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Viertes Kapitel.
Die Norne des Feudalismus

Wir kehren nach Haus Edern zurück. Um von dem kleinen Edelhofe von Gohr dahin zu gelangen, gibt es einen kürzern Weg als den Fahrweg, welchen wir Dankmar, anfangs in Boto's Jagdwagen, dann zu Fuß durch die Ackerflur nehmen sahen. Der kürzere Weg schlägt sich, wenn man über die Holzbrücke vor Haus Gohr gekommen ist, gleich rechts in das Gehölz. Es ist ein Fußsteig, der immer im Walde bleibt und wenig begangen wird.

Zehn Minuten von Gohr entfernt findet man eine steinerne Bank, die zugleich als Grenzstein dient. Der ganze Wald dahinter gehört zu Edern, diesseits zu Gohr. Noch eine Viertelstunde weiter, und man erreicht, aus dem Gehölz auf freies Grasland tretend, den breiten Haupt- und Fahrweg, der auf Schloß Edern zuführt. Der Waldweg mündet in diesen neben einem hohen und alterthümlich geformten Steinkreuze, das nach der Sage die Stelle bezeichnet, bis zu der ein aus den Kreuzzügen kampf- und lebensmüde und krank heim gekehrter Ritter von Edern gekommen, um hier, wo sein Auge das Vaterhaus wieder erblickt, zusammenbrechend den Geist aufzugeben.

Der breite, kiesbedeckte Fahrweg führt zwischen hohen, sorgsam geschorenen Hecken auf den stattlichen Bau, der, weit größer als das kleine Haus Gohr, auch viel jünger ist, ein Landhaus, wie man es vor etwa hundert Jahren aufführte, wo nicht mehr der Ritter sich ein festes »steinernes Haus« baute, sondern der am Hofe verkehrende und im Hofdienste stehende Edelmann einen Landsitz nach dem Muster des Fürstensitzes, nur in verkleinertem Maßstabe.

Schloß Edern hatte zwei vorspringende Flügel und, wenn nicht ein paar runde Thurmkappen mit verwitterten Laternen darauf über das Dach weggeschaut hätten, wenig von feudalem Wesen. Der ursprüngliche Rohbau war in sehr geschmackloser Weise verputzt, an den Fenstern waren grüne Jalousien angebracht; die Südwand des rechten Flügels bedeckten Rebenspaliere; vor dem Gebäude dehnte sich ein großer Rasenplatz mit wohlgepflegten einzelnen Blumenbeeten darin aus. Rechts und links lagen hinter den hohen Hecken die Gärten, und hinter ihnen nach beiden Seiten der Wald.

Auf diese Umgebung, auf einen rasch um den Rasenplatz herumrollenden Korbwagen, der nach wenig Augenblicken auf das Pflaster des Hofes rasselte und vor dem Haupteingange hielt, um eben die rückkehrenden beiden jungen Herren, Boto und Gundobald, aussteigen zu lassen; auf diese ganze Scenerie blickten zwei sinnende, ernste, helle Mädchenaugen nieder, die fremde Welt, in welche sie vor kaum einer Stunde gekommen, musternd. Es waren die Augen der Gouvernante.

Sie stand am offenen Fenster in einem geräumigen, ein wenig niedern, aber bequem eingerichteten Gemache, das am Ende des obern Stocks in dem linken Seitenflügel von Haus Edern lag. Hinter ihr, in der Mitte des Raumes, standen ein paar geöffnete Koffer, halb ihres Inhalts entleert, der in die aufgezogenen Laden einer großen Kommode und die Tiefe eines noch offen stehenden Kleiderschranks gewandert war. Auf den runden Tisch vor das Sofa war die grüne Maroquinkassette gestellt; Hut, Reisedecke und Schirm lagen daneben.

Man sah, das Fräulein war beschäftigt, sich häuslich einzurichten; sie hatte eben eine kleine Pause in dieser Arbeit gemacht und sich in das Fenster gestellt, um auszuruhen und den Gedanken nachzuhängen, welche ihre neue Lage ihr einflößte und die nicht erfreulicher Natur sein mochten.

Sie kam als Gouvernante in dieses Haus, und es gibt keine schwerern Stunden als die eines armen Mädchens, das, alleinstehend, nur auf sich angewiesen, in eine Stellung der Dienstbarkeit unter fremde Menschen tritt und fremdem Leben, fremden Interessen sich hingeben soll mit einer Entsagung und Selbstlosigkeit, die, als etwas sich von selbst Verstehendes, Erkauftes und Bezahltes, weit seltener Anerkennung als den Tadel, daß sie nicht noch rückhaltsloser sei, findet.

Das melancholische Gefühl der Fremde ist da zehnfach verschärft; das Herz zieht sich ängstlich in sich zusammen, es möchte scheu und zaghaft den neuen auf dasselbe einströmenden Eindrücken entfliehen und man verlangt von ihm, daß es sich öffne und dem Fremden eine Theilnahme entgegenbringe, die doch nur mit der Zeit in ihm entstehen kann.

Die neue Umgebung ist nicht frei gewählt; sie drängt sich auf und muß hingenommen werden; sie stellt sich der armen Gebundenen als das Gesetz hin, welches von nun an ihre Unterwürfigkeit fordert, und dieses Gesetz beginnt seine harte Wirksamkeit damit, daß es von allem Lieben, was daheim zurückblieb, trennt.

Und dann das Amt selber, welches die arme Gebundene erwartet – dieses oft so lohnende, viel öfter aber so schwere, innerlich aufreibende, trostlose Amt!

Die junge Dame mochte sich diesen Betrachtungen hingeben, während sie allein ihre Sachen ordnete und sich einrichtete – die Hülfe einer Dienerin, welche sich ihr angeboten, hatte sie zurückgewiesen und während sie mit untergeschlagenen Armen und mit ernster, sinnender Miene am Fenster stand, um sich von der halbvollendeten Arbeit zu erholen.

Aber wenn sinnender Ernst und wenig Heiterkeit auf ihrer Stirn lagen, so lag doch nichts von Verzagen darauf. Im Gegentheil, auf ihrer hohen, schön geformten Stirn war der Ausdruck der Ruhe und selbstbewußten Entschlossenheit deutlich ausgeprägt.

Ein hellblonder Mädchenkopf streckte sich in diesem Augenblicke durch die leise geöffnete Thür – ein Kopf mit scharfen Zügen und stahlblauen Augen und einer feinen, langen, ein ganz klein wenig aus dem Loth gewichenen Nase –, und dann kam ein schmales, hoch aufgeschossenes Fräulein dem Kopfe nach ins Zimmer geschlüpft; ein Fräulein, im blühenden Alter von etwa vierzehn Jahren stehend.

Ich soll sehen, ob Sie ausgeruht sind und es Ihnen gefällig ist, zur Mama herabzukommen, sagte das Fräulein.

Ganz, wie es die Mama befiehlt, versetzte die Gouvernante, sich vom Fenster ab- und dem jungen Mädchen zuwendend. Aber was hast du da für eine Medaille, liebe Bertha? fuhr sie fort, sich ihrem Zögling, der sich ihr schon bei ihrer Ankunft vorgestellt hatte, nähernd und eine große, silberne Medaille, die an blauem Bande auf der Brust des jungen Mädchens hing, musternd.

Ich war Marienkind im Kloster, versetzte Bertha stolz.

Und die Marienkinder tragen eine so große, schöne Medaille? fuhr die Gouvernante fort, auf dem Avers des Schaustücks ein Bild der Madonna betrachtend und eine das Empfängnißdogma ausdrückende Legende in französischer Sprache lesend.

