sie beschäftigte sich dabei sehr fleißig mit einer Näharbeit.

Haben Sie die Lection hübsch aufgesagt, welche Ihnen Gräfin Edern gestern gegeben? sagte sie zu Gundobald.

Ach nein! versetzte dieser. Glücklicherweise hat sie vergessen, mich danach zu fragen. Ich hätte ihr auch nichts antworten können; ich war zu sehr beschäftigt mit der Lection, welche Sie mir gestern gegeben, Fräulein Hermine.

Also Sie haben dieselbe beherzigt? Das freut mich zu hören.

Ich habe sie beherzigt, und wenn auch noch nicht ganz verstanden, so erinnere ich mich doch, daß Sie den dringenden Wunsch äußerten, ich solle mich als Hercules hier in der Gegend nützlich machen …

Sie machen immer Späße, fiel Hermine ein, und ich habe es doch so ernst und gut mit Ihnen vor. Da ich sehe, daß an Dankmar meine Beredsamkeit verloren ist, möchte ich Sie aussenden, um sich als Held ein Stück Welt zu erobern.

Ich danke Ihnen zunächst dafür, daß Sie mich fortsenden wollen, Fräulein Hermine. Leider kann ich Ihnen nicht verhehlen, daß ich vorziehe, hier zu bleiben; ich bin zu sicher, daß, wenn ich einmal fort wäre, Sie mich nicht zurückriefen. Und was das Stück-Welt-Erobern angeht, wie können Sie das mir zumuthen, wenn sogar Dankmar, wie Sie sagen, eine solche Aufgabe über seine Kräfte findet?

Das beweist nichts, fiel Hermine lächelnd ein. Dankmar verzagt dabei nicht an seiner Kraft, er fühlt sich nur von der Natur so großartig eingerichtet, daß er die Welt zu seinen Füßen erblickt und sich nicht bücken mag, sie aufzuheben. Er verachtet alle Lorbern, welche die Welt ihm bieten kann; in irgendeinem Kreise des Menschen oder im großen Ganzen dem Staate zu dienen, widerstrebt ihm, weil er wie alle Sterblichen dabei klein beginnen und erst nach und nach Größeres erreichen müßte. Wenn Dankmar von Gohr einmal beginnt, so soll das gleich in einer Weise sein, daß die Welt erstaunt und die Trompete des Ruhmes seinen Namen in die vier Weltgegenden bläst; sonst beginnt er lieber gar nicht.

Mauvaise langue! sagte lachend Dankmar. Glauben Sie ihr kein Wort, Gundobald.

Wenn du französisch reden willst, fuhr Hermine fort, so führe lieber Voltaire's Wort an: » Quel grand homme! Rien ne lui plaît!« Das paßte auf dich, wenigstens bis heute – denn jetzt, fügte sie schelmisch hinzu, scheint mir fast, daß dir wenigstens etwas gefällt.

Und was wäre das?

Das wäre Fräulein Anna Morell! Ich sehe, daß du viel öfter nach den Fenstern des geistlichen Rathes hinaufblickst, als sich durch deine Zärtlichkeit für den guten alten Mann erklären läßt.

Meinst du, kleine Bosheit?

Das meine ich; und da mir Fräulein Morell ebenfalls gefallen hat, war keine Bosheit dabei. Fräulein Morell scheint überhaupt Eroberungen zu machen; Prinz Günther fand sie gestern anziehend, du machtest ihr sofort den Hof, und Gundobald hat sich ohne Zögern in ihren Dienst begeben. Ich fürchte nur, daß sie bei solchen Eigenschaften nicht die Eroberung der Gräfin Edern machen, und glaube nicht, daß sie lange dort bleiben wird.

Das würde ich bedauern, sagte Dankmar ruhig. Sie ist ein merkwürdig gescheites Mädchen und hat auffallend wenig von einer Gouvernante an sich, aber desto mehr von einer vornehmen Dame. Findest du das nicht?

Ich sage dir, daß sie mir gefällt; darin liegt aber kein Grund, daß ich Burghaus den zweiten Theil meiner von euch unterbrochenen Rede erlassen sollte …

Und der lautet? fragte Gundobald.

Daß, da Sie nicht ein so hochmüthiger Geist wie mein Bruder sind und sich bescheiden mit kleinen Anfängen begnügen werden, ich meine schwesterliche Sorge auf Sie übertragen werde und Sie in die Welt hinaustreiben will.

Wie den Peter in die Fremde …

Nein, nicht so; der kehrte viel zu rasch zurück.

Und mich wollen Sie weiter senden – ich weiß! Aber ich will nicht – ich sträube mich wie Bertrand von Born, als er auf die Bußfahrt sollte:

Meine Buße will ich thuen
Zwischen Meer und der Durance,
Nah bei meiner Herrin Wohnung!

Ganz recht, thun Sie Ihre Buße, wo Sie wollen; aber erst ziehen Sie in die Welt und verrichten da wenigstens einige Schandthaten, damit Sie dann daheim etwas zu büßen haben. Sie werden dann Ihrer Herrin Edwine weit lieber und viel interessanter sein – glauben Sie es mir.

Meiner Herrin Edwine! rief Gundobald aus.

Nun ja! Edwine ist doch nicht schon durch Fräulein Morell verdrängt?

Nein, sie sind mir alle beide so gleichgültig wie das ganze Damengeschlecht. Ich bin auf dem Wege, ein erklärter Weiberfeind zu werden, damit Sie's nur wissen, gestrenges Fräulein. Ich denke mir bei jeder, daß die ganze Bosheit von Fräulein Hermine von Gohr in ihr steckt, nur daß sie sie nicht so schlagfertig, so beredt und gewandt von sich geben kann und das genügt mir denn.

Hermine lachte.

Freut Sie das? rief Gundobald. Was erfreut Sie dabei? Das Compliment, welches ich Ihnen mache, oder daß ich ein Weiberhasser werden will?

Entschieden das letzte! Es zeigt doch Charakter! Sie sind auf gutem Wege! Haß ist schon viel – sehr viel!

Nun, wahrhaftig, sagte Burghaus geärgert, so sollen Sie sehen, daß ich dazu fähig bin! Ich will Sie recht ingrimmig hassen!

Sie schüttelte den Kopf. Das bringen Sie gar nicht zu Stande! Ich bin bereit, mit Ihnen zu wetten, was Sie wollen! Sie sollen gewonnen haben, sobald Sie es übers Herz bringen, mir einen empfindlichen Aerger, Kummer oder Verdruß zuzufügen!

Eine solche Wette, rief Gundobald aus, können Sie freilich leicht gewinnen! Wie könnte Ihnen etwas Verdruß machen, was von einem so gänzlich unbedeutenden und gleichgültigen Menschen ausgeht, wie ich bin?

Darin liegt etwas Wahres, sagte Hermine, spöttisch lächelnd. Aber wer uns haßt, wird uns bald nicht mehr gleichgültig. Also beginnen Sie nur.

Sie unterlassen freilich nichts, den Haß zu schüren. Und begonnen habe ich längst.

Nun hört auf mit euern saubern Liebeserklärungen, schaltete Dankmar ein; ich sehe Fräulein Morell und den Rath kommen.

 

Fräulein Morell war schon am gestrigen Abende dem alten Herrn angekündigt worden; er hatte die Mittheilung überrascht aufgenommen, da er keine Ahnung hatte, von welchen alten Bekannten ihm die neue Gouvernante auf Haus Edern ein Lebenszeichen bringen könne.

Als sie nun heute mit Gundobald gekommen und gebeten, ihn allein zu sprechen, hatte er sie in sein Zimmer geführt – ein schlicht eingerichtetes, aber mit der höchsten Sauberkeit und Ordnung gehaltenes Zimmer, dessen Hauptschmuck zahlreiche Reihen wohl abgestäubter Bücher in dunkelbraunen Repositorien bildeten, und dazu einige Kupferstiche berühmter Männer, wie Leibniz, Klopstock, Kant, Lessing und Herder, Leute, die man ehemals in der Studirstube eines Geistlichen nicht so anstößig fand, wie sie in unserer heutigen, in Glaubenssachen reizbarern und im Cultus des Genius lauern Zeit gefunden werden. Aber Rath Zander gehörte eben einer ältern, weisern und duldsamern Welt an und fand sich nicht mehr in die heutige.

Rath Zander bat Fräulein Morell, auf dem Sofa von schwarzem Roßhaar Platz zu nehmen, welches unter dem alterthümlichen Spiegel im rothfoliirten Glasrahmen stand, und setzte sich selbst ihr gegenüber in seinen alten, bequemen Lehnstuhl. Er sah sie fragend an und schien der Ansicht zu sein, daß sie ein wenig viel Umstände mache mit der Uebergabe eines Briefes oder Billets, das einen Gruß von einem alten Freunde enthielt.

Nachdem sie sich bequem niedergelassen, nachdem sie einen prüfenden Blick auf das ganze Zimmer geworfen, begann sie lässig ein elegantes Taschenbuch von grünem Sammt aus einer Falte ihres Kleides hervorzuziehen, nahm aus dem Taschenbuche ein zusammengefaltenes Blatt Papier hervor und sagte, während sie es auseinanderschlug:

Ich habe Ihnen eigentlich nicht einen Brief eines Freundes zu übergeben, sondern diese Abrechnung über eine Summe, welche vor vielen Jahren dem Hause Heckermanns und Verspalt in Antwerpen zugestellt wurde mit der Bestimmung, daß sie in dem Monate Mai oder Juni dieses Jahres Ihnen ausgehändigt werden solle. Wenn Sie die Rechnung prüfen und dann darunter bescheinigen wollen, daß Sie den Betrag der Summe erhalten haben, so steht Ihnen diese jeden Augenblick bei mir zu Diensten; ich muß Sie bitten, sich dazu zu mir nach Haus Edern herüberzubemühen.

