Josephine Schneider-Foerstl
Die Liebe des Geigerkönigs Radanyi
Josephine Schneider-Foerstl

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Pralle glutende Sommersonne über der Pußta! In der endlosen Weite zittert die hitzegeschwängerte Luft in schimmernden Wellen, wie schillernde Seide. In sattem Tiefblau hängt die Decke des Himmels über der Erde, die müde all des Gebens und müde all des Lebens der Ruhe pflegt. Die Scholle ist hart und rissig, dunkel gebräunt, beinahe schwarz verkohlt, liegt die weite Rasenfläche. Alle die Kinder, welche die Pußta in ihrer Jugend gebar, verwelkten unter dem sengenden Hauch der Sommersonne. Nur Reihergras, Kletten und Disteln behaupten nach wie vor ihren Standplatz und zeigen sich so als die treuesten der Steppenkinder.

Träge schiebt sich der Hortobagy, von rauschendem Schilf umsäumt, durch die endlose Ebene. Kein Baum, kein Strauch hebt sein Astwerk zum Himmel, nur die weißgetünchten Wände der Csarda (Heideschenke) leuchten über das eintönige Braun.

Breit und weitläufig gebaut, lehnen sich die Nebengebäude an die Schenke. In den Remisen stehen Wagen und Ackergerät. Hinter dem Hause dehnt sich der Garten. Meilenweit – ohne Umfriedung und verliert sich unmerklich in Kartoffel- und Krautäckern. Diese gehen wieder in wogende, schwerhalmige Weizenfelder über, oder in lichtgrünes Blätterwerk klobigen Maises.

Zwischen der Wildnis von Feuerbohnen, Kürbis- und Melonenstauden, roten Rosen, Malven und brennender Liebe, welche der Garten hervorbringt, liegt ein braungebrannter, biegsamer Knabenkörper. Schwarzes Haargelock fällt ihm eigensinnig in die hohe Stirne und streift schmeichelnd die geschlossenen Augen mit den langen, seidenen Wimpern. Zierlich und fein, wie eine überreife Kirsche sitzt der Mund zwischen Kinn und Wangen. Die Aermel des weißen Hemdes sind aufgekrempelt, die Hemdbrust weit geöffnet. Er schläft nicht! Er ist nur zu bequem die Lider zu heben, und als er es dennoch tat, geschah es langsam, bedächtig, mit starkem Blinzeln, als mache die Sonne, die über der Steppe brennt, seine Augen schmerzen.

Zwischen dem Geranke der Feuerbohnen tauchte der Csikos, der Roßhirt auf. Er bog das Gesicht vorneüber und lachte. »Ausgeschlafen, Elemer?«

Der durchlöcherte Schlapphut hing ihm tief in die Stirne. Aus den weißen, flatternden Hemdärmeln sahen muskulöse, braungebeizte Arme. Das dunkle Haar lag in Zöpfen geflochten an den Schläfen, mit Schweinefett gesalbt und wie ein Schwalbennest festgeklebt.

Der Junge drehte sich ohne jede Hast nach der anderen Seite, damit er dem Csikos ins Gesicht sehen konnte, und bequemte sich zu sprechen: »Du willst wohl Rosen haben und Adonis und brennende Liebe für deinen Schatz! – Nimm, was du brauchst!«

»Wird man's nicht merken, Elemer?«

»Nein!«

»Und du verrätst mich nicht? – Du wirst auch nichts sagen?«

»Was soll ich sagen? – Daß du die Raja liebst? – Das weiß doch die ganze Steppe!«

»Das schon! – Aber daß ich hier gewesen bin, das weiß niemand.«

Der Junge zuckte die Achseln: »Nimm und geh!«

Der Roßhirt griff mit beiden Händen in die Flut der Blumen. Beide Fäuste hielt er nach wenigen Minuten voll davon. Er beugte sich zu dem Liegenden und flüsterte: »Kannst du heute kommen? – Zum Abend? – Großmutter hat für dich in den Sternen gelesen und will die Linien deiner Hand sehen, ob sie auch recht gedeutet hat.«

»Ja.«

»Wenn im Röhricht die Schilfsänger flöten und die Knechte nach der Csarda gehen, ist sie allein!«

»Ich komme!«

Eine Stimme rief aus der Schenke. Der Roßhirt duckte sich. Von dem Blattwerk der Bohnen, von Kürbis- und Melonenstauden geschützt, verschwand er geräuschlos und ungesehen, den Buschen fest gegen sich gepreßt.