Ist das nicht hübsch? sagte Bertha.

Es ist sehr hübsch, versetzte die Gouvernante, daß du es durch Fleiß zu einer Auszeichnung gebracht hast; aber diese Medaille wirst du von nun an ablegen. Du bist nicht mehr im Kloster.

Sie nahm ihrem Zögling das Band ab und legte es auf den Tisch.

Und jetzt gehen wir zu deiner Mutter!

Comtesse Bertha machte ein sehr misvergnügtes Gesicht, verbarg aber mit demüthigem Augenniederschlagen ihren Verdruß, der hinreichte, von diesem Augenblicke an ihr Gefühl für die neue Gouvernante zu bestimmen. Dann ging sie hinaus, um den Weg zu zeigen: über einen Corridor, eine breite Treppe hinab, dann durch eine dunkle, hohe Flügelthür, die in ein Vorzimmer führte, und durch eine zweite, gleiche Thür, hinter der sich das Wohnzimmer befand, in welchem Gräfin Edern die neue Gouvernante ihrer Tochter Bertha erwartete. Es war derselbe Raum, in den wir vom Flur her früher Herrn Böhmer eintreten sahen.

Als die Gouvernante eintrat, sah sie sich zunächst einem wohlwollend aussehenden alten Herrn mit einem sehr gerötheten Gesichte gegenüber, der, mit einem grauen Hausrocke bekleidet, in einem Sessel in der nächsten Fensterbrüstung vor dem Tische mit den Büchern und dem Schreibgeräthe saß, aus einer kurzen Jagdpfeife rauchte und ein altes Buch in schweinsledernem Bande in der Hand hielt; er verzog sein gutmüthiges Gesicht aufblickend zu einem Lächeln, zog eine seiner buschigen grauen Brauen über das eine Auge, zwinkerte mit dem andern und sagte, sich halb erhebend und ein wenig stotternd:

Das ist ja nun schön, Fräulein Morell, daß Sie gekommen sind! Meine Frau ist hier – er wandte sich mit einer kleinen Verbeugung dem Hintergrunde zu, wo die Gräfin sich befand. Sie saß breit und stattlich auf einem Sofa unter dem Spiegel.

Die Gräfin war eine nicht große, aber wohlgenährte Frau, die den Fünfzigen nahe stehen mochte und nie schön gewesen sein konnte, mit ein wenig männlichen, aber doch nicht unangenehmen Zügen; es lag sehr viel ruhige Festigkeit darin, und aus dem Blick der mehr runden als ovalen, ziemlich flach liegenden Augen sprach kein Ausdruck, der gegen sie hätte einnehmen können – wenn es nicht für Fräulein Morell der großer Kälte war, mit dem diese Augen auf ihr ruhten. Wenn auch nicht just mit scharfer und gespannter Prüfung, nicht just mit jener selten wohlwollenden Neugier, mit der eine Frau zum ersten mal die andere betrachtet, sah die Gräfin von Edern das eintretende junge Mädchen doch mit einer kühlen Gleichgültigkeit an, welche vielleicht noch weniger verbindlich war, als der Ausdruck der prüfenden Spannung und Neugier gewesen wäre.

Seien Sie uns willkommen, liebes Kind! sagte die Gräfin, ohne die Verbeugung des jungen Mädchens zu erwidern und während derselben ruhig niederblickend, um einige Falten ihrer weiten, braunseidenen Robe an sich zu ziehen. Setzen Sie sich da neben mich.

Sie deutete auf einen neben dem Sofa stehenden Rohrsessel.

Du kannst umherlaufen, Bertha; deine Schwester ist im Garten.

Bertha wandte sich und verließ das Zimmer.

Ich hoffe, Fräulein Morell, Sie werden sich an Bertha leicht attachiren; sie ist ein folgsames und aufgewecktes Kind, fuhr die Gräfin fort. Auch werden Sie in ihrer Vorbildung wenig Lücken entdecken; ich habe sie nur deshalb dem vortrefflichen klösterlichen Institut, in welchem sie sich bisher befand, entzogen, weil ich für gut hielt, bei ihrem Heranwachsen ihr eine etwas weltlichere Erziehung geben zu lassen. Es ist mein Wunsch, daß Sie neben dem Lernen hauptsächlich ihre Haltung, ihr Benehmen, ihre gesellschaftliche Tournure ausbilden – und da hoffe ich, ist sie bei Ihnen in den besten Händen. Man hat Sie uns aufs wärmste empfohlen, und Sie haben bereits die Tochter eines Mannes, der mitten im Verkehre der großen Welt stand, erzogen.

Das letzte wurde in einem halb fragenden Tone gesprochen, sodaß Fräulein Morell einfiel:

Allerdings – ob ich durch diese Erziehung die warmen Empfehlungen verdient habe, weiß ich zwar nicht …

Und Sie waren viele Jahre in diesem Hause?

Viele Jahre, bis die Tochter erwachsen war und ich überflüssig wurde. Der Vater sah sich durch seine Verhältnisse veranlaßt, sich wieder zu verheirathen, und so wurde ich auch bei der Führung seines Hauswesens, bei der ich in den letzten Jahren mitgewirkt hatte, überflüssig.

Sie lebten in Antwerpen, im Hause des Herrn von Clamécy …

Das Fräulein nickte; auch zu Wien, setzte sie hinzu, weil Herr von Clamécy auch dort ein Haus hatte.

Ein Haus, das heißt ein Bankhaus und wenn es uns auch lieber gewesen wäre, Sie aus weniger anspruchsvollen Kreisen als denen der sogenannten Finanzaristokratie zu uns kommen zu sehen, so wird das hoffentlich doch zu keiner gegenseitigen Unzufriedenheit führen. Sie werden, denk ich, sich nicht zu sehr haben verwöhnen lassen, und werden vernünftig genug sein, einzusehen, daß ein Landleben wie das unsere seine Vorzüge hat und daß seine Grundlagen und seine Formen doch am Ende edlere und höhere sind als die solch eines großstädtischen Lebens, wo man – das heißt in dem Kreise, woraus Sie kommen – auf nichts als die Mittel sinnt, fortwährend einen imponirenden Luxus und Glanz um sich zu verbreiten, weil man eben kein anderes Piedestal für seine Persönlichkeit, keinen andern Anspruch auf Geltung in der Welt hat als Geld. Unsereins ist, gottlob! nicht genöthigt, fortwährend das bischen Ansehen und Respect, das man ihm gewährt, der Welt baar zu bezahlen!

Fräulein Morell sah mit ihren großen, verständnißvollen Blicken die Gräfin an, während diese so sprach und dann mit einem gewissen Selbstbewußtsein ihr Haupt ein wenig zurückwarf und die gelbseidenen Bänder ihrer Haube glättete.

Ich hoffe nicht, daß Sie mich verwöhnt finden werden, auch bin ich nicht geradezu entzückt von der Welt, aus der ich komme, Frau Gräfin, versetzte das junge Mädchen ruhig, indem ihr Blick mit demselben Ausdrucke auf der Dame haften blieb. Ich habe, wie das ja auch in meiner Lage nicht anders möglich, in jener Welt ziemlich vereinzelt gestanden – das Geld gibt ihr, wie Sie sagen, Geltung, und das Gefühl der Geltung und Macht gibt Hochmuth, und Hochmuth stößt zurück. Ich meine, der Hochmuth ist die schlimmste Eigenschaft der Menschen, denn das Schlimmste ist doch das, was am meisten andere verletzt. Sie haben gewiß sehr recht, gnädigste Gräfin, zu sagen, daß die Grundsätze und Formen des Lebens höhere und edlere sein müssen als die, worauf sich der Hochmuth gewöhnlich stützt, wenn er sich und seine Welt für besser und erhabener als die andern Kreise oder Menschen hält.

