Paul Schreckenbach
Der König von Rothenburg
Paul Schreckenbach

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VI.

Armgard Seehöfer hatte von dem hinter ihr Eintretenden nichts wahrgenommen. Sie hätte ihn auch nicht bemerkt, wenn er in der Kirche geblieben wäre, denn sie war, das Haupt auf das Betpult neigend, auf ihren Knien eingeschlafen. Das war ihr schon mehrmals begegnet, wenn sie Nachtwache gehabt hatte, und sie hatte dann jedesmal sich selbst aufs bitterste gezürnt. Denn sie war ins Kloster gegangen, um der Welt abzusterben, nicht wie so viele andere, um eine gute Versorgung zu finden. Mit der schwersten Mühe hatte sie ihrem Vater seine Einwilligung abgerungen, und erst als er einsah, daß nichts seiner Tochter Entschluß zu ändern imstande sei, hatte er sich wenigstens äußerlich damit abgefunden. Innerlich freilich konnte er es nicht überwinden, daß das einzige Wesen, das er auf seine Art lieb hatte, von ihm und seinem Reichtums hinweggezogen war. Armgard wußte das auch gar wohl, nicht sie hatte das größte Opfer gebracht, sondern der mürrische, alte Mann, der nun einsam in seinem großen Hause in der Herrengasse saß. So sollte das Opfer wenigstens nicht vergeblich sein. Sie wollte alles ernstlich tun und halten, was des heiligen Dominikus Regeln von denen verlangten, die das Gewand seines Ordens trugen. Darin hoffte sie endlich den vollen Frieden des Herzens zu finden, den sie in der Welt nicht gefunden hatte.

Wie lange sie jetzt im Schlafe gelegen, wußte sie nicht, als sie plötzlich unsanft emporgerissen wurde. Neben ihr stand die Priorin, die mit ihrer harten Rechten den Oberarm der Knienden gepackt hatte, und deren knochiges Gesicht von Angst und Entsetzen verzerrt erschien.

»Um der heiligen Jungfrau willen, stehe auf und komme zu dir!« keuchte sie.

Armgard taumelte erschrocken empor und stammelte: »Was ist geschehen, ehrwürdige Mutter?«

»Ach Gott, ach Gott!« ächzte die Alte und sank nun selbst auf die Knie. »Da draußen vor der Tür liegt der Bürgermeister Topler ermordet!«

Armgard stieß einen Schrei aus und starrte sie an, als habe sie nicht recht gehört.

»Das ist mein Tod!« jammerte die Priorin. »Hier auf den Stufen liegt er, sie werden uns alle umbringen – sie trauen uns ohnehin nicht, sein Sohn zündet das Kloster an, – der ist auch so ein wilder Mensch wie sein Vater. O Maria und Josef, helft mir!« Sie schlug die Hände vors Gesicht, und ihre Zähne schlugen zusammen, als hätte sie das kalte Fieber.

Inzwischen hatte Armgard ihre Fassung wiedergewonnen. »Wir müssen ihn hereintragen und sehen, ob er noch lebt!« rief sie.

Aber die Priorin kreischte auf: »Nicht um die Welt! Er ist voll Blut. Ich kann kein Blut sehen!«

»So wecket die Schwestern!« sagte Armgard streng, als wäre sie die Gebietende und nicht das alte Weib, das vollständig den Kopf verloren hatte. »Wir dürfen ihn nicht länger liegen lassen, und ich allein kann den schweren Mann nicht bewegen.«

Sie faßte die Priorin fest beim Arme und geleitete sie zur Tür hinaus, auf deren Stufen der Niedergestreckte lag. Bei seinem Anblick stieß die Alte von neuem einen Schrei aus und rannte dann wie gehetzt hinüber in das Hauptgebäude des Klosters.

Das Lämpchen, das sie hatte fallen lassen, als sie den Verwundeten gefunden, lag vor Armgards Füßen. Sie nahm es auf, entzündete es drinnen in der Kirche an der ewigen Lampe und kehrte dann zurück. Aber als sie damit den beleuchtete, der starr an der Erde lag, ließ sie es gleichfalls fallen und schrie noch gellender auf, als vorher die Priorin. Sie hatte Jakob Topler erkannt, und der Schreck warf sie neben ihn auf den Boden.