»Mutter!« Der Junge richtete sich halb auf und streckte der blonden Frau, die sich ihm näherte, beide Arme entgegen. »Mutter! Wie das brennt!« Er legte die Hände gegen den Boden. »Die ganze Erde ist ein Feuer. Setz dich zu mir und horch wie die Scholle sich dehnt, wie die Risse springen, wie die Sonne den letzten Rest von Kraft aus den Gräsern trinkt.«

Sie fuhr ihm liebkosend über das schwarze Haar und strich ihm die Tropfen fort, die über seine Stirne rannen.

»Es ist zum Ersticken heiß hier, mein Junge! Komm mit mir! Drinnen ist es kühler. Es ist niemand in der Stube. – Und – ich habe mit dir zu reden!«

»Mutter, wie feierlich!« Er stemmte sich in die Ellenbogen und sah lachend zu ihr auf. »Schieß los, Mutterchen! Was gibt es denn?«

Sie zögerte, setzte sich nun doch neben ihm auf die harte, knisternde Erde und nahm die eine seiner braungebrannten Hände in ihre kühle, weiße. »Du bist heute achtzehn Jahre alt, mein Junge.«

»Ja, Mutter! Es ist schön, wenn man achtzehn Jahre ist.«

»Und bist nun ein junger Mann!«

»Aber immer dein Kind, Mutter.«

Er sprang auf, umfaßte ihre Schultern und drückte sie an sich, daß sie kaum Atem fand.

»Elemer!« Die Tränen standen ihr in den Augen. »Ja, Mutter! – Du weinst? – Weil ich achtzehn Jahre alt und ein junger Mann bin?«

»Nicht deshalb, Elemer! Aber mit jedem Jahre, das du älter wirst, gehörst du mir weniger. – Und bald wirst du gar nicht mehr mein eigen sein.«

»Oh!« Er küßte sie zärtlich, »Wer sagt denn das? – Ich gehöre dir immer! Dir! – Und Großvater – und der Steppe!«

Sie zuckte zusammen. »Komm, Elemer! – Ich habe mit dir zu reden! Du mußt es wissen! – Du mußt –«

Gehorsam erhob er sich und schob seinen Arm durch den ihren. Langsam gingen sie nach dem Haus. Die Frau gesenkten Kopfes, ganz in Gedanken verloren, er mit hellwachen Augen, die feuchtroten Lippen zum vergnügten Pfeifen gerundet.

Gierig sog er den frischen, kühlen Hauch ein, der ihm aus der Gaststube entgegenströmte. Die Wände waren in glattem, schmucklosem Weiß getüncht. An den Wänden hingen Heiligenbilder, Porträts berüchtigter Räuber, Ereignisse aus dem Leben derselben, Begebenheiten aus dem Jagd- und Hirtenleben bunt durcheinander. In der Mitte stand der riesige Ofen, von Bänken umrahmt, innerlich zum Brotbacken und äußerlich zum Wärmen dienend.

Elemer zog die blonde Frau zu sich auf eine der Bänke und lehnte den Rücken gegen die Wand. Die Steine strömten eine angenehme Kühle aus und der ungedielte Boden milderte die Hitze der Füße.

Ohne noch einmal zu fragen, sah er sie an.

Sie fühlte seinen Blick und wurde unsicher. Ihre Hände griffen nach den seinen, das blasse, feine Gesicht färbte sich mit leichtem Rot. »Ich will dir von deinem Vater erzählen, Elemer!«

Sie fühlte den Druck seiner Finger, sah, wie seine Augen sich weiteten, wie die junge Brust sich hob. »Ja, Mutter,« stieß er heraus! Seine Augen hingen an den ihren.

Aber sie sah über ihn hinweg. Holte noch einmal tief Atem und begann zu sprechen:

»Wir waren nicht immer in der Pußta!«

»Nicht? – Mutter?« – Elemer hob überrascht den Kopf.