Das hatte nun die Frau Gräfin nicht gerade gesagt, auch nicht sagen wollen, und sie sah das Fräulein Morell ein wenig argwöhnisch an. Jedenfalls hatte sie sich zu gestehen, daß es ihr soeben nicht bis zu dem erwünschten Grade gelungen sei, der neuen Gouvernante zu imponiren.

Sie können, sagte sie, den Gegenstand des Gespräche wechselnd, den Stundenplan mit Bertha nach Ihrem Gefallen einrichten. Ich wünsche nur, daß Sie den Unterricht in der Geschichte ein wenig bevorzugen; der wird bei der Klostererziehung immer vernachlässigt, und es ist doch so wichtig, jungen Menschen früh Interesse für die Vorzeit einzuflößen, in welcher doch vieles so außerordentlich gottgefälliger und dem wahren Glücke der Menschen dienlicher eingerichtet war. Ich werde bei diesen Stunden wol ein oder das andere mal selbst zugegen sein.

Fräulein Morell verbeugte sich.

Wenn Sie mit Bertha unzufrieden sind oder wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, so wenden Sie sich immer gleich an mich – recht offen und vertrauenvoll, mein liebes Kind – ich liebe es, möglichst zufriedene und heitere Gesichter um mich zu sehen, und thue gern alles, was ich kann, um sie um mich her so zu machen. Und jetzt will ich Sie nicht länger in Anspruch nehmen; Sie werden ermüdet sein und sich in Ihrem neuen Quartier einrichten wollen – ich werde Ihnen Bertha hinaufsenden.

Fräulein Morell erhob sich, machte der Gräfin eine Verbeugung, welche diese mit einem freundlichen Kopfnicken erwiderte, und wollte das Zimmer verlassen. Als sie an dem Fenster vorüberging, worin der Graf mit seinem schweinsledernen Buche saß, legte dieser, statt die Verbeugung, welche sie ihm machte, zu erwidern, seine Hand auf ihren Arm, sah freundlich zu ihr empor, und während er wieder seine Braue über das rechte Auge zog und mit dem linken sie höchst schalkhaft anblinzelte, sagte er:

Nun warten Sie, Fräulein Anna Morell; da Sie nun zu uns gekommen sind, so sollen Sie auch eine schöne Devise haben; ich habe schon seit einer Stunde für Sie nach einer in diesem Buche gesucht – sehen Sie, das ist ein schönes, seltenes Buch – haben Sie je so was Schönes gesehen?

Fräulein Anna sah, daß es ein Quartband mit saubern Vignetten in Kupferstich war; jede Vignette stellte irgendeine symbolische Figur dar, und dann kam groß gedruckt ein lateinischer Spruch, und darunter kleiner die Erklärung desselben.

Jeder hier im Hause muß seine Devise aus meinem Buche bekommen, eher ist er nicht in die Familie auf genommen, sagte Graf Achatius.

Darf ich mir eine wählen? fragte Anna, in das Buch blickend.

Nein, nein, nein! Ich gebe sie Ihnen! fiel der alte Herr ein. Sehen Sie, diese habe ich für meine Frau ausgesucht – ist sie nicht hübsch?

Er deutete auf das Bild einer aufsteigenden Rakete mit der Unterschrift: » Che mora pur che m'inalzi« (Mög' ich sterben, wenn ich nur steige). Es gibt auch den Spruch: » Da l'ardore l'ardire« (Von der Glut der Muth) zu demselben Bilde. Hier ist meine Devise, eine Magnetnadel mit der Unterschrift: » Aspicit unam« (Er blickt nur nach Einer) – das deutet männliche Gesinnungstreue an!

Der alte Herr sah dabei jedoch gar nicht stolz auf seine männliche Gesinnungstreue aus, sondern mit einem schalkhaften Blicke auf seine Gemahlin hinüber. Dann fuhr er fort: Und dies hier soll Ihre Devise fein: dieser hübsche kleine Vogel, der über das Meer fliegt mit den Worten, » Defessa, non diffisa« (Ermüdet, nicht verzagt). Sind Sie damit zufrieden?

Ich bin damit zufrieden, und ich danke Ihnen! sagte Anna. Ich werde es mir in ein Petschaft stechen lassen.

Das ist recht; wir wollen dann später noch darüber nachdenken, was für eine Art von Vogel es sein soll, ob eine Grasmücke, eine Lerche, oder gar eine Nachtigall! –

Der alte Herr zwinkerte hierbei mit seinem linken Auge, als ob er die Schelmenhaftigkeit selber wäre, und lachte dann sehr herzlich auf.

Anna aber empfahl sich und ging mit einer Miene, welche durch das Geplauder und Wesen des alten Herrn offenbar ein wenig erheitert worden war, wieder in ihr Zimmer hinauf.

Das ist jedenfalls ein guter, freundlicher, alter Mann, sagte sie sich, und es war ihr, als ob sie in Zukunft sich lieber mit der Offenheit und dem Vertrauen, zu welchem sie aufgefordert worden war, an ihn wenden würde als an die hohe Dame selbst, deren Art und Weise wenig dazu beigetragen hatten, ihr die Stimmung des Augenblicks zu erheitern und das Herz leichter zu machen.

Gefallen und nicht gefallen ist gewöhnlich wechselseitig. Dem freundlichen alten Herrn hatte auch die neue Gouvernante sehr gut gefallen; er hatte sie über den Rand seines schweinsledernen Buches hin fortwährend beobachtet, während sie mit seiner Gemahlin gesprochen, und recht lustig dabei seine Brauen auf- und abrollen und seine Augen zwinkern lassen, und jetzt sagte er:

Schatz, das ist ja ein wahrer Phönix von einer Gouvernante! Wie schön das ist, superbe Figur! Benimmt sich wie ein Edelfräulein – so ruhig – Schatz, glaub' mir, das hat eine reine Seele! Ich hätte ihr eigentlich nicht das Meer mit dem Vogel, sondern den See mit dem Schwan darauf zur Devise geben sollen!

Das hätte gerade noch gefehlt, Achatz! versetzte der Schatz des alten Herrn scharf und verweisend. Ich muß dir sagen, daß mir diese Person einen ganz entschieden ungünstigen Eindruck macht! Ich weiß nicht, was die Chanoinesse Clotilde gedacht hat, uns eine Person wie die da ins Haus zu schicken!

Ah, sie gefällt dir nicht? versetzte Achatz höchst verwundert.

Ist das eine Gouvernante! rief die Gräfin aus. Die ist viel zu schön; sie ist ja schöner, wie Edwine und wie auch Bertha es je hoffen darf zu werden! Was soll das geben in einem Hause, worin so viel junge Männer verkehren?

Mein Gott, ist das denn ein Fehler? rief Achatz aus. Die jungen Männer werden uns deshalb nicht seltener besuchen, darüber kannst du beruhigt sein!

Ach, deine Späße! versetzte unwillig die Gräfin. Und dann ist sie viel zu selbstsicher; mit keiner Miene, keinem Worte legt sie den Dank für die Stellung, welche sie bei uns bekommen hat, an den Tag; kein Wort, daß sie sich beflissen zeigen werde, meine Zufriedenheit zu erringen; solch ein junges Mädchen soll verschüchtert sein, wenn sie auftritt …

Schatz, was kann sie dafür, wenn wir ihr keinen Eindruck gemacht haben, daß sie verschüchtert worden ist?