Während Anna Morell dies ruhig in dem Tone, womit man gleichgültige Geschäftssachen bespricht, sagte, war plötzlich eine merkwürdige Veränderung in den Zügen des Geistlichen vorgegangen. Seine Augen starrten sie groß und erschrocken an, er war blaß geworden, die Fältchen in seinen Augenwinkeln begannen in heftiges Zucken zu gerathen, und er antwortete:

Von Heckermanns und Verspalt – grundgütiger Gott! Und ich glaubte, über diese Summe sei längst anderweitig verfügt und jenes Haus sei längst untergegangen und begraben!

Es besteht allerdings nicht mehr, versetzte Anna, etwas verwundert, daß ihre Mittheilung eine so wenig angenehme Wirkung auf den geistlichen Herrn hervorbrachte. Der alte Herr Heckermanns, fuhr sie fort, hat sich längst von den Geschäften zurückgezogen; aber er hat diejenigen Summen, welche bei ihm niedergelegt waren und die sich aus verschiedenen Gründen nicht an ihre Eigenthümer zurückstellen ließen, zur Verwaltung einer der Banken des Barons Chevaudun übergeben. Diese Bank ist es, welche Ihnen Rechnung ablegt und durch mich das Geld sendet.

Des Barons Chevaudun? Und Sie – kennen Sie den Baron Chevaudun?

Ich kenne ihn, und wie Sie sehen, setzt er Vertrauen in meine Zuverlässigkeit. Da er erfuhr, daß ich in diese Gegend reise, bat er mich, ein kleines Geschäft für ihn zu übernehmen, das ihn einer alten, gegen Heckermanns eingegangenen Verbindlichkeit entbürdet. Die Uebersendung einer solchen Summe durch die Post hätte viel Kosten gemacht, und wenn ich auch ein junges Mädchen bin, setzte Anna lächelnd hinzu, so glaubte er doch, ich würde die einfache Sache so gut abmachen können wie ein eigens dazu herübergeschickter Commis.

Der geistliche Herr fühlte sich offenbar in einer äußerst peinlichen Lage. Er stand auf, er schritt auf und ab, er setzte sich wieder – er rief endlich aus:

Ich kann wahrhaftig das Geld nicht nehmen! Ich kann, ich darf nichts mit der Sache zu thun haben! Senden Sie das Geld dem Baron Chevaudun zurück; schreiben Sie ihm, ich sei todt, schreiben Sie ihm, was Sie wollen, nur lassen Sie mich damit ungeschoren!

Seltsam! sagte Anna: ich soll schreiben, Sie seien todt; das kann ich nicht, es wäre eine Unwahrheit. Und verschonen mit der bestimmtesten Aufforderung, die Summe entgegenzunehmen, kann ich Sie auch nicht, es ist ausdrücklich bestimmt, daß das Geld an Sie jetzt gezahlt werden soll. Der Baron von Chevaudun wird es nicht zurücknehmen, er wird auf der Erfüllung der Bedingung bestehen, unter der er die Last und Verantwortlichkeit der Verwaltung dieser Summe übernommen hat.

Aber, rief der geistliche Rath aus, so sagen Sie selber, ob ich Ihnen willfahren kann? – Mein Gott, fügte er in halber Verzweiflung hinzu, ich habe niemals in meinem Leben einer Menschenseele eine Silbe davon offenbart – aber ich will Ihnen alles sagen, und Sie sollen mir rathen – Sie selber …

Wissen Sie, ob ich Ihnen rathen kann? Ich bin ein junges Mädchen und ganz bereit, einem Freunde einen Gefallen zu thun, der so einfacher Art ist, wie ihn der Baron von Chevaudun von mir erbat; aber ich bin auch ganz schüchtern und ängstlich, wenn man mir Geheimnisse anvertrauen will und wenn ich die Verantwortlichkeit von Rathschlägen übernehmen soll; ich bin wol nicht gerade zaghaft, wenn ich für mich handeln soll, aber auch ganz unentschlossen, wenn es sich darum handelt, anzugeben, was andere thun sollen. Reden Sie deshalb lieber mit Herrn von Gohr, und was mich angeht, so nehmen Sie mir einfach mein Geld ab.

Nein, nein, rief der geistliche Rath aus, die Frauen können besser schweigen wie die Männer, und Sie sind klug und klar, das sehe ich Ihnen an! Sie sind allen hier fremd, Sie werden weiter keine Folgerungen und Schlüsse ziehen aus dem, was ich Ihnen sagen will, und das würden die andern thun – also hören Sie … ich bitte Sie darum, hören Sie mich!

Wie, Sie vertrauen nicht der Schweigsamkeit und Zuverlässigkeit des Herrn von Gohr lieber als der des ersten besten jungen Mädchens? rief Anna aus. Und ist, wenn Sie sich einem weiblichen Wesen anvertrauen wollen, nicht Fräulein Hermine von Gohr da, die gewiß unendlich verständiger ist als ich und zehnmal besser im Stande, Ihnen zu rathen?

Mag sein, mag sein, ich weiß es nicht, erwiderte der geistliche Herr in seiner tiefen Erregung ich weiß nur, daß ich mit niemand reden darf, der in so nahen freundschaftlichen Beziehungen zu denen steht, um die es sich handelt … begreifen Sie denn das nicht? Nur ein ganz Fremder, ganz Unbetheiligter wird mir unbefangen seine Meinung sagen, und rathen können … ach und mein Gott, ich habe so nöthig, daß mir jemand räth …

Seltsam, daß Sie auf fremden Rath so viel Gewicht legen …

Gewiß, gewiß thu' ich das, denn ich selber, sehen Sie, ich habe über die Sache so lange gedacht und gegrübelt, daß ich ganz wirre darüber geworden bin und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehe, und darum muß ich einmal hören, was ein anderer mit seinem einfachen gesunden Verstande dazu sagt – warum wollen Sie denn nicht so viel Güte für einen alten Mann in äußerster Hülflosigkeit haben, Fräulein?

Der geistliche Rath sprach dies im flehentlichsten Tone der Bedrängniß.

Wenn Ihnen in der That so viel daran gelegen ist, so bin ich ja gern bereit, fiel Anna ein.

So hören Sie, hören Sie aufmerksam zu!

Es lebte vor Jahren hier im Lande, auf seinem Schlosse zu Dornegge, begann der Geistliche, ein reicher und in hohem Ansehen stehender Edelmann, der Freiherr von Nesselbrook. Er war ein starrer Aristokrat, ein Mann des Feudalitätsprincips, und die Grundlage seiner Anschauungen war die Autorität der Kirche, der Eckpfeiler, auf dem sein Weltgebäude beruhte. Er war vom Kopfe bis zum Fuße Romantiker. In seiner Jugend hatte er Volkslieder gesammelt und zur Guitarre gesungen, in seinem reifern Alter »die historische Schule« begründen helfen und ihr Organ durch sein Geld unterstützt; er hatte Bücher geschrieben, um seine Standesgenossen zu einem gemeinsamen Wirken für Zwecke zu gewinnen, welche, von äußerst phantastischen Voraussetzungen ausgehend, nur einem hochfliegenden Geiste wie dem seinen erreichbar schienen.

Er war ein reichbegabter Mann, mit einer staunenswürdigen Combinationsgabe, welche ganz weltenweit auseinanderliegende Dinge so in Verbindung zu bringen wußte, daß sie plötzlich das wunderbarste Licht aufeinander warfen; seine Phantasie wühlte in der Sagenwelt aller Völker umher und baute eine mystische Menschheitsgeschichte daraus auf, mit Folgerungen auf die Entwickelungen der Gegenwart und der nächsten Zukunft, welche man gefesselt und geblendet anhörte, wie man alte Wahrsagungen anhört, betroffen, erregt und ungläubig. Kurz, er war ein Kopf voll Aberglauben, aber auch voll der dichterischsten und geistreichsten Gedanken, welche dem Aberglauben untergelegt werden können.

Ist der alte Herr todt? fragte Anna lächelnd. Sie lassen mich bedauern, ihn nicht persönlich gekannt zu haben.

Er war ein anziehender Mann, fuhr der Geistliche fort, und er würde Sie für sich gewonnen haben, wie viele Frauen; er liebte die Frauen, obwol er nicht gewissenhaft gegen sie war und das ihn unterjochte, was den Vortheil der Nähe hatte. Er war auch darin ein Aristokrat vom reinsten Wasser, ein systematischer Egoist; die Kirche, der Staat waren da für die romantische Weltordnung, deren letzter Ausdruck Ritter und Knecht ist, und die Welt war da zum Genusse des Ritters. Eine solche Anschauung war bei ihm weniger verletzend, weil sie in ihm aus dem Bewußtsein einer geistigen Aristokratie hervorging und verbunden war mit dem Eingeständnisse, daß sie da absurd wird, wo dies nicht der Fall ist.

Aber jedenfalls war er ein großer Häuptling in seinem Stamme, fiel Anna ein.

Er war es. Man schaute mit einem gewissen Stolze auf ihn. Man hielt ihn für einen großen Gelehrten; man bewunderte ihn, man ließ ihn seine Zwecke verfolgen, aber man unterstützte ihn dabei nicht. Man scheute sogar seine beunruhigende, die Denkthätigkeit aufstachelnde, Aufregung mit sich bringende Nähe. Man ist realistisch und indolent in diesem Lande.

Der Freiherr von Nesselbrook war eine Anomalie unter seinen Standesgenossen. Und so stand er einsam. Ja, zu vielem, was er begann, schüttelte man den Kopf, spottete wol im stillen darüber oder widersprach ihm und spornte dadurch doppelt seinen Thätigkeitstrieb. Freunde hatte er weniger. Ein Mann wie er, der sich viel in der Welt umtrieb, der mit Gesinnungsgenossen in Oesterreich, Italien, Frankreich, Belgien in Verbindung stand, hat tausend Bekannte; Freunde daheim weniger.