»Nein, mein Junge!«

»Ich kann mich aber nicht erinnern, daß wir je anderswo gewohnt hätten, Mutter!«

»Du warst noch zu klein damals und hast es vergessen, trägst es nimmer im Gedächtnis, Elemer.«

»Möglich! – Also, Mutter, wo waren wir dann?«

»In Wien!«

»In Wien?« kam es erstaunt.

»Dein Vater ist hier in der Pußta geboren und kam mit 28 Jahren an eines der ersten Theater dorthin als Kapellmeister. Bei irgendeiner Festlichkeit, ich weiß nicht mehr genau, welche es war, wurde er mir vorgestellt und von diesem Augenblick an liebte ich ihn. Als wir uns nach Wochen wiedersahen, gestand er mir, daß er mich seither ebenfalls im Herzen trage. Aber unsere Liebe war völlig aussichtslos. Ich kannte den Stolz und die alten Traditionen meines Elternhauses, das eines der angesehensten Bankinstitute Wiens war, mein Vater war noch dazu von altem Adel. Zwei Jahre hielten wir unsere Liebe geheim. Durch einen Zufall überraschte uns mein Vater, als wir eines Abends nach dem Theater zusammentrafen. Sein Zorn und seine Vorwürfe waren grenzenlos.

Er nannte meinen Verlobten einen Schurken und Verführer, mich selbst bezeichnete er als eine Ungeratene und beschimpfte mich als ehrlos.

Es fielen harte Worte zwischen deinem und meinem Vater. Der Schluß von allem war, daß meine Eltern mich vor die Wahl stellten, entweder von dem Kapellmeister Radanyi zu lassen oder von ihnen verstoßen, mit dem »Zigeuner«, wie sie sich ausdrückten, durch die Welt zu ziehen.

Ich wählte das letztere.

Fluchbeladen, ohne jedes Wort des Segens, ohne jede Mitgift, folgte ich dem Manne meiner Liebe.

Er hatte mir unterdessen ein reizendes Heim geschaffen.

Wir zogen in eine der kleinen, versteckten Villen außerhalb der Stadt und lebten nur für uns und für dich, als du uns nach eineinhalb Jahren geschenkt wurdest.

Ich zeigte den Eltern deine Geburt an. Du warst ihr erster Enkel. Es kam kein Gruß und kein Glückwunsch zu mir. Ich war vergessen, mein Verlust verschmerzt. Nur mein kleiner zehnjähriger Bruder, der zärtlich an mir hing, kam eines Tages mit der Schulmappe auf dem Rücken ganz insgeheim zu mir, um dich zu sehen. Er wollte gar nicht wieder fort, und ich mußte alle Ueberredungskunst aufbieten, daß ich ihn nach Hause brachte. Er hat wohl den Eltern von mir und dir geplaudert, denn ich bekam ihn von da ab nie mehr zu Gesicht.

Als du drei Jahre alt warst, brachte man mir eines Abends meinen Mann, der mein einziger Halt im Leben war, tot nach Hause. Ein Blutsturz hatte seinem Leben ein jähes Ziel gesetzt. Mein Leid, Elemer, kannst du nicht ermessen. Du weißt nicht, wie sehr ich deinen Vater geliebt habe.

In meiner Verzweiflung, im ersten großen Schmerz und dem entsetzlichen Verlassensein suchte ich Zuflucht am Herzen meiner Eltern.

Ich hatte mich verrechnet. Sie wollten nichts mehr mit mir zu tun haben. Durch einen Diener wurde mir Bescheid, daß kein Platz für mich in ihrem Hause wäre. Ich hatte dich, mein Junge, und gab mich zufrieden. Aber nach kaum zwei Monaten waren meine Barmittel erschöpft. Ich mußte mich um einen Erwerb umsehen, wenn ich nicht wollte, daß du hungertest. Ich hätte nie geglaubt, daß es in dem großen Wien so schwer wäre, redliches Brot zu verdienen. Wochen lief ich von Tür zu Tür; ohne etwas zu bekommen, obwohl ich mich gerne jeder Arbeit unterzogen hätte. Schließlich wußte ich in meiner Not nicht aus, noch ein mehr. Es blieb mir nichts mehr übrig, als mit dir in den Tod zu gehen. Lange stand ich an einer der Brücken und sah in das schmutziggelbe Wasser, das die Donau mit sich führte. Mir war nicht bange, aber ich trug dich auf meinem Arm, und du hattest solch seliges Lächeln um den Mund und wußtest nichts von Tod und Sterben. Ein langes Leben lag noch vor dir.