Dann aber mit einem Male richtete sie sich auf. Mit zusammengepreßten Lippen umfaßte sie den Oberkörper des Mannes und schleppte ihn mit Aufbietung aller Kräfte in die Kirche, nicht achtend des Blutes, das ihr weißes Gewand befleckte. Sie legte ihn am Altare nieder und suchte zu ergründen, ob er noch am Leben sei.

Inzwischen kehrte die Priorin mit zwei Schwestern zurück. Als sie sah, daß es nicht der Bürgermeister war, sondern sein Sohn, begann sie von neuem zu lamentieren, denn vor der Rache Toplers hatte sie eine entsetzliche Angst. Armgard hörte gar nicht auf den Wortschwall, sondern unbekümmert um alles, was um sie her vorging, suchte sie, ob irgendein Zeichen verrate, daß noch nicht alles Leben entflohen sei. Sie war in der Heilkunst unterrichtet worden, wie so viele Bürgerstöchter, denn bei den ewigen Fehden und Raufhändeln wurde darauf gesehen, daß eine Frau die Wunden ihres Mannes oder ihres Verwandten verbinden und heilen könne. Das kam ihr jetzt sehr gut zustatten, denn sie allein war imstande, etwas zu tun und wirksam zu helfen, während die anderen nur jammern und klagen konnten.

Lange schien alle Mühe vergeblich. Mit einem Male aber hob sie das Haupt, und es war, als ob in ihrem durchsichtig blassen Antlitze ein helles Licht aufleuchte.

»Er lebt!« sagte sie. »Das Herz schlägt noch.«

»Gelobt sei Jesus Christus!« rief die Priorin. »So lasset ihn in die Krankenstube tragen, – oder in sein Haus oder zu seinem Vater.«

»Ich weiß nicht, ob man ihn tragen kann, er ist sehr matt,« entgegnete Armgard.

»Er kann doch nicht in der Kirche liegen bleiben?«

»Ich denke, wir können nicht bestimmen, was mit ihm geschehen soll,« gab Armgard zurück, und indem eine heiße Röte für einen Augenblick ihr Antlitz überzog, setzte sie hinzu: »Lasset zuvörderst sein Weib holen! Sie hat das nächste Recht zu sagen, was mit ihm zu tun ist.«

»Oder sein Vater!« rief die Priorin.

Den Einwurf überhörend, fuhr Armgard fort, indem sie von neuem errötete: »Ich bitte um die Erlaubnis, der Frau zu sagen, was geschehen ist.«

»Nein, nein,« entgegnete die Priorin. »Du bist hier nötig, denn du kannst mit Wunden umgehen!« Dann fiel ihr plötzlich ein, weshalb die Patriziertochter ins Kloster eingetreten war, was sie in der Aufregung vergessen hatte. Mit verlegenen, fast bestürzten Blicken schaute sie die Jungfrau an, dann trat sie an ihre Seite und raunte ihr zu: »Denke daran, daß wir auch denen wohltun sollen, die unsere Feinde sind, und bezwinge dich selbst.«

Armgard neigte das Haupt. Könnt' ich mein Herz doch ganz zur Ruhe zwingen! erklang's in ihr. Laut aber sagte sie: »Es liegt hier ein Todwunder. An anderes denke ich nicht mehr. Aber, ehrwürdige Mutter, wenn ich nicht gehen soll, so sendet eine andere!«

»Nach der Regel darf keine Hof und Bereich des Klosters bei Nacht verlassen, wie dir bekannt ist. Wir müssen warten, bis der Morgen erscheint.«

»Dann«, versetzte Armgard, »kann er nicht hier liegen bleiben auf den kalten Fliesen. Wir müssen ihn hinübertragen. Es kann gelingen, ohne daß er stirbt, die Wunde blutet nicht mehr.«

»So nehmt ihn auf und tragt ihn nach der Krankenstube!« gebot die Priorin. »Und sobald es tagt, geben wir seinem Vater Nachricht und seinem Weibe.« –