Ich gehörte zu den wenigen, obwol ich in ewigem kleinem Kriege mit ihm war. Der liebe Gott hat mir nun einmal eine nüchterne und ein wenig trockene Natur gegeben; als ich in die Schule ging, waren Mathematik und Logik Dinge, welche man uns einbläute, und es gehörte noch nicht zur Erziehungsklugheit wie heute, Parteitendenz für Geschichte zu geben. Und so war ich für meinen Freund der lebendige Widerspruch; aber ebendeshalb bedurfte er meiner. Ich war ihm der Vertreter der Opposition der Welt von heute und vielleicht auch seiner eigenen innern Selbstkritik; er bedurfte meiner, um mich zu besiegen, um mich niederzuargumentiren.

Sie waren Seiner Majestät getreueste Opposition? warf Anna lächelnd ein.

So etwas, versetzte Zander. Mein Freund Nesselbrook war in seiner Häuslichkeit nicht glücklich. Er war früh verwitwet und hatte nur eine Tochter. Neben der Tochter waren ein Neffe und eine Nichte in seinem Hause, die hinterlassenen verwaisten und vermögenslosen Kinder einer ältern Schwester. Nesselbrook's Vermögen wäre nach den alten Fideicommißbestimmungen seiner Familie auf den Neffen übergegangen; aber die Fideicommisse waren in jener Zeit aufgehoben, und die Tochter meines Freundes war also seine Erbin. Diese Tochter jedoch that ihm das größte Herzeleid seines Lebens an: sie liebte einen Offizier, der von unstichhaltigem Adel und noch obendrein ein Protestant war; sie ging mit dem Geliebten durch, und mein armer, alter Freund gerieth dadurch so außer sich, daß es der kalten Klugheit der Nichte leicht wurde, wieder ins Gleiche zu bringen, was die moderne Gesetzgebung verbrochen hatte, die Enterbung der Tochter und die letztwillige Zuwendung des Vermögens an ihren Bruder und sich zu bewirken.

So standen die Dinge, als eine eigenthümliche Veränderung in den Gedanken und Ueberzeugungen meines Freundes einzutreten begann. Es würde zu weit abführen, Ihnen den Zusammenhang dieser Veränderung psychologisch zu entwickeln, und es mag genügen, wenn ich sage, daß der alte Herr eben älter wurde und in dem Maße, wie seine Phantasie abnahm, sein Verstand kühler die nichtigen Ergebnisse oder die völligen Schiffbrüche seiner kühnen Vorsätze und gewaltigen Bestrebungen überblickte, auch sein Gemüth einen größern Raum in ihm anzunehmen begann, sodaß nach und nach an die Stelle der romantischen und, wie er sagte, historischen Grundsätze rein menschliche traten. Es kam damit eine größere Unruhe und Rastlosigkeit über ihn; er begann noch mehr zu reisen, und nachdem ich ihn lange nicht mehr gesehen …

Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, hochwürdiger Herr, sagte Anna hier; ich interessire mich für Ihren alten Herrn von Nesselbrook, und weil ich das thue, möchte ich mir ein klares Bild von ihm machen. Dies Bild begann aber ins Verschwimmen zu gerathen bei dem, was Sie eben sagten. Kommen Sie meinem schwachen Frauenzimmer-Begriffsvermögen zu Hülfe und sagen Sie mir das noch einmal: weshalb trat eine Aenderung in den Ueberzeugungen dieses Mannes ein?

Wenn Sie ein ganz klares Bild von diesem Manne haben wollen, liebes Fräulein, so will ich Ihnen zuerst eine Zeichnung geben, die ihn in leichten, doch genialen Umrissen darstellt, und dann will ich versuchen, Ihre Frage gründlicher und verständlicher zu beantworten.

Der geistliche Herr stand auf und holte aus seiner Schlafkammer eine in einen einfachen schwarzen Rahmen gefaßte Zeichnung herüber, die, in leichten Bleistiftzügen entworfen, doch Anna sofort in hohem Grade anzog. Man blickte in ein großes, mit mancherlei alterthümlichem Geräthe und Bücherschränken gefülltes Gemach; alte Waffenstücke standen in den Ecken; seltsame Götzenbilder und dazwischen Statuetten von Heiligen und ritterlichen Gestalten auf den Borden; gemalte Glasscheiben bedeckten die Fenster, welche ohne Vorhänge waren. Ein aus Stein gehauener großer Ritter, der sicherlich aus irgendeinem zerstörten Kreuzgange eines Klosters oder Domes herrührte, kniete mit gefaltenen Händen in einer der Ecken.

Im Vordergrunde des Bildes, auf zwei dicht aneinandergerückten und geschnitzten alten Lehnsesseln, saßen zwei Männer, ein großes Buch aufgeschlagen auf ihren Knien haltend. Der ältere von ihnen, der zur Linken, war in einem weiten mit Pelz gefütterten Schlafrocke; er hatte ein kahles, majestätisches Haupt, eine mächtige Stirn mit gewaltigen Brauen, eine starke, gebogene Nase und den Ausdruck kühner Entschlossenheit um den Mund und das energische Kinn; es war eine merkwürdige Mischung von westfälischem Baron und einem Brahminen oder einem Hohenpriester der Isis in diesem Kopfe, der mit einem halb triumphirenden, halb strafenden Blicke auf den neben ihm sitzenden Mann, in welchem man sofort das Bild des geistlichen Rathes erkannte, schaute. Der ausdrucksvolle, in wenigen markirten Zügen angelegte Kopf dieses letztern blickte, wie es schien, ein wenig kleinlaut und betroffen auf die Stelle im Buche nieder, auf welche der Baron wie gebieterisch deutete.

Anna betrachtete das anziehende Bild mit großem Interesse. Dann sagte sie scherzend:

Sie scheinen mir da ein wenig in der Klemme, hochwürdiger Herr – der Baron beweist Ihnen da vorn auf dem Bilde, daß Sie etwas Unrichtiges behauptet haben, und hinter Ihnen scheint über das, was Sie gesagt, der steinerne Ritter die Hände zusammenzuschlagen und den Himmel um Vergebung für Sie anzuflehen!

Es sieht fast so aus, antwortete Rath Zander lächelnd. Wir sind da dargestellt im Streite über des Barons Lieblingsthema, Gott habe das Chaos und das Licht, aber dann habe Lucifer die Erde geschaffen. Lucifer sei danach gefallen durch den Stolz auf dieses sein gelungenes Werk, dessen Gelungensein doch, wie Sie wissen, von unzufriedenen Geistern und tadelsüchtigen Köpfen zu allen Zeiten sehr in Zweifel gezogen worden ist. Durch jenen Fall aber sei das wohlthätige, wärmende Licht zum verzehrenden Feuer geworden. Er war ein gnostischer Ketzer in seiner Theosophie. Ein Geologe würde ihn einen Vulkanisten genannt haben. Wenigstens war er ein Vulkan, der aufflammte, wenn man ihm in solchen Dingen widersprach; aber er scheute den Widerspruch der Gelehrten, weil seine Systeme nicht auf streng wissenschaftlichen Forschungen und Grundlagen beruhten und sich lieber an die Phantasie seiner Hörer wandten als an ihre Kritik.

Aber die Phantasie – und damit komme ich zur Beantwortung dessen, was Sie mich zuletzt fragten –, die Phantasie verliert ihre Macht über uns, wenn wir älter werden, und die Kritik, welche wir von uns abgewehrt, besiegt zu haben glauben, entsteht dann allmählich in uns selber. Diese Kritik mag sich auch in der Seele des Barons Geltung verschafft haben; sie mag ihm gezeigt haben, daß er in seinem langen Kampfe mit den Richtungen seiner Zeit keinen einzigen Sieg errungen; daß er, weit entfernt, einen Fuß breit Bodens für seine Grundsätze zu gewinnen, diese nur immer mehr an Bedeutung für die Gegenwart verlieren sehe; daß das Licht der Autorität täglich mehr von seinem Glanze verliere und das Feuer der Humanität auf dem von seinem Lucifer aufgebauten Theater der Welt täglich heller strahle.

Er sah alles, wofür er sich gemüht, woran er die ganze Kraft seines Wollens und all seine Arbeit gewandt, zusammenbrechen, zunichte werden in den Ereignissen und in den Gestaltungen neuer Verhältnisse. Die wachsende Erfahrung zeigte ihm die Menschen selbst von anderer Natur, als die Phantasie sie ihm früher gezeigt. Er sagte mir einst selbst mit einem schmerzlichen Seufzer: »Und wenn wir das ganze Gebäude des Feudalismus wieder aufgebaut hätten, es hälfe uns dennoch nicht, denn wir haben keinen Feudalismus mehr in uns selber!« Und ich antwortete ihm darauf Goethe's Wort:

Wenn sie den Stein der Weisen hätten,
Der Weise mangelte dem Stein.

Und dann kam noch ein anderes Moment hinzu. Wenn wir älter werden, wächst nicht allein die Gabe des schärfern Erkennens in uns, es wächst auch das Gemüth; seine Forderungen werden stärker, und je mehr wir uns kühl von der Welt in uns selbst zurückziehen, desto mehr verlangt unser Herz von dem nächsten Kreise, der uns umgibt. Und hier war der Baron nicht glücklich. Seine Tochter war von ihm geflohen, und er hatte sie verstoßen. Ich darf annehmen, daß er diesen Schritt zu bereuen begann. Die Nichte, welche ihm die Tochter ersetzte, beherrschte ihn; er fürchtete sie, und ich glaube, er begann es zu empfinden, daß sie ihn beherrsche.

Kurz, es kam allmählich eine tiefe Verstimmung über ihn. Als ich ihn das letzte mal sah, fand ich ihn sehr alt geworden, schweigsam und übel gelaunt; er war stumpf für seine gewöhnlichen Lieblingsgegenstände, er ließ mich gegen seine Gewohnheit zum Reden kommen und fragte nach meinen Ansichten in mancherlei Dingen, auf die er sonst, als von moderner Aufklärung verwaschen und verwässert, nicht horchen wollte. Ich verließ ihn und hörte dann, daß er eine größere Reise angetreten habe.