Gegen Abend schleppte ich mich mit dir wieder zurück in unser Heim. Auf der Treppe zum Aufgang saß ein Mann und musterte uns forschend. Ängstlich wollte ich mich an ihm vorüberdrücken. Da kamst du mir nachgelaufen und reichtest ihm das Händchen. Im selben Augenblick hob er dich empor und drückte dich an seine Brust und dein Gesicht an seine Wangen. »Ihr seid es schon – ihr seid es schon,« stammelte er zwischen Lachen und Weinen.

Ich wollte dich aus seinem Arm befreien, aber er drückte dich nur noch fester an sich. »Laß mir das Kind,« bat er. – »Du bist Luise Radanyi und dein Mann war mein Sohn und der Bub ist mein Enkel. Ich glaube fast, ich bin zur rechten Zeit gekommen.«

Ich weiß nicht mehr, wie ich ins Haus gelangte. Sein Arm stützte mich vor dem Zusammenbrechen, so elend hatten mich Hunger und Verzweiflung gemacht. Er brachte uns zu essen. Du schliefst auf seinem Schoße ein. Da erzählte ich ihm, was ich im Begriffe war zu tun. Er war entsetzt und rückte enger gegen mich. Ich bat ihn, sich wenigstens deiner zu erbarmen und mich meinem Schicksal zu überlassen. Da griff er nach meinen Händen und strich unablässig darüber hin, während er sprach. Seit dem Tode meines Mannes hatte niemand mehr so gütig zu mir geredet.

»Ich nehme euch mit,« sagte er liebevoll. »Die Csarda hat Platz für euch beide. Und das Kind meines Sohnes wird eine Jugend haben, wie du sie ihm hier in der Stadt niemals würdest bieten können.«

So bin ich denn mit ihm gezogen und habe es nie zu bereuen gehabt. Du weißt und siehst, wie er mich auf den Händen trägt und dich mit mir. In all den vierzehn Jahren, die ich nun bei ihm wohne, habe ich kein böses Wort gehört. Nur Güte empfange ich von ihm vom Morgen bis zum Abend. Wir haben nie gedarbt, nie gedürstet, nie gehungert. Deine Kindheit war so voll Sonne, wie die Steppe im ersten Maien. Du hast nichts entbehrt, auch deinen Vater nicht, denn er ist dir jederzeit ein solcher gewesen.«

»Mutter!« Elemer war aufgesprungen und stand hochaufgerichtet vor ihr. »Mutter, wo ist der Großvater, daß ich ihm danken kann!«

»Gedulde dich, mein Junge!« Luise Radanyi hielt ihn an beiden Händen fest. »Laß dir nur erst sagen, wie du ihm danken kannst.«

»Ja, Mutter! – Sag rasch!«

»Er will, daß du dir nun dein Leben selbst zimmerst, es soll nicht später von dir heißen, wie es bei deinem Vater der Fall war, du seiest ein Zigeuner.«

Elemer lachte. »Was kann man dagegen machen, Mutter?«

»Er will dich fortbringen!«

»Mutter!« Das Knabengesicht erstarrte in Schreck und Abwehr. »Fortbringen? – Fort von hier? – Niemals.«

Zitternd vor Erregung stand er vor ihr. Seine Nasenflügel bebten. Die Augen glänzten feucht und ein schmerzliches Zucken ging um den schmalen Mund.

Luise Radanyi wollte nach seinen Händen greifen, aber er entzog sie ihr. »Sag doch, Mutter, wie denkst du dir dann das – das Fortgehen. – Kein Mensch kann das von mir verlangen. Großvater am allerwenigsten!«

»Was ereiferst du dich so, mein Bub?«

Die hohe, breitschultrige Gestalt des alten Radanyi schob sich unter die schmale Türe. Elemer vergaß jedes Wort der Begrüßung und eilte auf ihn zu. »Großvater, ist das wahr, was Mutter mir soeben gesagt hat?«

»Was hat sie dir denn gesagt?«

Der weißbehaarte Mann und die noch junge, hübsche Frau sahen sich verständnisvoll an.