Inzwischen hatte Agnes Topler in schweren Träumen auf ihrem Pfühl gelegen. Es war ihr, als blicke sie daheim in Nürnberg aus ihres Vaters Hause zum Fenster hinaus. Die lange Gasse, die sie hinabschaute, war völlig tot und menschenleer, nur ganz in der Ferne ward ein Zug von Leuten sichtbar, der langsam näher und näher kam. Es waren lauter schwarz gekleidete Wänner, die brennende Lichter in den Händen trugen. Nur einer schritt in ihrer Mitte im grauen Armensünderhemde, die Hände auf den Rücken geschnürt, mit traurig gesenktem Haupte dahin, hinter ihm ging der Scharfrichter in seiner blutroten Tracht mit entblößtem Richtschwerte. Sie wußte nicht, wer der Delinquent war, aber eine entsetzliche Angst lähmte ihr alle Glieder. Jetzt hielt der Zug vor ihrem Fenster, wo auf einmal ein schwarzes Schafott aufgerichtet stand. Der Verurteilte betrat es und legte das Haupt auf den Block. In diesem Augenblicke erkannte sie ihn als ihren Mann. Da hob der Henker das Schwert in die Luft – und mit einem durchdringenden Schrei fuhr sie auf und erwachte.

Mit wirren und verstörten Blicken schaute sie um sich und wußte sich erst gar nicht in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Dann aber schrie sie noch einmal auf und sank, in Tränen ausbrechend, auf ihr Kissen zurück. Denn beim ersten Morgenschimmer, der durchs Fenster brach, hatte sie gesehen, daß neben ihr das Lager leer war.

Ihr Mann also war in der Nacht von ihr hinweggeschlichen. Er hatte sie erst durch sein Dableiben und seine Zärtlichkeiten in Sicherheit eingewiegt, dann hatte er sie heimlich verlassen und war jedenfalls nach dem Kloster gegangen, wohin ihn wohl nicht nur der Eifer für das Wohl der Stadt trieb, sondern etwas ganz anderes. Sie lachte schneidend auf bei dem Gedanken. Was waren doch die Männer für ein erbärmliches Geschlecht, wankelmütig und zugleich so unbegreiflich albern! Ein Weib, von dessen Schönheit die ganze Stadt sprach, ließ solch ein Gauch daheim allein liegen und schlich sich in der Nacht zu einem Geschöpf, das nicht die geringsten Reize besaß. Denn das hatte sie neulich zu ihrer Befriedigung festgestellt, als sie sich die Armgard Seehöferin in der Kirche der Dominikanerinnen von ihrer Schwägerin Wernitzer hatte zeigen lassen. Aber es mußte nur etwas Ungewöhnliches sein und etwas Verbotenes dazu, wie die Liebschaft mit einer Nonne war – dann kamen sie angeflattert wie die Mücken, wenn in der Finsternis ein Licht aufblitzt.

Sie hörte auf zu schluchzen und richtete sich empor. Die Fäuste auf die Decke aufstützend, starrte sie finster vor sich hin. Das sollte und mußte aufhören, sie konnte dieses Leben nicht länger ertragen. Noch einmal, zum letztenmal, wollte sie ihm bei seiner Rückkehr die Wahl stellen zwischen dem Kloster und seinem Weibe, und kam er ihr wieder etwa mit seiner Pflicht und anderen Redensarten, so wollte sie heimkehren nach Nürnberg, und wenn man sie nicht ziehen ließ, wollte sie lieber den Tod suchen, als ein solches Leben weiter hinschleppen.

Immer tiefer spann sie sich in ihre wilden Gedanken ein, sah und hörte nicht, was um sie her vorging, daß drunten die Haustür geöffnet ward und Schritte sich der Tür näherten. Es war ihr, als sähe sie einen Geist, als plötzlich eine Schwester der Dominikanerinnen vor ihrem Bette stand, und fast entsetzt blickte sie zu ihr empor.

Aber nach den ersten Worten der alten Nonne kreischte sie auf: »Er ist tot?«

»Nein, er lebt und hat nach Euch verlangt.«

In fliegender Hast warf sie sich die nötigsten Kleidungsstücke über und stürmte nach dem Kloster. Die Nonne ließ sie weit hinter sich, die ging ihr viel zu langsam.

Hoch aufatmend kam sie bei dem Kloster an, und auf ihr heftiges Läuten ward ihr sofort aufgetan.

»Faßt Euch, Frau,« sagte die alte Priorin, die ihr entgegentrat und ihre völlige Verstörtheit sah. »Die Wunde Eures Mannes ist nicht lebensgefährlich, wenn er auch viel Blut hat verlieren müssen. Das Messer ist wohl an einer Rippe abgeglitten.«

»Bringt mich zu meinem Manne!« rief Agnes, die kaum vernahm, was jene sagte.