Ein halbes Jahr später erhielt ich von ihm eine Sendung aus Meran, wo er sich aufhielt – ein Packet, welches einen Brief und sein Testament enthielt. Dieses Testament war für mich überraschend genug. Es war ein höchst merkwürdiges, an tiefen Gedanken reiches Actenstück, worin mein alter Freund seinen völligen Abfall von seinem frühern Glauben, einen völligen Umschwung in all seinem Denken aussprach. Man blickte, wenn man diese Blätter las, in eine zerschlagene Welt, eine zertrümmerte Tempelherrlichkeit, eine hohe, aber in Schutt und Trümmern liegende Kathedrale.

Die Quadern, welche die fromme Symbolik unserer Väter sozusagen durchgeistigt, die hohen Säulenbündel, welche die Scholastik verkittet, all die gothischen Blumen- und Blätterzacken und Phialen, welche fromme Phantasie geschnitzelt und geträufelt – das alles lag von der unerbittlichen Verderberhand des alten Mannes zerschlagen und zerstreut in wüsten Trümmern durcheinander; nur der Altar stand noch unangetastet da, und auf dem Altare das Bild einer Gestalt, welche die Rechte zum Segnen erhebt, die Linke auf das Haupt eines Kindes legt und die Worte spricht: »Ihr sollt anbeten im Geiste und in der Wahrheit!«

Welch ein Charakter! sagte Anna, die gespannt dieser Erzählung zuhörte.

Mit dem Umschwunge in seinem Denken war der Umschwung in seinen Entschlüssen Hand in Hand gegangen, fuhr der Rath fort. Er widerrief sein früheres Testament, welches seine Güter seinem Neffen und seiner Nichte vermacht hatte; er setzte den ältesten Sohn seiner durch das frühere, gerichtlich übergebene Testament enterbten Tochter zum Universalerben ein. Zugleich erwähnte er einer bei einem Bankier Heckermanns in den Niederlanden deponirten Summe, welche dem Universalerben bei dessen Großjährigkeit ausgehändigt werden solle. In dem die Sendung begleitenden Briefe an mich, den im Testamente ernannten Executor desselben, beauftragte er mich, diesen seinen letzten Willen aufzubewahren bis zum vierundzwanzigsten Geburtstage seines Enkels. Erst in dem Augenblicke, wo derselbe mündig werde, und nach dem er als vermögensloser junger Mensch im Kampfe mit dem Leben zu einem Manne und zu einem Charakter geworden, solle ihm der Reichthum in den Schos fallen. Bis dahin war mir das strengste Stillschweigen auferlegt. Sein Enkel aber solle, nachdem ihm das Testament übergeben, dieses letztere unter Strafe der Nichtigkeit durch den Druck veröffentlichen.

Nun, so ist ja alles in Richtigkeit, sagte Anna hier; jener vierundzwanzigste Geburtstag wird eben herannahen, und ich bringe Ihnen die einst bei Heckermanns deponirte Summe mit den seitdem aufgelaufenen Zinsen …

Sie haben recht, unterbrach sie der Rath, jener Tag naht, Sie bringen das Geld – und doch …

Ist der Enkel vielleicht todt oder verschollen?

Durchaus nicht, er lebt in bester Gesundheit.

Nun, dann begreife ich nicht …

Sie werden meine Verlegenheit begreifen, wenn ich Ihnen sage: ich habe das Testament nicht mehr – das Testament ist fort!

Das Testament ist fort? Wo ist es, wer hat es Ihnen genommen?

Der Rath rieb die Hände übereinander, strich sich über die Stirn, schlug dann halb im Kummer, halb im Zorne auf die Lehne des Sessels und sagte:

Mein Gott, soll ich auch das noch Ihnen sagen? Aber sei es darum, sei es darum Sie müssen ja alles wissen, wenn Sie mir rathen sollen; so hören Sie! Es war vor Jahren, vor fünfzehn Jahren vielleicht, als eine große Aufregung sich der Provinz bemächtigt hatte. Die Regierung hatte mit der eisernen Hand einer unverständigen Gewalt in kirchliche Verhältnisse eingegriffen; die Gemüther waren bewegt, erhitzt und in feindliche Lager gespalten, die sich mit Büchern, Broschüren, Zeitungen befehdeten. In meiner ruhigen Art, die Dinge anzuschauen, sprach ich meiner Ueberzeugung treu, sprach lebhafter, als es in meiner Stellung klug war, dem Für und dem Wider, wie ich glaubte, maßvoll gerecht werdend.

Es ist immer meine Natur gewesen, mich gegen blinde Parteinahme zu stemmen und von den Extremen abgestoßen zu werden. Wo ich den Feind zu sehr schmähen höre, werde ich des Feindes Vertheidiger, wo ich den Freund zu sehr preisen höre, werde ich des Freundes Widersacher; ich kann nun einmal nicht anders; höher als Freund und Feind steht mir gerechtes Maß: amicus Plato, amicus Cicero, magis amica veritas!

Dennoch gerieth ich in den Verdacht, eine Broschüre geschrieben zu haben, welche der Staatsgewalt in hohem Grade misfallen hatte und nach deren Verfasser sie emsige Nachforschungen anstellte. Eines Tages trat ein Beamter des Gerichts bei mir ein und forderte mich auf, ihm die Durchsicht meiner sämmtlichen Schriften zu gestatten. Ich gewährte sie ihm in großer Bestürzung. Mein Gewissen war nicht beschwert, aber es war auch nicht gerade rein. Manche meiner Excerpte, mancher in ein Tagebuch geschriebene Gedanke, oft nur von der augenblicklichen Stimmung eingegeben, mancher von Freunden geschriebene Brief das alles war eben nur für mich geschrieben, nicht für das Auge eines Dritten, eines Beamten der Staatsbehörde.

Dieser durchforschte alles. Er fand auch das Testament und den dazu gehörigen Brief. Dann nahm er sämmtliche Schriftstücke an sich, um sie an höherer Stelle vorzulegen. An höherer Stelle fand man den Verdacht zwar nicht bestätigt, aber man gab mir meine Schriften nicht zurück, man händigte sie – ich weiß nicht aus welchen Gründen meinem Ordinarius zur Kenntnißnahme ein. Ich wurde nach zwei Tagen vor meinen kirchlichen Oberhirten berufen. Er trat mir mit mildem Ernste entgegen, und indem er mich auf einen Stuhl neben sich zog, sagte er, daß er sich freue, erfahren zu haben, wie ungegründet der Verdacht sei, den man wider mich erhoben, und daß ich jetzt mit um so versöhnlicherer Stimmung über eine verletzende Maßregel denken müsse, die meine Unschuld herausgestellt habe.

Ein Stein fiel mir vom Herzen bei diesem gütigen Empfange, wenn ich auch nicht ohne eine gewisse Demüthigung daraus abnehmen konnte, wie harmlos meine Tagebucheinfälle und wie gründlich ungefährlich meine intimsten Gedanken erschienen seien; unsere Eitelkeit mischt sich eben in alles, und es hatte jener Verdacht mich empört und mir, da das fragliche Buch sehr geistreich geschrieben war, auch wieder geschmeichelt.

Es ist aber, fuhr dann der Bischof fort, unter Ihren Papieren eine Urkunde gefunden worden, welche man mir übergeben hat und deren Rechtsbeständigkeit nach der Aussage unsers Justitiars nicht in Zweifel zu ziehen sein soll; wollen Sie mir erzählen, wie es sich damit verhält?

Ich erzählte, was ich darüber mitzutheilen hatte, was ich Ihnen eben mittheilte, und sah, wie alles, was ich sagte, nur den sorgenschweren Ernst meines frommen Ordinars verstärkte.

Es ist unmöglich, dieses Testament zu veröffentlichen, sagte er, nachdem ich geschlossen; denken Sie an das furchtbare Aergerniß, welches gegeben würde, wenn der Mann, der als eine Stütze und Zierde des Tempels galt, plötzlich als Herostrat erschiene, wenn er, mit diabolischer Weisheit als seiner Rüstung angethan, aufträte als der Widersacher des Hauses Christi, als ein Bedränger der Kirche, die der Bedränger so viele hat in diesen abfallsüchtigen, von falschen Propheten verführten Zeiten. Und denken Sie an den Sturz und Ruin einer angesehenen und durch fromme Anhänglichkeit und Opferbereitwilligkeit für das Haus des Herrn ausgezeichneten Familie, welcher mit der Veröffentlichung dieser Urkunde verbunden wäre. Und ist diese Urkunde nicht auch eine in sich ungerechte That? Hat Nesselbrook nicht das Richtige gethan, als er die Tochter enterbte und sein Vermögen dem Neffen zuwandte, der nach den alten Familiengesetzen der einzige berechtigte Erbe war? Hat er nicht recht gehandelt, indem er durch neuere Gesetze den alten Brauch seiner Vorfahren nicht umstoßen ließ? Und thut er nicht schreiendes Unrecht, jetzt das Gegebene wieder zu nehmen, das Gültiggewordene wieder umzustoßen? Was spricht Ihr Gewissen darüber? Was war Ihre Absicht? Was gedachten Sie zu thun?

Ich stockte mit der Antwort; ich erwiderte dann, daß ich sehr wider meinen Wunsch und Willen zum Executor dieses Testaments gemacht worden, daß es mir schwer auf der Seele gelegen allezeit, daß ich jedoch einmal der Executor sei und mich auch dieser Aufgabe nicht habe entziehen können, denn mein Widerstreben ohne Zweifel vorhersehend, habe der Baron mir wohlweislich verschwiegen, wohin ich ihm antworten könne, und seitdem ich jenes Document empfangen, sei ich gänzlich ohne irgendeine Andeutung darüber geblieben, wo er sich aufhalte und wo er gestorben.

Und daher betrachten Sie sich als Executor und mit allen Pflichten eines solchen belastet?

Allerdings muß ich das, versetzte ich.