»Daß ich fort soll,« stieß Elemer hervor.

»Ja, das ist wahr!«

»Dann – dann liebst du mich nicht – und ich – Großvater, ich glaubte, du liebtest mich!«

»Dein Glaube ist schon der rechte, mein Junge, aber eben weil ich dich liebe, mußt du weg von hier.«

»Und wenn ich nicht will?«

»Du mußt, Elemer!«

»Müssen?« Der Mund des Knaben blieb halb geöffnet.

»Ja.«

»Ich will aber nicht, Großvater!«

»Elemer ...«

Der Ruf blieb ungehört. Der Junge war bereits aus dem Zimmer gestürmt. Verwundert, beinahe erschrocken sah die Mutter ihm nach.

»Hast du dir das erwartet, Vater?« sagte sie beklommen.

»Ja. Luise. – Du nicht? – Er hat unser heißes Blut geerbt – Zigeunerart. – Aber mir ist nicht bange um ihn. Er hat auch dein gutes Herz mit auf den Weg bekommen. Er wird sich finden und dann von selber zurückkehren. Sei ohne Sorge. – Du sollst nicht weinen, Luise. – Die Vorwürfe, die er mir jetzt macht, sind nichts im Vergleich zu denen, die er mir später machen würde, wenn ich ihn immer hier behielte.«

»Und du verzeihst ihm, Vater? – Du trägst ihm nichts nach?«

»Wie kannst du fragen. – Dem einzigen Enkel! – Wo mir sonst nichts geblieben ist als du und er.«

Sie griff nach seiner Rechten und drückte sie gegen die Wange. Er strich ihr gedankenverloren das blonde Haar aus der Stirne, nickte schweigend und verließ ohne jedes weitere Wort das Zimmer.

Brennend rot fiel die Sonne im Westen. Immer tiefer rückte sie nach dem Rande des Horizontes. Scharf begrenzt schimmerten die Wassertümpel aus dem rostbraunen Boden. In ihnen spiegelte sich der glühende Himmel wie in einem schmutzigen Stück Spiegel. Der Hortobagy trieb die feurige Glut, die das Tagesgestirn auf ihn abfärbte, schleppend mit sich fort. Ganz ferne am Steppenrande stand ein riesiger, purpurroter Fächer, der Erde und Himmel unter seinen Strahlenmantel nahm. Allmählich erloschen die Farben. Nichts als eine langgestreckte Wolke blieb zurück, die einen feinen rosa Gürtel trug, der immer mehr verblaßte. Kein Ton drang in die tiefe, melancholische Stille. Breit, wie eine Riesenbrust in ruhig-gleichmäßigen Zügen atmet, lag die endlose Steppe, in festem, traumseligem Schlaf.

Ueber den schmalen, staubigen Weg, der die Weizenfelder wie ein schwefelgelbes Band durchzog, kam Elemer mit hängenden Schultern, den Kopf abwärts gesenkt, barhaupt, mit einem finsteren Zug im Gesichte.

Aus der Gaststube kam Lachen und Lärmen. Die Augenbrauen zusammengezogen, horchte er auf. Ach, er wußte nur zu gut, wie es jetzt in der Stube aussah. Auf den langen Bänken um den großen Tisch saßen die Bauern und die Knechte, die in der Runde wohnten. Sie hielten die kurze Tonpfeife im Mundwinkel und redeten, vielmehr schrien sich heiser, wie die Arbeitslöhne stiegen, was das Korn kostete und wie die Pferdepreise standen. Dazwischen tranken sie in langen Zügen von dem jungen Landwein, der in hochhalsigen Flaschen vor ihnen stand: Ihr Mund wurde immer beredter. Sie erzählten Schauermärchen, wußten etwas zu sagen von vergrabenen Schätzen, von Räubern und Mordgesellen, von Dieben, die nachts um die Csarda schlichen und nach den großen Stückfässern im Keller Durst verspürten.