»Ja, kommet! Aber ich bitte, daß Ihr ruhig seid.« Sie schritt einen langen Gang hinunter und öffnete eine Tür. »Hier tretet ein.«

Agnes gehorchte eilend, aber auf der Schwelle blieb sie wie angewurzelt stehen, und unwillkürlich griff sie nach dem Türpfosten, um einen Halt zu finden, denn es war ihr, als drehe sich alles im Kreise um sie her.

In dem engen Gemache befanden sich drei Personen. Rechts von dem Lager seines Sohnes saß vornübergebeugt auf einem Schemel, das Haupt fast bis auf die Knie senkend, ihr Schwiegervater, der Bürgermeister, und über ihren lang hingestreckt liegenden Gatten neigte sich das Weib, das sie als ihre Rivalin haßte, wie keine andere auf Erden. Sie hielt dem Verwundeten eben einen Trank an die Lippen, und der blickte dankbar zu ihr empor.

Bei diesem Anblicke ward es der jungen Frau zumute, als solle sie wahnsinnig werden. Sie starrte die Gruppe eine Weile an, ohne sich zu bewegen und ein Wort zu sprechen, dann stieß sie ein schrilles, hohnvolles Lachen aus. Der Kranke wandte den Kopf, und seine Augen leuchteten auf, als er sie erkannte. »Agnes, komm her zu mir!« rief er leise.

Da fuhr sie auf. Ihre Augen loderten, ihr ganzer Leib bebte, und sie verlor alle Besinnung. »Nicht mit dieser da!« schrie sie. »Sie hat mir meinen Mann gestohlen! Eine Nonne hat ihn mir verführt! Hinaus! Hinweg, hinweg!« Und im Überschwang ihrer Leidenschaft warf sie sich weinend zu Boden.

Da fühlte sie plötzlich ihr Handgelenk mit eisernem Drucke umfaßt und sah sich mit einem Male durch eine unwiderstehliche Gewalt auf die Füße gestellt. Ihr Schwiegervater hatte das getan, und indem er sie mit eiskaltem Blicke maß, sprach er leise, aber in einem Tone, der wie ein Schwert in ihr Herz drang: »Diese hier hat geholfen, ihm das Leben zu retten. Du bringst es vielleicht über dich, ihm das Leben nicht zu kürzen.«

Sie starrte ihn entsetzt an, und er ließ sie fahren. Da warf sie sich über den Liegenden hin und rief, von neuem aufschluchzend: »Jakob, ach Jakob! Stürbe ich doch mit dir!«

»Lebe wohl, Jakob Topler, Gott sei mit dir!« klang da Armgard Seehöfers Stimme, und ehe einer etwas erwidern konnte, war das blasse Mädchen aus der Tür geglitten.

Der Bürgermeister schritt ihr sogleich nach. Er wollte ihr danken und sie zurückholen, denn seiner Meinung nach mußte jetzt seine Schwiegertochter zur Besinnung kommen und die so grundlos Beleidigte um Verzeihung bitten. Aber als er die Tür aufriß, stand sein alter Diener Götz Breitschwert vor ihm.

»Der Herr Ratsherr Northeimer schickt mich. Sie läuten mit der Ratsglocke!« meldete er.

Topler sprang zum Fenster und riß es auf. In der Tat vernahm er in der Ferne den wohlbekannten schwachen Klang der kleinen Glocke. Eilend griff er zu seinem Barett und Handschuhen.

»Was ist's, Vater?« fragte Jakob mit schwacher Stimme.

»Wahrscheinlich eine wichtige Botschaft vom Feinde. Sie läuten zur Ratssitzung, und ich muß hin. In einer Stunde vielleicht bin ich wieder da. Gott behüte dich derweilen, mein Sohn. Sorge dich nicht, am Tage hat die Stadt nichts zu fürchten.« Dann faßte er noch einmal den Arm der jungen Frau mit festem Griffe und sagte: »Ich kann dich nicht von seinem Lager wegnehmen, denn du bist sein Weib. Aber ich lege dir's auf dein Gewissen: Rege ihn nicht auf mit deinem Wahnsinn, denn er ist schwer krank.«

Damit wandte er sich ab und ließ die beiden miteinander allein. –


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