Wir brauchen uns jedoch nicht Pflichten aufbürden zu lassen wider unsern Willen, sagte der Bischof; wenn mir ohne vorherige Frage, ob ich sein Mandat annehmen wolle, ein Mensch die Anwaltschaft in einer ungerechten Sache überträgt, so behandle ich ihn als einen Thoren. Ich glaube, daß Sie berechtigt waren, diese Urkunde, die Sie nicht zurückgeben konnten, als einen bösen, verderblichen und Ihr Seelenheil bedrohenden Gegenstand den Flammen zu übergeben.

Vielleicht, wenn ein Fremder sie mir aufgebürdet hätte, versetzte ich; aber der mir diese Urkunde sandte, war mein Freund. Es war keine einseitige Aufbürdung einer Last. Wir hatten beide Rechte aneinander, wir hatten beide das Recht der Freundschaft, uns gegenseitig Dienste zuzumuthen, auch wenn sie schwer und mit Selbstverleugnung verbunden waren. So wenigstens habe ich unser Verhältniß aufgefaßt. Ich habe das Testament empfangen und an mich genommen und treu aufbewahrt, in der Intention, der Executor zu sein. Durch diese Intention bin ich jetzt rechtlich gebunden und vor meinem Gewissen verpflichtet. Ich kann nichts daran ändern, und wenn die Stunde kommt, wo ich mich der Pflicht entledigen muß, kann ich nur sprechen: Lavabo inter innocentes manus meas.

Der Bischof schüttelte das Haupt und nach einer Weile sagte er nachdenklich:

Die Sache ist eine schwierige und es lassen sich darüber verschiedene Meinungen aufstellen, die auf den ersten Anblick gleich probabel erscheinen. Ich will mit dem Beirathe gewiegter und in der Casuistik erfahrener Männer erwägen, welches die sententia probabilior ist. Eins aber steht fest: da Sie sich als den Executor dieses anstößigen und Aergerniß und Unfrieden säenden letzten Willens betrachten, und ich stimme Ihnen allerdings darin bei, daß Sie durch Ihre Intention eine solche unselige Pflicht übernommen, so haben Sie auch das Recht, statt Ihrer einen Substituten für die Execution zu ernennen.

Freilich, versetzte ich, und ich würde dazu übergehen müssen, im Fall ich mich alt und schwach oder durch Krankheit hinfällig werden fühlte, bevor ich jenen im Testamente namhaft gemachten Zeitpunkt der Veröffentlichung erlebt hätte.

Gewiß, fiel der Kirchenfürst ein, und Sie können es in jedem Augenblicke. Und darum ist es das Beste, Sie legen das Ganze durch solch eine Substitution in die Hände Ihrer Vorgesetzten. Fügen Sie dem Documente eine von unserm Justitiar beglaubigte Clausel hinzu, wodurch Sie für die Ausführung des Testaments den jeweiligen Oberhirten auf dem bischöflichen Stuhle Ihrer Diöcese zu Ihrem Stellvertreter ernennen.

Ich erschrak bei diesen sehr bestimmt und im Tone des Befehls ausgesprochenen Worten. Das durfte, das konnte ich nicht. Es wäre ein schmachvoller Verrath am Vertrauen meines Freundes gewesen. Zwar sein in dem Testamente niedergelegtes Glaubensbekenntniß theilte ich nicht. Seine Vorschrift, daß dieses Glaubensbekenntniß veröffentlicht werden solle bei Strafe der Nichtigkeit des Testaments, misbilligte ich in hohem Grade. Aber für mich war das Wesentliche der eigentliche darin enthaltene regte Wille, der sein Vermögen wieder dem rechten Erben zuwandte und eine nach meiner Ueberzeugung gerechte Restitution aussprach. Für die Ausführung dieses letzten Willens mußte ich einstehen.

That ich aber nach dem Gebote meines Oberhirten und Vorgesetzten, so mußte ich fürchten, daß der letzte Wille meines Freundes nicht ausgeführt würde. Für den Fürsten der Kirche war das Wesentliche in dem Actenstücke das darin enthaltene Aergerniß, welches seine Heerde bedrohte. Von seinem Standpunkte aus mußte die Frage nach dem ungerechten Mammon eine untergeordnete sein. Das Seelenheil seiner Gemeinden stand ihm höher als vier oder fünf Rittergüter; es mußte ihm höher stehen – es gab für ihn nur Eine sententia probabilis in diesem Falle, und die hieß: ad ignem! Ja, wäre ich Bischof gewesen, ich hätte dieselbe Sentenz gesprochen! Vielleicht hätte ich es. –

Aber ich war nicht Bischof, ich war nicht Priester in dieser Sache, ich war nichts als ein Privatmann, ein Mann von Ehre, ein Freund. Und so mußte ich meinem Oberhirten widersprechen, so mußte ich seinem Befehle Ungehorsam entgegenstellen, so mußte ich taub bleiben gegen seinen milden und väterlichen Zuspruch; ich mußte hartnäckig bleiben gegen seinen apostolischen Ernst. Es war eine schwere, schwere Stunde für mich!

Der geistliche Rath fuhr mit der Hand über die Stirn; es schien, die Erinnerung an diese schwere Stunde lag noch immer wie eine drückende Last auf seinem Gemüthe.

Und dann? fragte seine Zuhörerin, immer mehr erregt von seiner Erzählung.

Der Bischof hatte mich entlassen, zur weitern und reifern Erwägung der Sache. Nach einigen Tagen beschied er mich wieder zu sich.

Es gäbe vielleicht einen Ausweg aus dieser schwierigen Angelegenheit, die mir wie eine Last auf dem Herzen liegt, sagte er. Sind Sie überzeugt, daß Ihr Freund, der alte Baron Nesselbrook, nicht mehr unter den Lebenden ist? Ist eine officielle Nachricht von seinem Tode vorhanden?

Nein, keineswegs, versetzte ich; er ist abgereist, er hat seine Güter stillschweigend in den Händen seines jetzt schon verstorbenen Neffen und seiner Nichte gelassen; er ist verschollen; sein erstes Testament, das, wie man allgemein weiß, die letztern zu Erben einsetzt, beruht noch heute bei Gericht, doch ist auf eine Todeserklärung und Veröffentlichung desselben von diesen Erben angetragen.

Also eine Nachricht von seinem Tode ist nicht da? sagte der Bischof. Daraus erwächst uns eine große Hoffnung. Und wie alt würde er sein, wenn er noch unter den Lebenden wäre?

Etwa sechsundsiebenzig Jahre jetzt, versetzte ich. Er war ein robuster Mann von großer Lebenskraft.

Wohl denn, fiel der Bischof ein, so bieten wir alles auf, um seinen Aufenthalt zu erfahren. Sagen Sie mir alles, was dazu führen kann.

Ich wußte dazu wenig anzugeben. Die Sendung Nesselbrook's war mir aus Meran zugekommen. Seitdem hatte ich, hatte niemand in der Gegend mehr von ihm vernommen. Aber ich deutete auf das Haus in Antwerpen hin, welches von ihm nach einer Stelle in seinem mir übersandten Testamente eine Geldsumme zur Verwaltung erhalten hatte. Vielleicht war er in Verbindung mit ihm geblieben, vielleicht hatte er fernerhin dieses Haus als sein Bankhaus gebraucht.

Der Bischof war hocherfreut über diese Andeutung.

Da bietet sich allerdings am ersten die Aussicht, uns beide einer schweren Bürde zu entlasten, sagte er. Ich hoffe, daß der liebe Gott uns dazu beistehen und die Schritte, die ich zu diesem Ende thun werde, nicht vergeblich gethan sein lassen wird. Ueberlassen Sie die Sache mir.

Erleichtert verließ ich die Wohnung meines gütigen und väterlichen Oberhirten, des verehrungswürdigen Mannes, dessen duldsamer Sinn nichts gemein hatte mit so manchen Kirchenvätern von heute, die den Schafen ihrer Heerde als Sturm- und Streitwidder vorschreiten zu müssen glauben.

Und dann? fragte Anna Morell.

Dann erhielt ich eines Tages eine freudige Botschaft aus der Curie des Kirchenfürsten, und als ich ihn wiedersah, sagte er:

Ich habe Nachrichten von jenem antwerpener Hause erhalten, das sich mir gegenüber bereitwillig ganz offen über den Aufenthalt des Freiherrn ausspricht. Ihr Freund lebt, er hat vor vier Monaten wenigstens gelebt, und er lebt als weltvergessener und der Welt entrückter Einsiedler auf dem Berge Athos. Sendungen, dorthin gerichtet, gehen an den österreichischen Consul in Thessalonich, der sie ihm ins Kloster Laura auf den heiligen Berg schickt. So ist der glücklichste Ausweg gefunden. Senden Sie ihm das Testament zurück, schreiben Sie ihm, daß Sie es wieder in seine Hände legten, damit er ihm eine Fassung gebe, welche Ihrem Gewissen erlaube, der Executor eines solchen letzten Willens zu sein. Ich selbst will Ihnen einen Brief an ihn beilegen; ich will ihm alles sagen, was Gott mir eingibt, um sein Herz zur Rückkehr zu rühren und ihn abzuhalten, auf einem Willen zu bestehen, der Verwirrung, Aergerniß und Zweifel in die Gemüther werfen, ja, in manches die Saat des Bösen streuen würde.

Ich küßte freudig und dankbar meinem Oberhirten die Hand – es war in der That der Ausweg gegeben. Daß ich nicht säumte, ihn zu ergreifen, können Sie denken. Als ich den Brief des Bischofs hatte, der mir ihn mit dem Testamente Nesselbrook's am nächsten Tage zuschickte, als ich dann selbst meinen Brief geschrieben, siegelte ich alles sorgfältig ein und sandte das kleine Packet über Triest an die Adresse des österreichischen Consuls in Thessalonich. Und dann, dann harrte ich lange, lange Zeit auf eine Antwort.

Sie bekamen keine?

Nein – niemals.

Und zogen auch keine Erkundigung bei dem Consul ein?