Elemer hörte das gesunde, frohe Lachen seines Großvaters, der nicht an derlei Dinge glaubte.

Seine Zähne schoben sich fest übereinander. Der konnte lachen, während er wie ein Heimatloser über die Pußta schlich. Ungesehen gelangte er ins Haus. Hinüber in die Schenke.

Dort saßen die Zigeuner, bescheiden, wortkarg in die Ecke gedrückt und spielten ihre Weisen. Die Geige des Primas jubelte und schluchzte unmittelbar darauf hell hinaus, dazwischen sprangen die Hämmer des Cimbals, Klarinette und Flöte schmeichelten sich darein, Cello und Baß gaben den Grundton.

Dicht neben den zerlumpten Gestalten, fest an die Wand gedrückt, stand Elemer. Er machte eine gebietende Bewegung. Da schwieg die Musik mit einem schrillen Strich.

Er nickte dankend und wandte sich an den Primas: »Spiel mir ein Lied, das alles Leid der Erde in sich trägt.«

Der staunte ihn an: »Was weißt du von Leid?«

»Spiel!« kam es befehlend.

Ein Weinen klang durch das Dämmer. Wie das Schluchzen eines heimwehkranken Kindes klagte die Geige des Primas. Er hatte die Augen geschlossen und wiegte sich im Rhythmus. Ein Lächeln durchbrach den Schmerz, dann aber rann von neuem dieses erschütternde, seelenergreifende Weinen durch den Raum.

Elemer sank auf einen der Stühle und grub das Gesicht in die Hände. Dann hob er den Kopf. »Gib mir die Geige. Primas!«

»Hab ich nicht recht gespielt, Elemer?«

»Doch! – Aber mein Leid ist anders, als das deine!«

Er setzte den Bogen an. Ein Ton drang durch die Nacht der Steppe. Das war nicht Leid allein. Das war Zorn und Verzweiflung und jähes Aufbäumen gegen den Zwang des Lebens. Mitten im Spiel hielt er inne und warf dem Primas das Instrument zu. Im nächsten Augenblick war er aus der Schenke verschwunden.

Eine Stunde später schlich der Csikos an eines der hellerleuchteten Fenster der Schenke. Er sah sich in der Gaststube um. Ein eigenartiger Pfiff durchschnitt die Stille.

Der alte Radanyi hatte ihn trotz des Stimmengewirrs vernommen. Er kam heraus und blickte auf den Roßhirten.

»Was willst du?«

»Herr, was ist mit Elemer vorgefallen? Er hat sich eins der Pferde eingefangen und eine Decke als Sattel von mir geborgt. Was soll das?«

»Kümmerts dich etwa?«

»Ja, Herr! – Er sprach etwas von fortgehen und nicht wieder kommen, aber ich verstand ihn nicht.«

Radanyi erschrack. Der Junge machte Ernst und war zu allem fähig. Das hatte er nicht gedacht. »Halt ihn auf. bis ich komme! Wo ist er?« rief er dem Roßhirten nach.

»Dort, wo die Felder enden und die Weiden der Pferde beginnen, nahe dem Hause meiner Großmutter!«

Radanyi nickte, ging in die Schenke, stellte frischen Wein auf den Tisch und eilte dann hinter dem Csikos her. Je näher er der angedeuteten Stelle kam, desto rascher wurden seine Schritte.

Nun sah er im Licht des aufsteigenden Mondes ein Pferd an eine der Weißdornhecken gebunden. Dicht daneben eine Gestalt, die sich bemühte, eine Decke als Sattel auf dessen Rücken zu befestigen.

Mit ein paar festen Schritten stand Radanyi neben dem Enkel.

»Was tust du, Elemer!«

Ein von Schmerz verzerrtes Knabengesicht wandte sich ihm zu. Dem alten Manne gab es einen Stich durchs Herz. Mitleidig liebevoll legte er ihm die Rechte auf die Schulter.