Nun, du wirst sehen, daß wir mit ihr zu schaffen bekommen werden!

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und Bertha schlüpfte herein.

Ist sie fort? fragte Comtesse Bertha, die beim Umherlaufen im Garten einen rothen Kopf bekommen hatte, was sie nicht hübscher machte. Wie gefällt sie dir, Mama?

Wo hast du deine Medaille, Bertha? fragte die Gräfin.

Sie hat sie mir abgenommen.

Sie – Fräulein Morell?

Ja, ich sei nicht mehr im Kloster. Sie nannte mich auch gleich Du.

Ueber das Antlitz der Gräfin flog ein neuer Zug von Misvergnügen. Aber sie mochte es nicht für gut halten, diese Regung auszusprechen in Gegenwart des Zöglings dieser Gouvernante, die so selbstbewußt auftrat.

Mama, fuhr Bertha unterdeß zu plaudern fort, sie hat wunderschöne Sachen; denk' dir, vier seidene Kleider, ganz schwer, und die Wäsche ist feiner wie die Edwinens und meine, und die Unterröcke sind alle gestickt, so schön, du glaubst es gar nicht und feine Spitzentaschentücher von Battist; in dem einen habe ich eine Krone in der Ecke gestickt gesehen, denk' dir, Mama, eine Krone. Ist das nicht lächerlich?

Backfisch! sagte Achatz hier mit vergnügtem Gesichte. Es ist doch wirklich eine Freude, zu sehen, wie das seine Natur entwickelt!

Wo ist Edwine? fragte die Gräfin.

Im Garten mit Gundobald Burghaus.

Und ist Boto nicht bei ihnen?

Nein, Boto macht sich am Wasser mit seinem Hunde zu schaffen.

Die Gräfin erhob sich und verließ das Zimmer. Einen Augenblick nachher trat sie, in ein graues Umschlagetuch gehüllt, die Stufen hinab, welche an der Hinterseite des Schlosses aus dem Gebäude in den Garten führten, das heißt in die kleine Parkanlage, die vorzugsweise der »Garten« genannt wurde; die eigentlichen Gemüse- und Obstgärten lagen rechts und links vom Schlosse.

Sie schritt langsam einen der gewundenen Pfade hinab zu einem großen, mit Schlingpflanzen bedeckten Pavillon aus leichtem Holzgegitter. Bertha hatte recht gehabt. Sie fand ihre Tochter Edwine da auf der Bank von zierlichem Gußeisen und ihr gegenüber Gundobald Burghaus. Schon von weitem hatte sie Edwinens helles Lachen gehört und Gundobald's tiefe Stimme dazwischen.

Gundobald's tiefe Stimme setzte gewöhnlich nur zu irgendeiner trockenen, humoristischen Bemerkung ein, und diese Bemerkungen hatten die besondere Kraft, Edwinens Lachen hervorzulocken. Edwine war überhaupt eine Natur, der das Sachen näher stand als das Weinen – Graf Achatz hatte ihr als Devise eine Sonnenuhr gegeben mit der Umschrift: »Sie zählt nur die heitern Stunden.«

Die Gräfin warf einen forschenden Blick auf die Züge der jungen Leute, nahm aber nichts darin von Dem wahr, was sie vielleicht argwöhnte – oder hoffte! Edwine blickte zu ihr mit großer Ruhe auf und sagte:

Gut, daß du kommst, Mama, und mir hilfst – Vetter Gundobald macht mir eben wieder auf seine Weise mit lauter Grobheiten den Hof; du glaubst es gar nicht, wie ungezogen er ist – es ist gar nicht auszuhalten mit ihm!

Glauben Sie es nicht, liebe Gräfin, versetzte Gundobald; Sie sehen, Edwine hat es bisjetzt sehr gut ausgehalten, und eine junge Dame ist immer damit einverstanden, wenn man ihr den Hof macht, und hüllte man den ihr süß schmeckenden Kern auch in die bitterste Schale.

Von einem Kern habe ich nichts gemerkt in all dem, was Sie reden, Gundobald, aber viel, sehr viel Schale!

Und Schales, wollen Sie sagen.

Vielleicht!

Das war nur zartfühlende Rücksicht für Ihr heiteres Gemüth, Cousine Edwine, fuhr Gundobald fort. Ihr Gemüth gleicht so sehr einem glatten See, der, von seinem Affect gekräuselt, in stillem Frieden daliegt, daß man sich versündigte, wenn man schwere Kerne hineinwürfe, die seine glatte Stille zerstörten. Die Schalen aber schwimmen friedlich auf seiner Oberfläche.

Ich danke Ihnen für Ihren See, der nur leere Schalen trägt! Ist es nicht impertinent, Mama?

O, ich weiß sehr gut, daß eine junge Dame wie Sie nicht mit einem solchen poetischen Vergleiche zufrieden ist! Sie wollen durchaus mit dem verglichen sein, was auf dem See schwimmt …

Mit den Schalen doch nicht gar?

Nein, mit den Schwänen!

Nun hört auf mit euern Neckereien, sagte hier die Gräfin Edern, welche bisher diesem Geplauder, ohne durch eine Miene ihre Theilnahme dafür zu verrathen, zugehört und sich neben Edwine gesetzt hatte. Ich denke, du gehst einmal hinein und siehst, ob der Vater nicht wünscht, daß du ihm vorspielst; er ist ganz allein im Wohnzimmer. Ich habe mit Vetter Gundobald zu reden.

Edwine erhob sich und ging, während über Vetter Gundobald's Gesicht eine leise, kaum merkbare Wolke des Verdrusses flog. War es, weil Edwine ging, oder weil Gräfin Edern ein Gespräch unter vier Augen in Aussicht stellte und diese Aussicht ihn nicht mit dem Gefühle der Behaglichkeit erfüllte? Behaglich konnte ihm wenigstens nicht der forschende Blick sein, den sie auf seine Züge heftete – diese Züge, die nicht schön, aber eigenthümlich anziehend waren.

Gundobald Burghaus hatte eine schöne, ausgebildete, Geist verrathende Stirn; unter der Stirn lagen ein paar langgeschlitzte, dunkelgraue, schwärmerische, schwermüthige Augen, deren Blick zu Zeiten einen wahren Zauber ausübte. Aber seine Nase war »gewöhnlich«, der Mund, welcher beim Lachen viel zu sehr Zähne und Zahnfleisch sehen ließ, geradezu unschön und das Kinn unbedeutend und wenig entwickelt.

Es lag eine auffallende Disharmonie in diesem Antlitz zwischen dem obern und dem untern Theile des Gesichts. Wenn Gundobald schwieg oder ernsthaft und leise sprach, wie er es konnte, so herrschte der obere Theil vor, und man konnte ihn schön finden; leider zog er es gewöhnlich vor, nicht ernsthaft zu reden, sondern in trockenen Späßen. In seinem Wesen war überhaupt selten etwas zu verspüren von jener Schwermuth, die in seinen Augen lag, außer wenn er zuweilen sich in selbstironisirenden Klagen über seine Hülflosigkeit und Unbrauchbarkeit zu praktischen Dingen erging.