Nach einem halben Jahre that ich es. Ich erhielt die Antwort, der Freiherr von Nesselbrook sei vor etwa drei Monaten im Kloster Laura auf dem Berge Athos gestorben. Seinen geringen Nachlaß dort habe er den Mönchen, die ihn gepflegt, vermacht. Eines an ihn spedirten kleinen Packets entsinne man sich unter den mancherlei beim Consulat einlaufenden und durch dasselbe beförderten Gegenständen nicht. Das war alles, alles!

Damit schloß der Geistliche seine Erzählung, und Anna's Züge bei diesem Schlusse spiegelten etwas von der Rathlosigkeit, welche so lebhaft aus dem Antlitze des alten Herrn sprach.

Das ist freilich eine unangenehme Lage für Sie, sagte sie; der Enkel des Freiherrn wird, wenn Sie ihm jetzt – der Augenblick seiner Großjährigkeit ist wol gekommen? – die Summe, die ich überbringe, aushändigen, Erklärungen verlangen. Die Erklärung findet sich nur in dem Testament, und dieses haben Sie aus den Händen gegeben, der Post anvertraut – verloren.

So ist es, so ist es ja leider, fiel der Geistliche lebhaft ein – Sie durchschauen das ganz Entsetzliche meiner Lage – ich bin durch diese unglückselige, böse Schrift der unglücklichste Mensch auf Erden geworden!

Während der geistliche Herr matt in sich zusammengesunken niederblickte, die Hände schlaff über die Lehne seines Sessels niederhängen lassend, stützte Anna nachdenklich das Kinn auf ihre Hand. Nach einer Weile sagte sie:

Es kommt viel auf den Charakter des Erben an.

Rath Zander schüttelte den Kopf. Auf seinen Charakter kommt wenig an. Wenn man einem Manne, der arm ist, sagt: Du hast ein Recht auf einen großen und reichen Besitz, so spricht er: So gib! Ich will ihn, ich will mein Recht! Und spricht er nicht so, so thun es die Freunde, die sich plötzlich zahlreich zu ihm gesellen.

Und doch, fuhr sie fort, hängt von seiner Ruhe und Milde oder von seiner Heftigkeit und Streitlust vieles ab.

Solche Eigenschaften können die Thatsachen nicht ändern.

Nein, aber die Entwicklung der Dinge aus den Thatsachen.

Der Erbe ist ein wohlwollender, guter und bescheidener junger Mann, antwortete der geistliche Herr; aber er hat keinerlei Rücksichten in der Verfolgung eines offenbaren und klaren Rechts zu nehmen; er ist abhängig von niemand, er steht durchaus frei in der Welt.

Und doch, hob Anna nach einer Pause wieder an, wenn er so wäre, daß er mir Vertrauen auf seine Besonnenheit einflößte, würde ich offen mit ihm reden.

Freilich, freilich – aber kann ich?

Schon deshalb, weil Sie ihm dieses Geld übergeben müssen, das ich Ihnen bringe.

Dieses Geld? – Wem gehört es? Der Freiherr von Nesselbrook hat bestimmt, daß sein Testament nur dann Gültigkeit haben solle, wenn es veröffentlicht werde. Es ist nicht da, es kann nicht veröffentlicht werden, also hat es auch keine Gültigkeit, und jene Summe, welche in dem Testament, wie alles andere Gut, dem Enkel zugeschrieben wird, wem gehört sie?

Welche Schwierigkeiten! rief Anna aus. Und unterdeß sitze ich mit dem abscheulichen Gelde da – und niemand will es mir abnehmen. Aber hören Sie, mein hochwürdiger Herr, sagte sie dann mit großer Bestimmtheit, als sie sah, daß der Rath nur stumm die Achsel zog – es muß Ihnen doch klar sein, daß etwas geschehen muß, daß Sie nicht ruhig und apathisch stillsitzen und sich in ein Schweigen hüllen können, welches jenen jungen Mann einfach um sein Erbe bringt!

Was soll ich tun?

Ich habe aus Ihren Mittheilungen abgenommen, daß die Summe Geldes, um die es sich zunächst handelt, auch alsdann diesem Manne zufallen müßte, wenn Ihr alter Freund niemals irgendein Testament gemacht haben würde.

So ist es. Er ist der Sohn des einzigen Kindes, das Nesselbrook hatte. Sein erstes Testament restituirt sein Vermögen dem Neffen, welchem es die neuere liberale Gesetzgebung gegen allen Brauch, gegen den vielhundertjährigen Erbgang in der Familie Nesselbrook geraubt hatte. Das zweite, verschwundene, restituirte es seinem natürlichen Erben, dem es der Stolz und die Härte, welche das erste eingegeben, geraubt hatte – und nun, was nun recht und billig, was gut und mir geboten ist – wer kann es sagen?

Die Sache ist freilich verwickelt und arg genug, rief Anna aus, sie ist so, daß ein Mann sich gar nicht herausfinden mag – da muß die einseitigere und weniger grübelnde Kraft des natürlichen Rechtsgefühls in einer Frau helfen. Und dieses Rechtsgefühl sagt mir, daß Sie die Summe, von der zunächst die Rede ist, jedenfalls dem im letzten Testament eingesetzten Erben an seinem nächsten Geburtstage übergeben müssen. Sie gehört ihm, sie ist sein nach dem Willen seines Großvaters – es kann gar kein Zweifel sein, daß dieser sie ihm und niemand anders bestimmte, und am allergewissesten dann, schon zur Entschädigung, wenn der junge Mann um die Güter kommt, weil das Testament untergegangen oder wegen der nicht stattfindenden Veröffentlichung nichtig geworden ist! Und da Sie meinen Rath verlangt haben, gebe ich Ihnen meinen Rath: Sie thun am besten, an jenem Tage dem jungen Manne alles zu eröffnen. Ich halte das für Ihre Pflicht.

Aber mein Gott, sagte der geistliche Herr, erschrocken über diese Zumuthung, die ihn in so viele persönliche Mishelligkeiten und unabsehbaren Hader drängte – es ist ja nicht möglich! Denken Sie an die Verfolgungen der Familie gegen mich, welche im Besitze der Güter ist und auch jene Summe beanspruchen wird – an die Lage, in welche ich dem jungen Manne selber gegenüber gerathe – es ist ja eine fürchterliche Aussicht!

Anna blickte den verzweifelnden und muthlosen Mann vor ihr mit einem gewissen Mitleiden an. Dann erhob sie sich, reichte dem Geistlichen die Hand und sagte:

Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen in dieser Sache. Sie sollen erfahren, daß Sie sich durch dieses große Vertrauen keine schlechte Rathgeberin gewonnen – ich habe früh gelernt, Sorgen, welche große und wichtige Angelegenheiten auf mir Nahestehende legten, zu theilen, und ich habe zuweilen die Freude gehabt, zu sehen, daß, wo ich den Muth fand, zu rathen, es zum Guten führte.

Das eben sagt mir Ihr ganzes Wesen, liebes Fräulein; Ihr rasches Verständniß, Ihr klares Auffassen der Sachlage hat mich wie unwillkürlich gezogen, in meinen Mittheilungen, in einem Vertrauen, wie ich es noch gegen niemand hatte, immer weiter zu gehen. Und ich baue auf Sie, zuerst auf Ihre Verschwiegenheit …

Ich will ernstlich darüber nachdenken, fiel ihm Anna ins Wort, ob ich nicht vielleicht über den Rath hinaus etwas in der Sache thun kann – wenn ich es kann, werde ich Sie bald wieder aufsuchen den Namen des jungen Mannes, um den es sich handelt, werden Sie mir nicht sagen wollen – ich verlange ihn auch nicht zu erfahren. Doch möchte ich wissen, ob es wahrscheinlich ist, daß ich hier mit den Menschen, die ein Interesse an der Sache haben, zusammentreffen werde – dürfen Sie mir das sagen?

Weshalb nicht? Es ist das allerdings der Fall, ja, noch mehr, Sie kennen diese Menschen, diese sind uns nahe, sehr nahe.

Es ist genug, genug! rief Anna aus. Und hier haben Sie noch einmal meine Hand zum Danke für all dieses Vertrauen. Jetzt lassen Sie mich geben. Das Geld bleibt fürs erste in meinem Gewahrsam bis wir noch einmal uns besprochen oder bis Sie mir's abnehmen wollen gegen eine beglaubigte Quittung, um die ich nach Baron Chevaudun's Wunsch bitten müßte – Adieu, Adieu!

Der geistliche Rath begleitete sie die Treppe hinunter und führte sie unter die kleine Veranda, wo Hermine und die beiden jungen Männer ihrer harrten. Jene ging, einige Erfrischungen herbeizuholen – sie besorgte solche Obliegenheiten selbst; die Geschwister hatten sich in eingeschränkter Lage daran gewöhnen müssen, ohne viel Dienerschaft auszukommen – was davon auf dem Hofe lebte, mußte draußen an der Bestellung des kleinen Gutes theilnehmen.

Als Anna unter der Veranda Platz nahm, ruhte ihr Blick forschend auf Dankmar. Sie hatte die Andeutungen, welche sie von dem geistlichen Herrn erhalten, dahin ausgelegt, daß Dankmar der Erbe ihres Schatzes sei. Sprach nicht die Anhänglichkeit des alten Herrn an den jungen Mann, der Umstand, daß jener dem letztern in seinen Knabenjahren zum Erzieher gegeben worden, und dieses Zusammenwohnen beider für ein besonderes Verhältniß zwischen ihnen? Hatte Zander nicht ausdrücklich die völlige Unabhängigkeit des Erben hervorgehoben – und wer war uns abhängiger von all den Männern, die »nahe, ganz nahe« waren, als Dankmar? Burghaus hatte amtliche Pflichten, Boto seine Aeltern – es konnte niemand anders sein als Dankmar.

War Dankmar also der Enkel jenes Barons Nesselbrook, dessen kurze Charakterskizze, wie der geistliche Herr sie in wenig Zügen gegeben, Anna so angezogen hatte? Anna wußte von den Verhältnissen der Personen, welche sie bisher kennen gelernt, nicht mehr, als was Bertha's Geplauder ihr darüber gesagt und was sie aus den Gesprächen in Haus Edern geschlossen; sie hatte nichts vernommen, was jener Annahme widersprach, und so sah sie mit doppeltem Interesse auf den jungen Mann. Ihr schien, daß, wenn das Schicksal ihn bisjetzt von der Erbschaft irdischen Reichthums ausgeschlossen, es ihm ein reiches geistiges Erbe nicht habe rauben können.

Es lag für sie ein eigenthümliches Gepräge geistiger Hoheit auf seiner Stirn; in seinen glänzenden Augen sah sie etwas wie eine Flamme leuchten, die sich am Anblick des Schönen nähren wollte und es suchte, wohin der große, stolze Blick dieses glänzenden Auges fiel. Dankmar begegnete mehrmals ihrem auf ihm liegenden Blicke; sie erröthete dabei ein paarmal leise und ärgerte sich darüber. Sie glaubte sonst ihrer vollständigen Selbstbeherrschung in jedem Gesellschaftskreise sicher zu sein; weshalb war sie es hier nicht?

Sie fühlte endlich, auch ohne Dankmar anzusehen, des jungen Mannes Blick zu ausschließlich auf sich ruhen. Es gab ihr eine gewisse Unruhe, und nachdem Hermine zurückgekommen und man von ihren Erfrischungen gekostet, brach Anna auf, früher, als es die Rücksicht auf den nahenden Abend erforderte.

Die Geschwister begleiteten ihre Gäste heim. Dankmar schloß sich an Anna an und Burghaus wartete auf Hermine, die gegangen war, sich ein Tuch zu holen; beide kamen den Voraufgehenden in einiger Entfernung nach.

Wie gefällt Ihnen unsere Einsiedelei? fragte Dankmar neben Anna schreitend.

Ganz gut für eine Einsiedelei, und Sie hängen gewiß sehr an ihr!

Hängt ein junger Mann an einer Einsiedelei?

Es scheint, sie fesselt Sie doch.

Nicht just die Einsiedelei, sondern die Verhältnisse. Meine Schwester und ich sind allein, und ich darf sie nicht verlassen.

Würden Sie sonst nicht einsiedeln?

Gewiß nicht!

Was würden Sie thun?

Ich würde die Welt zu sehen, ich würde in ihr zu lernen suchen, ich würde zunächst reisen; ich würde weite Reisen in den Süden, in den Orient machen.

Ist Ihre Schwester so wenig wandersüchtig, daß sie Ihnen nicht folgen würde?

Kann man mit einer Dame reisen, was ich reisen nenne?

Mit einer Schwester, weshalb nicht? Eine Schwester ist anspruchslos und folgsam. Versuchen Sie's einmal.

Ich müßte reich sein.

Vielleicht kommt eine gütige Fee und schüttet Ihnen die Reichthümer in den Schos, sobald Sie einen Entschluß fassen, dessen Ausführung Ihnen die Reichthümer nöthig macht.

Ach, gütige Feen gehören der Märchenwelt an; für unsere Zeit haben sie sich in die viel nüchternere Erscheinung reicher Frauen verwandelt; und von einer solchen Frau möchte ich mir keine Schätze in den Schos schütten lassen.

Wenn sie liebenswürdig wäre, weshalb nicht?

Dankmar schien der Gegenstand so wenig zu interessiren, daß er gar nicht weiter darauf eingehen mochte. Er antwortete nicht. Doch schien Anna eine Antwort zu wünschen; sie sah ihn fragend an.

Weshalb nicht? wiederholte sie.

Weil ich glauben würde, sie würde mich immer als einen mit ihren Schätzen erkauften Gegenstand betrachten.

Kann ein Gegenstand es übel nehmen, wenn man an seinen Erwerb Schätze gewendet hat?

Ich fühle mich eben nicht als Gegenstand.

Darin haben Sie sehr unrecht. Wenn ich reich, sehr reich wäre, sagte Anna, so würde ich nur dem meine Hand geben, von dem ich wüßte, daß er mich als Gegenstand, als den Gegenstand betrachtete, um den er würbe, nicht meinen Reichthum.

Wenn Sie es so wenden! fiel Dankmar lachend ein.

Weshalb nicht? Ein Mann sollte immer nur um ein reiches Weib freien; er ist bei ihr allein sicher, daß er die Wahl ihrer Neigung ist, denn sie allein ist frei, die armen sind gebunden, sie haben keine Wahl. Weshalb sehen Sie mich so an?

Darf ich eine offene Antwort darauf geben?

Gewiß!

Weil Sie mir jetzt misfallen. Sie reden von diesen Dingen nicht so, wie ich glaubte, daß Sie reden würden. Sie reden so prosaisch davon wie alle Frauen.

Anna erröthete ein wenig.

Ihr Tadel ist verbindlich genug, sagte sie. Ich bin aber eben eine prosaische Natur. Zu meinem Glück. Was sollte eine arme Gouvernante beginnen, wenn sie eine poetische Natur wäre?

Sie misfallen mir jetzt wieder! versetzte Dankmar den Kopf schüttelnd.

Das ist sehr schmerzlich für mich, antwortete sie lachend und doch offenbar ein wenig geärgert durch die große Unumwundenheit, womit Dankmar dies sagte. Sprach er so, weil er glaubte, zu einer Gouvernante so rundheraus sprechen zu dürfen? Und weshalb habe ich dieses beklagenswerthe Unglück? fuhr sie in ihrem spöttisch klingenden Tone fort.

Aus einem höchst philosophischen Grunde – weil Sie das erste Gesetz der Aesthetik verletzen.

Wirklich? fragte Anna.

Das erste Gesetz der Aesthetik, fuhr Dankmar fort, ist, daß Form und Inhalt, Gestalt und Wesen in Harmonie seien; deshalb dürfen Sie nicht sagen, daß Sie eine prosaische Natur, eine arme Gouvernante seien; überlassen Sie das Frauen, deren Erscheinung weniger Poesie hat und die eben arme Geschöpfe sind!

Es ist nicht sehr edelmüthig, Herr von Gohr, einem jungen Mädchen philosophische Complimente zu machen; sie kann darauf nicht in der gleichen Sprache antworten, versetzte Anna, wieder ein wenig erröthend.

Sie sollen auch nicht darauf antworten, sondern mir einfach einräumen, daß die Philosophie immer recht hat. Oder ich an Ihrer Stelle will darauf antworten: ich habe mich nur eine prosaische Natur genannt in dem Sinne, welchen man gewöhnlich dem Worte Prosa gibt, und der ganz falsch ist. Man nennt nur zu oft das Klarverständige, das feste, unbeirrte Wandeln auf einer geraden Bahn, das ausdauernde Beharren, welches mit stiller Hingebung und elastischer Kraft dunkle Pflichten erfüllt oder bescheidene Erfolge erringt, prosaisch. Dagegen nennt man das wilde, regellose, excentrische Verschleudern seiner Lebenskraft oder auch das Entsagen, das schwache Verzichten auf den Kampf mit dem Leben, das Mondsüchtige, Blasse und Thränenhafte Poesie, während jenes doch nur Verrücktheit und dieses nur Krankheit ist. Nach dieser Auffassung ist die Armuth poetischer als der Reichthum; der Schmerz, die Enge, die Nacht, die Niederlage poetischer als das Glück, die Größe, der Tag, der Sieg!

Anna schwieg eine Weile auf diese rasch und feurig gesprochenen Worte Dankmar's.

Sie reden noch immer viel zu philosophisch mit mir, sagte sie dann. Sie stellen allgemeine Behauptungen auf; ich kann nur bei dem einzelnen Falle mein Gefühl fragen, ob die Sonne einer innern Poesie auf die Pfade leuchtet, die ein Mensch wandelt. Und dann muß ich behaupten, daß dies sicherlich auch bei sehr vielen der Fall ist, welche die Armuth dem Reichthume, Dunkelheit dem Glanze und enge Verhältnisse der Größe vorziehen.

Mag sein, doch die freiwillige Entsagung ohne Kampf ist immer krankhaft.

Ich glaube nicht, versetzte Anna. Nehmen wir einen Fall. Denken Sie sich eine im Schose des Reichthums und Luxus aufgewachsene Gräfin, Prinzessin, was Sie wollen. Sie ist wie eine kostbare tropische Pflanze in einem schönen Palmenhause aufgewachsen, in einer Atmosphäre von linder Wärme und Duft; wie ihre Schwestern, die andern, härtern Pflanzengebilde, draußen im Park und im Walde mit Sturm und Wetter, mit Schloßen und Schauern kämpfen müssen, hat sie kaum durch die Scheiben ihres Glaspalastes bemerkt. Die Gesellschaft umgibt sie von Jugend auf, umgibt sie mit ihren Zerstreuungen, ihrem Treiben, ihren ausschließlichen Interessen und nach und nach auch mit ihrer Langeweile; unsere Prinzessin beginnt die grenzenlose Leerheit und Hohlheit dieser Gesellschaft zu empfinden. Dazu kommt, daß zahllose Bewerber sich um sie drängen, daß sie kein freundliches Wort, keinen lächelnden Blick einem Manne spenden kann, ohne daß er sich berechtigt glaubt, sich um die Hand zu bewerben, welche als Erbin ein Fürstenthum vergibt; daß ihr wegen dieses Eigennutzes die Männer so verhaßt werden wie die Frauen wegen ihrer in Putzsucht und Eitelkeit aufgehenden leeren Seelen. Wenn ein solches vom »Glücke« auf den Händen getragenes Wesen nun von der Sehnsucht nach einer andern Existenz erfaßt wird, in welcher sie die Welt von einer andern Seite kennen, begreifen und beurtheilen lernen kann; wenn es sie drängt, ein ihr bisher unbekanntes Glück zu suchen in dem Bewußtsein, daß sie nicht ganz unnütz wie die Pflanze im Palmenhause da ist, sondern zu etwas nützt und dient, etwas Gutes thut, und wenn sie dann einen großen Act der Entsagung übt, ihrer Welt entflieht, sich in bescheidene Dienerkleidung hüllt und ungekannt in eine dienende Stellung begibt, als Lehrerin, als Barmherzige Schwester …

Oder, unterbrach Dankmar sie, die Frau eines armen Mannes wird, der sie um ihrer selbst willen liebt …

Als was Sie wollen, fiel Anna ein – liegt dann nicht Poesie in einer solchen Entsagung?