Lieber Gundobald, sagte die Gräfin, als Edwine aus dem Gehörkreise war, Sie haben da eben für Edwine kein ganz passendes Bild gebraucht; sie ist kein stiller, träumend daliegender See, sondern innerlich bewegter, als es Ihnen scheinen mag. Aber bleiben wir immerhin bei Ihrem Vergleiche. Ich denke, Sie haben nun hinreichend lange am Ufer dieses Sees gestanden, um zu bewirken, daß sich Ihr Bild darin spiegelt.

Mein Bild? sagte Gundobald Burghaus erschrocken.

Verwundert Sie das?

In der That, gnädigste Tante!

Das ist merkwürdig wenn ein junger Mann so lange einem Mädchen den Hof macht, so kann er von der natürlichsten aller Folgen nicht überrascht sein.

Aber ich lebe ja in fortwährendem Hader und kleinem Kriege mit meiner gnädigsten Cousine! rief Gundobald in einem Tone, der keineswegs eine freudige Ueberraschung ausdrückte. Und woraus schließen Sie …?

Ich merke schon, weshalb Sie so sehr den Ueberraschten spielen, mein schlauer Vetter, antwortete die Gräfin mit einem Lächeln, das ihren Zügen etwas zu Ungewohntes war, um sich anders als ein wenig gezwungen darauf einzustellen: ich soll Ihnen schöne Dinge sagen und schildern, wie lebhaft der Eindruck ist, den Ihre Liebenswürdigkeit auf Edwine gemacht hat.

Wahrhaftig, das ist mir im Traume nicht eingefallen, rief Gundobald aus. Bisher hat das ganze Geschlecht der jungen Damen wenig anderes gethan, als sich über mich moquirt, mich gefoppt und aufgezogen – und ich, nun, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich habe wenig anderes gethan, als ihnen schlechte Späße vorgemacht, in der Voraussetzung, daß wenig anderes mit ihnen anzufangen sei … beim Himmel, meine liebe Tante, Sie täuschen sich, Edwine lacht, just so wie die andern auch, über meine Späße.

Die Gräfin schüttelte sehr ernst den Kopf. Lassen wir Ihre Späße jetzt beiseite, Gundobald, ich komme, um ernst mit Ihnen zu reden. Die Aussichten, welche Ihnen heute Böhmer eröffnet hat, geben Ihnen vielleicht die Mittel, eine Frau mit den Ansprüchen, welche Edwine zu machen berechtigt ist, zu ernähren; Sie und Edwine sind sich nahe genug getreten, um mich jetzt die nächstliegende Folgerung ins Auge fassen zu lassen, und das wollen wir in diesem Augenblicke recht vernünftig thun. Ich muß offen mit Ihnen reden, weil Sie Andeutungen, die ich Ihnen früher schon machte, nicht verstehen wollten …

Ich weiß wirklich nicht …

Andeutungen, die darauf hinausgingen, daß Sie zurückkehrten zu dem Glauben, den die Ahnen Ihrer Mutter bekannten …

Ach … weshalb davon reden!

Widersteht Ihnen der Gedanke so sehr?

Er muß mir, meine ich, mehr wie jedem andern widerstehen, sagte Gundobald mit melancholischem Kopfschütteln; meine Mutter hat um des confessionellen Haders willen gelitten, viel gelitten – jetzt gebieten mir meine Ehre und das Andenken an meine arme, verstorbene Mutter, in diesem Punkte fest zu sein.

Ich glaube nicht, Gundobald, versetzte die Gräfin, daß Sie recht haben, in diese ernste und wichtige Frage das oft so nichtige und nach leerem Vorurtheile bestimmte Ding, was ihr Männer Ehre nennt, hereinzuziehen. Viel eher könnte ich von meiner Ehre reden, die mich zwingt, wie eine Mutter für Sie zu sorgen.

Gewiß, gnädigste Tante, Sie meinen es gut, und das fühle ich mit tiefer Dankbarkeit …

Ich meine es gut mit Ihnen, Gundobald, ja, aber ich darf es bei der bloßen Meinung nicht lassen – ich muß durch die That für Sie sorgen. Ihr Großvater hat meinem verstorbenen Bruder das Vermögen vermacht, als dessen Erbin die Welt Ihre Mutter betrachtete; von meinem Bruder ist es auf mich übergegangen – Sie also sind enterbt um unsertwillen – glauben Sie, daß dieses Verhältniß mich nicht drückte, nicht so lange drückte, bis ich mir sagen kann, daß es mir gelungen ist, eine Ausgleichung bewirkt zu haben, welche nach menschlicher Voraussicht Ihr zukünftiges Lebensglück verbürgt? Nehmen Sie Edwinens Hand unter den Bedingungen, unter denen allein ich sie Ihnen gewähren kann.

Aber, liebe Tante, ich bin überzeugt, daß Edwine mich nicht liebt!

Lassen Sie das meine Sorge sein!

Mir, denk' ich, muß sie doch noch näher liegen, diese Sorge! antwortete Gundobald.

Haben Sie sie gefragt?

Nein, und solange ich so denke, wie ich heute denke, solange ich so gegen Edwine fühle, wie ich heute fühle, solange ich nur die Cousine, die gute Freundin, meinethalb die Schwester in ihr sehe, werde ich es nie über mich gewinnen, sie zu fragen.

Sie sind in sehr widerspenstiger Stimmung heute, Gundobald! versetzte sehr unwillig die Gräfin.

Ich fürchte, erwiderte Gundobald, in dieser Angelegenheit werden Sie mich immer in derselben Stimmung finden!

So haben Sie eine andere Neigung?

Eine andere Neigung? fragte Gundobald wie zerstreut. Ich gebe Ihnen mein Wort, liebe Tante, daß mir noch nie eingefallen ist, ich könnte eine Neigung haben!

Dann werden Sie sich besinnen, Gundobald!

Aufrichtig gesagt, liebe Tante, es wäre mir eine Erleichterung, wenn ich wüßte, daß Sie diese Hoffnung nicht hegten!

Die Gräfin Edern war nicht gewohnt, einen so entschiedenen Widerspruch bei dem, was sie verfügte und anordnete, zu finden. Es war ihr nicht möglich, die innere Erregung, in welche sie gerieth, zu verbergen, und so sagte sie sehr hart:

Sie wissen nicht, was Sie reden, Gundobald, noch können Sie ermessen, um was es sich bei der ganzen Sache für Sie handelt. Aber Sie sollten klug genug sein, wenn jemand, der dies ermessen kann und überschaut, Ihnen einen Rath gibt, diesen Rath wenigstens zu überlegen. Es handelt sich darum, für das, was Ihre Aeltern gelitten haben mögen, Ihnen einen Ersatz zu gewähren, der groß und reich ist, und ich stehe Ihnen nahe genug, um sagen zu können: ich will und dulde nicht, daß Sie diesen Ersatz ausschlagen. Das Verhältniß, worin ich zu Ihrer Mutter stand, gibt mir die Pflicht, Sie von thörichten Handlungen zurückzuhalten.

Jenes Verhältniß, sagte Gundobald verwundert, war, soviel ich weiß, nicht so, daß wir Freundschaftspflichten daraus herfließen sehen könnten.

Pflichten der Freundschaft, nein, versetzte Gräfin Edern trocken aber andere.

Die können wenigstens nichts mit meinem Bekenntniß zu thun haben, erwiderte Gundobald.

Doch, versetzte die Gräfin; nach den Verhältnissen unserer Familie ist Ihre Rückkehr zu uns eine Vorbedingung bei dem, was ich für Sie thun werde, und eine unerläßliche. Sie werden den Ehrenpunkt, den Sie in der Sache sehen, nicht lange festhalten, ich bin davon überzeugt; denn es ist das keine vernünftige und eines denkenden, gewissenhaften Mannes würdige Rücksicht, wenn es sich um sein Glück in dieser und jener Welt handelt. In religiösen Dingen muß die Ehre schweigen. Wenn Sie mir gesagt haben, daß Sie zu dieser Einsicht gekommen, und wenn ich sehe, daß Sie einer eingehenden Besprechung der Sache selbst zugänglich sind, werde ich Ihnen Weiteres sagen – ich sehe da eben Bertha mit der neuen Gouvernante kommen.

Bertha und die neue Gouvernante kamen in der That auf den Pavillon zugeschritten. Gundobald aber stand auf und sagte, er wolle sehen, wo Boto sei – es drängte ihn, aus der Nähe der gebieterischen Dame fortzukommen und sich im stillen die seltsamen Eröffnungen zu überdenken, welche sie ihm gemacht hatte. Im Fortgehen warf er einen Blick auf die neue Gouvernante – die Erscheinung derselben schien ihn zu fesseln; er wandte sich plötzlich zu ihr herum, und wie in einem seiner spaßhaften Anfälle sagte er lächelnd:

Mein Fräulein, sagen Sie mir, was halten Sie von einem Manne, der den Glauben seiner Väter verläßt?

Anna Morell sah ihn groß und verwundert an und blickte dann zur Gräfin hinüber.

Mein Vetter Burghaus, sagte diese vorstellend und mit einem strafenden Blicke auf Gundobald.

Gundobald Burghaus, fuhr dieser, ohne sich irremachen zu lassen, lächelnd fort, und jetzt, wo ich Ihnen regelrecht vorgestellt bin, darf ich wol eine Frage an Sie richten und Sie dürfen mir eine Antwort geben, Fräulein! Also … was halten Sie davon!

Anna hatte sich unterdeß gefaßt nach der plötzlichen brüsken Weise, wie Gundobald sie mit seiner Frage überfallen hatte; sie sah in sein so lächelnd und doch mit einem so eigenthümlich schwermüthigen Blicke ihr zugewandtes Gesicht und antwortete deshalb jetzt unbefangen:

Ich sage Ihnen meine Meinung darüber gern, weil solche Fragen ja öfter an uns herantreten. Ich denke, die Religion soll eine Jakobsleiter sein, auf der wir in den Himmel steigen müssen und auf welcher der eine rascher und eifriger, der andere träger und langsamer steigt. Wenn nun jemand es zweckmäßig findet, seine Leiter wieder hinabzusteigen, um auf einer andern ganz von neuem anzufangen, dann bekennt er doch wol dadurch, daß er bisher noch nicht sehr eifrig gestiegen und nicht sehr hoch gekommen ist, sonst würde er sich nicht so leicht entschließen, das auf seiner Leiter Gewonnene im Stich zu lassen!

So ist's! rief Gundobald aus – Sie haben da etwas gesagt, Fräulein, das ich – mir gesagt sein lassen will!

Damit eilte er fort und verschwand hinter einer der Gebüschpartien.

Sie müssen sich über Vetter Gundobald's Manieren nicht wundern, liebes Fräulein, sagte die Gräfin mit einem süßsauern Lächeln – er hat zuweilen etwas seltsame Einfälle. Sie thaten recht, seine Frage nicht ernster zu nehmen, sondern sie so scherzhaft zu beantworten, obwol ich sonst Scherze über so ernste und wichtige Fragen nicht liebe.

Anna fand für gut, diese Bemerkung schweigend hinzunehmen und zu dem überzugehen, wozu sie gekommen: der Gräfin ihre Ansicht mitzutheilen, daß einige der Lehrbücher Bertha's gegen andere vertauscht werden müßten, welche sie für besser und vernünftiger eingerichtet hielt als die bisherigen, die bei Bertha's Unterricht benutzt waren.

Ich habe unter den Büchern der beiden jungen Comtessen einige gefunden, setzte Anna hinzu, die ich überhaupt nicht in Bertha's Händen sehen möchte. Die gläubige Begeisterung wird darin sehr bissig, zuweilen flegelhaft und die Gottesfurcht außerordentlich grob. Wir haben Schriftsteller, welche mir den Eindruck von Meßknaben machen, die sich in ihren weißen Chorhemden als Straßenbuben vor der Sakristeithür balgen!

Die Gräfin zuckte die Achseln.

Es gibt Gegner, antwortete sie, gegen welche das Schwert eine zu edle Waffe ist und eine gröbere Wehr noththut!

Die Gouvernante unterdrückte bescheidentlich den Widerspruch, den sie auf der Zunge hatte, und ging zu einzelnen der Lehrbücher über. Die Gräfin sagte ihr, daß sie freie Hand darin habe, welche sie anschaffen wolle, nur wünsche sie selbst sie vorher anzusehen.

Dann erhob sie sich und schritt allein in den jetzt von der hereinbrechenden Nacht in Dämmerung gehüllten Garten hinein. Sie ging langsam und in Gedanken verloren, wie es schien; zwischen den Gebüschen durch und an den Rasenflächen entlang schritt sie dem Ende der Parkanlage zu, das heißt hinab an das Ufer des kleinen Flusses, der, von Haus Gohr herkommend, aus dem Walde kurz oberhalb Edern in einen Wiesengrund trat und dann den Garten von Haus Edern begrenzte.

Sie kam an die Landestelle, wo gewöhnlich ein paar Boote lagen – eins fehlte heute, wie die Gräfin mit einer Miene von Unzufriedenheit wahrnahm; sie schritt noch einmal den Garten hinauf, dann wieder hinab – jetzt hörte sie Ruderschläge flußaufwärts und blieb stehen – nach kurzer Zeit kam um die nächste Biegung herum der Kahn angeschossen. Boto saß darin.

Du hier, Mama? sagte er ein wenig überrascht. Fürchtest du die Nachtluft nicht, daß du so spät noch im Garten bist?

Dabei sprang er aus dem Kahne, befestigte ihn an seiner Kette und wischte den Schweiß von seiner durch die Anstrengung gerötheten Stirn.

Wo warst du? fragte die Gräfin.

Ich habe das Heu auf den großen Wiesen untersucht, ob es zum Einfahren trocken ist – Christian soll morgen damit beginnen.

Es ist gut, sagte die Gräfin – komm, gib mir deinen Arm, ich habe mit dir allerlei zu überlegen … oder bist du zu erhitzt?

Boto gehorchte, ohne die Frage der Mutter zu beantworten, und schritt mit ihr dem Schlosse zu.

Ich habe, fuhr die Gräfin Edern fort, soeben mit Gundobald ein ernstes Gespräch gehabt und will dir den Inhalt mittheilen, damit du deinen Einfluß auf ihn gebrauchst, um ihn rasch dahin zu bringen, wo ich ihn zu sehen wünsche. Gundobald ist nun bald ein Jahr lang in seiner Stellung hier in unserer Nähe und seitdem verbringt er fast ebenso viele Stunden in unserm wie in seinem Hause in der Stadt. Es wird Zeit, daß er Ernst macht …

Ernst womit? fiel Boto ein.

Du fragst womit? Ich meine, wenn man so lange Zeit einem jungen Mädchen den Hof macht und bei allen Leuten die Voraussetzung erregt, daß man sich um sie bewerben wolle …

Gundobald … um Edwine? sagte Boto ein wenig verwundert.

Ueberrascht dich das?