Dankmar schüttelte den Kopf. Ich weiß nicht recht, sagte er. Wenigstens würde die Gestalt dieser märchenhaften Prinzessin in einem höhern Glanze von Poesie erscheinen, wenn sie Energie genug hätte, den Kreis, der sie daheim umgibt, die Schranken der Welt, in der sie steht, zu durchbrechen, in ihres Vaters Palast ihr eigenes Leben zu leben und von dort aus mit ihren Reichthümern das unzählige Gute zu thun, was sie damit zu thun vermag. Bei dieser Gelegenheit würde sie ebenfalls die Welt kennen lernen und jenes Bewußtsein, nach dem sie sich sehnt, erwerben und gewiß der Welt mehr nützen. Ich weiß nicht, weshalb jemand selbst Unterricht geben sollte, der eine ganze Schulanstalt gründen kann, oder Barmherzige Schwester werden sollte, wenn er vermag, ein ganzes Hospiz zu stiften! Ihre Prinzessin, mein Fräulein, scheint mir nicht praktisch und also auch nicht poetisch.

Ach, Sie verstehen meine Prinzessin nur nicht! versetzte Anna lächelnd. Sie will eben einmal selbst einstehen, die eigenen Kräfte üben, selbst fühlen, wie schwer denn eigentlich das, was man die Last des Daseins nennt, wiegt. Mag sie nicht praktisch sein, mag sie irren, so ist ihr Irrthum doch ein schöner, ihr Wille ein starker, und wie auch der Erfolg sein möge, sie wird nicht umzukehren brauchen, sich nicht zu gestehen haben, daß sie unpraktisch handelte, ohne in ihrem Innern bereichert zu sein, ohne den Horizont ihres Geisteslebens unendlich erweitert zu haben.

Ich will Ihnen nachgeben, daß ein solcher Charakter mit der Stärke, welche zur Ausführung seines Entschlusses gehörte, etwas sehr Achtbares, ja, Bewunderungswürdiges haben könnte. Aber sagen Sie mir, würde je ein vernünftiger Mann so etwas thun?

Ein Mann?

Ja, ein Fürstensohn, ein Prinz, der sich doch auch ungefähr in derselben Stellung wie Ihre Palmenhaus-Prinzessin befinden könnte?

Ein Mann ist immer freier gestellt, er hat es nicht nöthig, sich durch einen Gewaltschritt zu befreien.

Nun wohl, er hat es nicht nöthig. Weshalb sollte eine Frau es denn nöthig haben? Kann sie nicht ihre Energie darauf richten, sich innerhalb ihres Kreises auch so frei zu stellen? Es ist immer mislich für eine Frau, wenn sie ihren Kreis verläßt.

Während der Männer Ehrgeiz ewig darauf gerichtet ist, aus ihren Kreisen heraus in höhere zu gelangen, wehren Sie den Frauen das Recht, nur aus ihrem Kreise in niedere hinabzusteigen? Wie engherzig! rief Anna aus.

Engherzig? Freilich, es mag so lauten! Doch bin ich nicht engherzig nein, mein Herz ist weit und es schlägt warm und rasch! Ich will auch der Palme nicht wehren, sich unter das gemeine Waldgekrüppel zu stellen, um zu sehen, wie es dem zu Muthe ist! Mir ist es einerlei, was sie beginnt, wohin sie sich stellt. Ob Prinzessin, ob Barmherzige Schwester oder Magd – was verschlägt das mir! Ich erkenne die Palme doch und von dem Augenblicke an gehört ihr mein Leben und meine Seele. Hab' ich mich darum so lange schmerzlich nach ihr gesehnt, ich einsamer Tannenbaum »im Norden auf fahler Höh'«, um, wo ich sie gefunden, mich mit ihr über das zu streiten, was Prosa und was Poesie ist? Poesie ist jedes starke und feurige Gefühl, das in einer Menschenseele aufloht, jede edle und große Empfindung, die uns über uns selbst hinausträgt und uns fähig macht zur unbedingtesten Hingebung von Gut, Blut und Leben für das, was wir einmal lieben! Das, Fräulein Morell, ist Poesie, und an diese Poesie sollen Sie glauben!

Während Dankmar diese Worte mit schwärmerischem Tone, aber auch mit einem gewissen herrischen, beinahe brüsken Tone und in einer Weise sprach, als ob es in der weiten Welt auch nicht den Schatten eines Grundes geben könne, weshalb er sie nicht der armen Gouvernante neben ihm so frischweg aussprechen solle, warf diese einen scheuen Blick in seine groß und offen auf ihr ruhenden Augen und ward dann abwechselnd bleich und roth. Sie blieb stehen, sie sah sich erschrocken nach den Nachfolgenden um, sie verließ plötzlich und ohne ein Wort zu erwidern Dankmar und eilte auf das hinter ihnen folgende Paar zu.

Sie gingen schon so weit mit uns, Sie denken gewiß an die Heimkehr, gnädiges Fräulein, sagte sie hier zu Hermine mit einer wiedergewonnenen Fassung, welche die letztere von der eben stattgefundenen kleinen Scene nichts ahnen ließ.

In der That, versetzte Hermine, wir sehen dort schon Haus Edern durch die Bäume schimmern und können Sie jetzt beruhigt Burghaus' Führung überlassen wenn Sie ihn nicht in eins seiner Lieblingsthemas, zum Beispiel, wie man lebende Bilder stellen oder echte Spitzen waschen müsse, sich zu sehr vertiefen lassen, so wird er Sie, ohne sich zu verirren, heimbringen.

Ich verirre mich viel seltener, als Sie behaupten, Fräulein Hermine, wenn ich solche Themas zu Damenunterhaltungen anschlage, versetzte Burghaus lachend; jetzt aber könnte ich mich hier im Walde nur verirren, wenn ich statt an den Weg zu viel an die Bosheiten, die Sie mir gesagt haben, dächte – den Triumph werde ich Ihnen aber nicht gönnen!

Dankmar war unterdeß auch herangekommen. Anna verabschiedete sich von Hermine und machte Dankmar eine kurze, kühle Verbeugung; er sah sie so betroffen an, daß er fast vergaß, Burghaus die Hand zum Abschiede zu drücken. Sie wich offenbar seinen Blicken aus und eilte mit Burghaus rasch davon.

Die Geschwister gingen schweigend heim. Dankmar war ein wenig betroffen, nein, mehr, ein wenig betäubt, bestürzt. Wie hatte er sich so unbesonnen, so kopflos hinreißen lassen können? Und war das ein völliger Korb, den er auf seine rasche, kecke Erklärung erhalten? Oder hatte er Anna nur erschreckt, war ihr Betragen nur Folge mädchenhafter Verwirrung gewesen?

So viel war gewiß, es war höchst zweifelhaft, ob seine Erklärung günstig aufgenommen sei, und indem er sich dies gestand, wurde Dankmar sich der ganzen Stärke des eigenthümlichen Gefühls bewußt, welches ihn vom ersten Augenblicke an für das stille, selbstbewußte Wesen dieser schönen und merkwürdigen Erscheinung, die so plötzlich in seinen Lebenskreis getreten, erfüllt hatte. Mit der Raschheit, die in seinem Charakter lag, hatte er dieses Gefühl sich sofort aussprechen lassen; und was nun eben die Folge gewesen, das war nur dazu angethan, in die wenn auch starke, doch bisher ruhige und friedliche Empfindung den Sturm zu bringen – den Sturm der Aufregung, der noch nicht die volle Leidenschaft ist, aber ihr wie das Wehen dem Gewitter vorausgeht.

Hermine sah sich auf dem Heimwege zum ersten male an diesem Tage mit dem Bruder ganz ungestört allein – sie wollte vertraulich mit ihm reden, sie wollte ihm von auffallenden und sie beunruhigenden Andeutungen sprechen, welche die Gräfin Edern ihr gestern, als sie Arm in Arm mit ihr durch den Garten geschritten, fallen lassen. Aber Dankmar schien so in seine eigenen Gedanken verloren – Herminens erste einleitende Worte schien er gar nicht zu hören – daß sie es aufgab, mit ihm ein vernünftiges Gespräch zu führen.

 

Hörte Dankmar nicht auf seiner Schwester Worte, so schien sich unterdeß Anna ihren Rath, Gundobald in kein Gespräch zu verwickeln, das ihn seine Führerpflichten vergessen lassen könne, desto ernster zu Herzen genommen zu haben. Sie ließ sich in gar kein Gespräch mit ihm ein – sie ging völlig stumm an der Seite ihres Begleiters, bis beide wieder in Haus Edern waren.

Auf ihrem Zimmer angekommen, schritt Anna noch lange unruhig und unstet darin umher.

Du Aermste, sagte sie sich – du glaubtest, du seist auf alle Demüthigungen gefaßt! Auf diese war ich's nicht!

Eine Thräne trat in ihre Wimper.

Dieser Dankmar – war es möglich – war es ehrlich – konnte es ehrlich, konnte es wahr sein?

Sie versank in stilles Sinnen, dem sie sich nach einer Weile mit den Worten entriß: Thun wir zunächst das, was drängt – sehen wir, ob diesem armen Rathe Zander noch irgend zu helfen ist – ich muß ja ohnehin schreiben und berichten – es ist hohe Zeit.

Sie setzte sich zum Schreiben nieder es wurde ein langer Brief, in welchem gegen das Ende hin mehrmals die Worte »Athos« und »Kloster Laura« vorkamen.


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