Du hast recht, Mama, es sollte mich nicht überraschen, sich solche Wünsche aussprechen zu hören. Wenn ich denke, wie du Gundobald zu uns herangezogen hast, obwol er anfangs, als er in diese Gegend kam, sich der Verwandtschaft mit uns gar nicht zu entsinnen schien und nicht einmal einen Besuch bei uns machte – und wie du dann seinen Verkehr mit Edwine immer mit zufriedenem Auge beobachtet hast, so darf es mich nicht überraschen.

Du kannst hinzusetzen, sagte die Gräfin trocken, daß ich es war, welche in der Hauptstadt erwirkte, daß man Gundobald in unsere Gegend schickte.

In der That – und davon sagtest du mir nichts?

Es war die Zeit nicht, zu reden. Diese Zeit ist jetzt gekommen und – sie drängt! Gundobald muß sich mit Edwine verloben, und um es zu können, muß er übertreten; ich habe ihm das soeben geradezu angekündigt und namentlich in Beziehung auf den letztern Punkt einen größern Widerstand gefunden, als ich erwartete. Ich bedarf deiner, diesen Widerstand brechen zu helfen.

Aber, Mama, rief Boto aus, verzeihe mir, wenn ich dir sage, daß ich dich in all dem, was du da sprichst, gar nicht wiedererkenne!

Und weshalb nicht? Hab' ich je mit einem festen Vorsatze oder Wunsche hinter dem Berge gehalten?

Ich will nicht sagen, daß du nicht immer offen deine Willensmeinung bekannt. Und was du gewollt, hast du auch immer zu erreichen gewußt; aber du hast auch, scheint mir, immer nur klug und besonnen das zu Erreichende gewollt …

Und will ich jetzt etwas nicht Erreichbares?

Ich behaupte das nicht; nur möchte ich behaupten, daß sich dies nicht auf dem Wege, den du eingeschlagen hast, erreichen läßt.

Bei einem so harmlosen, oberflächlichen und der Leitung bedürftigen Menschen wie Gundobald? Wahrhaftig, so viel kenne ich die Menschen, um zu wissen, wo es der Diplomatie bedarf und wo nicht!

Gewiß, Mama, du kennst die Menschen – aber sagt dir deine Menschenkenntniß, daß Gundobald nicht auch hartnäckig sein und auf irgendeinem bestimmten Dinge nicht fest bestehen könnte? Und sagt sie dir ferner, daß Gundobald's Verkehr mit Edwine eine keimende oder schon entwickelte Neigung andeute? Glaubst du, daß unter ihren Neckereien und Späßen irgendetwas davon sich verstecke? Und ganz zuletzt und das ist es hauptsächlich, weshalb ich sagte, ich kenne dich nicht wieder, liebe Mama –, glaubst du nöthig zu haben, für Edwine einen Mann zu suchen, dir einen Schwiegersohn förmlich zu pressen? Ich meine doch, nach der Ehre, eine Comteß Edern heimzuführen, geizen junge Männer genug im Lande – und ich muß dir gestehen, ich fühle nicht die allermindeste Lust, in Unterhandlungen mit Gundobald zu treten, welche ihn berechtigen könnten, mir nachzusagen, ich hätte ihn mit meiner Schwester verkuppelt!

Das ist ein völlig berechtigter Stolz, lieber Boto – ich räume dir ein, daß dir mein Verfahren deshalb seltsam erscheinen muß – aber – komm, wenden wir noch einmal.

Sie waren am Schlosse angekommen und wandten sich, um durch die dunkler werdende Dämmerung noch einmal in der Richtung nach dem Flusse hinabzuschreiten.

Aber, fuhr die Gräfin fort, ich habe dir mehr noch als das zu sagen. Ich bin gezwungen, mir nicht nur einen Schwiegersohn, sondern auch eine Schwiegertochter zu wählen, welche ich unter andern Umständen vielleicht nicht gewählt haben würde.

Eine Schwiegertochter? rief Boto äußerst überrascht aus.

So sag ich, antwortete die Gräfin ruhig; bitte, sprich nicht so laut, es ist nicht nöthig. Eine Schwiegertochter, sagt ich, und zwar eine, gegen die du sicherlich nichts einzuwenden haben wirst – Hermine von Gohr ist es.

Hermine! rief Boto. trotz der Warnung seiner Mutter mit demselben Tone lauter Verwunderung.

Du bist entzückt, daß ich so den Wünschen deines Herzens entgegenkomme, nicht wahr? Nun ja, es kann nichts freudiger für mich sein, als daß ich deine Neigung zu Hermine, die mir nicht entgangen ist, so ganz Hand in Hand schreiten sehe mit den Interessen unsers Hauses.

Boto war wie vollständig aus den Wolken gefallen stehen geblieben.

Mit den Interessen unsers Hauses meine Neigung für Hermine? Und was weißt du von meiner Neigung für Hermine?

Glaubst du, ein Mutterauge blicke da nicht klar und scharf? Sehe ich nicht immer, wie ihr euch sucht, wie lebhaft eure Unterhaltungen sind, höre ich nicht, wie Hermine stets dem müßigen Gundobald deine praktische Thätigkeit zum Muster aufstellt?

Mama, es scheint, du hörst und siehst eben alles – aber auch wol mehr, als was ist. Es ist vielleicht möglich, daß es schien, ich mache Hermine den Hof – etwa so wie Gundobald Edwine – wir sind beide praktische Naturen – das führt uns zusammen –, aber Hermine meine Frau – wahrhaftig, ich habe nie daran gedacht, – Hermine hat, besitzt nichts, gar nichts, und zu einer Ehe in unserer Lebensstellung gehört mehr als blos die Neigung der Herzen – vorausgesetzt, sie wäre da!

Ja, ja, sagte die Gräfin Edern nachdenklich; du magst darin recht haben. Auch will ich dir durchaus nicht verschweigen, daß es mir lieber wäre, dich irgend eine Erbtochter oder eine Fürstin zum Altar führen zu sehen. Aber – was ist daran zu ändern – die Verhältnisse fordern nun einmal eine Verbindung zwischen uns und diesen Gohrs, und danach muß ich wünschen, daß du dich um Herminens Hand bewirbst. Um dir nichts zu verschweigen: es gibt ein Papier – ein einziges, jämmerliches Schriftstück von wenig Blättern, das unsere ganze Existenz bedroht, das alles, was wir haben, einem andern in den Schos werfen kann.

Du erschreckst mich, Mama!

So ist es, Boto!

Aber welches Papier, ich bitte dich?

Ein Papier, welches nebendem meinen Ruf, meine Ehre vor der Welt vernichten würde; ein abscheuliches, gottloses, von Abfall und Verrath am Heiligsten eingegebenes, von einem Wahnsinnigen in einer Stunde böser Tücke aufgesetztes Blatt!

Mein Gott, was kann das sein?

Verlange nicht, daß ich dir das näher erkläre, daß ich dir ein Wort mehr über diese ganze unselige Sache, die uns bedroht, sage, als es durchaus nothwendig ist. Wenn du wüßtest, was es mich kostet, dir so viel zu sagen, würdest du nicht in mich dringen, dir mehr zu sagen. Du mußt dir daran genügen lassen, daß ich dir sage: es ist möglich, daß dieses Schriftstück in rechtsgültiger Weise nicht mehr existirt, es ist jedoch ebenso möglich, daß es vorhanden ist. Für das eine wie für das andere sprechen gleich viele, gleich gewichtige Gründe. Ist aber das letztere der Fall, so liegt das Papier im Gewahrsam des geistlichen Raths Zander, der es an einem bestimmten, nicht mehr fernen Tage überreichen muß.

Ueberreichen … wem?

Einem andern, der Erbe würde …

Erbe dessen, was du vom Onkel Nesselbrook hast, … das heißt unsers ganzen Vermögens …?

Unsers ganzen Vermögens, so ungefähr – ja!

Und dieser Erbe würde … doch nicht er, Gundobald?

Wer anders als Gundobald! Ja, Gundobald erhielte alles, denn was von deines Vaters Stammvermögen noch da ist, das ist nur da, weil ich es mit der Erbschaft Nesselbrook's freigemacht, sozusagen zurückerkauft habe! Du siehst, wir wären vollständig ruinirte Leute  … und ich kenne nur Einen Weg, dem vorzubeugen!

Eine Verbindung zwischen mir und Hermine, zwischen Gundobald und meiner Schwester?

Ja – Zander liebt Hermine wie seine leibliche Tochter. Sie allein kann ihn bestimmen, jene Blätter uns auszuliefern, und sie wird ihn bestimmen, wenn sie deine Braut ist, wenn auch Gundobald in unsere Familie eingetreten ist und wenn mit der Auslieferung des Papiers nur Hader und tödliche Feindschaft zwischen Gundobald und der Familie, in die der letztere aufgenommen ward, hervorgerufen würde.

Ich bin von alledem vollständig wie niedergeschmettert! rief Boto aus.

Wir haben noch ein paar Monate Zeit, fuhr die Gräfin, schwer aufathmend, fort – unterdeß wirst du handeln und auf Gundobald wirken.

Beide gingen eine kurze Strecke schweigend nebeneinander.

Wenn die Sachen so liegen, sagte dann Boto, hast du allerdings recht, liebe Mama – aber ich sehe dann nicht ein, weshalb du die Sache mit Gundobald schwieriger und verwickelter machst, in dem du von ihm etwas verlangst, wozu er sich niemals entschließt?

Und würdest du das nicht verlangen?

Allerdings – ich würde es in hohem Grade wünschenswerth finden – aber darauf bestehen, wo es so nöthig ist, daß Gundobald überhaupt nur Edwinens Gatte wird, würde ich dann nicht, wenn es eine Klippe zu werden drohte, an welcher der ganze Plan scheitern könnte.

Ich aber muß darauf bestehen, sagte die Gräfin kurz. Du wirst das später einmal einsehen, daß ich Edwine keinem, der ein anderes Bekenntniß hat als wir, zum Weibe geben kann, das ist unmöglich!

Unmöglich? Du denkst doch sonst von diesen Dingen bei dir ganz im stillen nicht so streng, als du der Welt, der man ja sein Inneres nicht zu offenbaren braucht, zu zeigen Gründe hast.

Ich denke in diesem Punkte nicht nach der Logik der Vernunftgründe, sondern nach der Logik der Thatsachen, lieber Boto – wenn dir einmal diese Thatsachen enthüllt werden, wirst du einsehen, wie logisch ich denke. Aber da sind wir wieder am Hause angekommen, fuhr sie fort. Ich will hineingehen, denn es wird kühl. Ich bin ohnehin für heute zu Ende. Du hast genug gehört, um zu wissen, wie du handeln mußt. Bei Gundobald habe ich geltend gemacht, daß die Aussicht, die ihm der Baron Chevaudun eröffnet, ihm jetzt verstatte, seinen häuslichen Herd zu gründen, und daß seine Persönlichkeit auf Edwine Eindruck gemacht habe. Du kannst das andere, daß ich freie Herrin meines Vermögens, daß unser Besitz kein Fideicommiß sei, daß Edwine, wenn sie die Seine werde, auf ein ganzes Drittheil unsers Vermögens rechnen dürfe, geltend machen.

Ist das dein Ernst, Mama? sagte Boto, in hohem Grade betroffen.

Gewiß – wenn du jemals anders darüber gedacht hast, so muß ich dir leider diese Voraussetzung zerstören. Wie die Dinge liegen, kann ich für Gundobald Burghaus nicht weniger thun. Edwinens Recht ist aber auch Bertha's Recht.

Wäre es nicht in dem Hausgange, in den sie eingetreten, so tief dunkel gewesen, so hätte die Gräfin Edern auf dem Gesichte ihres Sohnes die Miene der äußersten Ueberraschung, und zwar einer Ueberraschung der unangenehmsten Art wahrnehmen können. Jetzt sah sie diese Miene nicht, aber wenn sie sie auch gesehen, Boto hätte wenig dabei gewonnen; die Gräfin war nicht gewöhnt, viel Rücksicht darauf zu nehmen, ob die Willensmeinungen und Urtheile, die sie aussprach, Ueberraschungen bei andern hervorriefen oder nicht.

Nachdem Boto die Flügelthür, welche in das Wohnzimmer führte, vor seiner Mutter geöffnet, trat er selbst zurück und ging raschen Schrittes die Treppe nach oben hinauf, wo er sein Arbeitszimmer aufsuchte. Ein Diener kam ihm nach, um ihm Licht anzuzünden, aber Boto sandte ihn herrisch fort – der junge Graf wollte allein sein und bedurfte des Lichtes nicht – er ging, die Hände auf dem Rücken und leise Worte murmelnd, heftig auf und ab.

Das sind Eröffnungen! sagte er. Und das hat die alte Frau alles bis auf diese Stunde still mit sich herumgetragen! Ob mein Vater etwas davon ahnt? Ganz gewiß nicht! Er gäbe gewiß nicht zu, daß Edern nicht immer ein Fideicommiß gewesen, daß es nicht ganz und ungetheilt auf mich komme, daß es unter Schwestern verzettelt werden solle! Ich begreife die Mama nicht! Sich dazu aus Angst vor solch einem verwünschten Papier bestimmen zu lassen! Liebe Mama, du hast viel durchgesetzt in deinem Leben – aber diese Idee, daß ich theilen soll, mit einem Paar Schwägern theilen – die schlage dir aus dem Sinne, daraus wird nichts, so wahr ich Boto heiße!

Uebrigens ist so viel richtig, ihr Plan, das Papier unschädlich zu machen, wenn es wirklich so fürchterlich sein sollte, ist gut. Aber ist es denn nöthig, daß ich deshalb ein blutarmes Fräulein wie diese Hermine heirathe? Mit der spielt man in der ländlichen Stille hier wol einen kleinen Roman – aber heirathen! Denkt denn die gute alte Frau gar nicht daran, daß ich zu meinen Unternehmungen Geld, viel Geld bedarf? Stellt sie mich etwa in Eine Reihe mit einem Gundobald, der sich einen häuslichen Herd gründen mag auf die paar tausend Thaler hin, die ihm Chevaudun's Unternehmung verspricht? Sie sollte mich doch besser kennen, die gute Mama, um zu wissen, daß ich nicht der Mann bin, mich mit einem schmalen Drittheile meines väterlichen Erbes zu begnügen und dabei in rührender Schwärmerei ein im Verborgenen blühendes Veilchen wie Fräulein Hermine zu freien – und das alles um dieses verdammten Papiers willen, das wie ein richtiges Komödientestament aussieht!

Aber fürs erste will ich ihr folgen – Gundobald ist mir als Schwager ganz recht; es könnte keinen bessern, friedfertigern geben. Und das Papier werde ich schon bekommen – Fräulein Hermine soll sich in der nächsten Zeit nicht über mich zu beklagen haben!


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