»Bin ich dir keine Antwort mehr wert?«

Die schlanke Gestalt richtete sich in die Höhe. »Ich tue nur, was du mich geheißen hast: ich gehe!«

»Elemer ...«

Da brach sich das Leid in dessen Herzen Bahn: Die Worte überstürzten sich förmlich. »Ich habe geglaubt, du hättest mich aus Liebe zu dir genommen. Aber ich weiß jetzt, daß du mich nur duldetest meines Vaters wegen, aus Barmherzigkeit. – Ich will aber kein Almosen! –Auch von dir nicht! –« – Und dann ein wildes, aufbäumendes, verzweifeltes Schluchzen. »Großvater, warum sagst du mir erst heute, daß ich dir lästig bin?«

»Mir? – Lästig?« Ein Stöhnen kam aus dem Munde Radanyis. Die Lippen tonlos geöffnet, sah er den Enkel an und regte sich nicht. »Das wagst du mir zu sagen, Elemer? Frage deine Mutter, ob ich dich nur geduldet habe und ob du mir je lästig gewesen bist? Auf meinen Armen habe ich dich damals in die Pußta getragen, damit ich dich immer bei mir habe. Die sechs Wegstunden von Debreszin hierher gab ich dich nicht aus den Händen und habe jeden Tag gesegnet, an dem ich dich besitzen durfte und nun – nun behauptest du, daß du mir lästig bist!«

Er wandte sich um und ging mit hängenden Schultern nach der Csarda zurück.

Elemer starrte ihm nach! Verwirrt! Erschrocken. Was hat er gesagt? Es mußte etwas geschehen sein, das den Großvater bis ins Herz getroffen hatte. Das hatte er nicht gewollt! Das nicht. Er ließ die Zügel des Pferdes aus den Händen gleiten und sprang dem alten Radanyi nach. Mit einigen langen Sätzen hatte er ihn eingeholt. Bittend tasteten seine Finger von rückwärts nach den rauhen, rissigen des Greises. Aller Trotz, aller Zorn war aus dem jungen Gesicht verschwunden.

»Großvater!«

Radanyi verhielt den Schritt.

»Was Hast du mir noch zu sagen, Elemer?«

»Dich bitten, daß du mir verzeihst! Ich will ja gehen,« kam es schluchzend. »Ich will ja alles tun, was du haben willst, nur vergib mir. Ich wollte dir ja nicht wehe tun!«

Radanyi fuhr sich über die Augen. Das war ganz Blut von seinem Sohne und doch wieder nicht. Dieses weiche, empfängliche Gemüt hatte er von der Mutter vererbt bekommen. Es würde wohl einmal seine beste Habe im Leben sein.

Er nahm die zuckende Knabenhand zwischen seine große, schwielige und sprach liebevoll auf Elemer ein. »Sieh, mein Junge, du kannst es jetzt nicht begreifen, aber später wirst du einsehen, daß es nur Liebe war, die dich gehen hieß. Du nimmst ein Stück meines Lebens mit und deiner Mutter werden die Tage endlos sein, an denen sie dich nicht mehr sehen darf. Aber es muß sein, Elemer. Nicht die Liebe ist die größte, die in jeder Stunde alles gewährt, sondern das tut, was ihr am besten scheint. Du sollst später nicht sagen können: »Mein Großvater hat mir das Leben vorenthalten.« Das Leben, Elemer, das draußen in der großen Welt liegt, die du noch nicht kennst. Aber es wird dir gefallen! Ach, ich müßte dich ja nicht kennen, wenn es dir nicht gefallen würde!«

»Und wenn es mich nicht glücklich macht, Großvater?«

»Dann heißen vier Arme dich jederzeit willkommen hier in der Pußta!«

Elemers Augen liefen über.

»Wann willst du mich fortbringen, Großvater?«

»Das hat noch Zeit, mein Bub. Morgen werde ich zu Graf Warren hinüber gehen. Der ist ein welterfahrener Mann und wird Rat schaffen. – Und nun geh schlafen, Elemer!«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich kann noch nicht schlafen! Jetzt noch nicht!« Da sah er die sorgenden Augen des Alten. »Du brauchst dich nicht zu ängstigen, Großvater! – Wirklich nicht! – Ich komme ganz bestimmt und klopfe dir, wenn ich an deiner Stube vorübergehe. Du kannst ganz ruhig sein. – Bist du jetzt mit mir zufrieden?«

»Ja, Elemer!«

Er zog den Enkel an sich und strich ihm über die heißen Wangen. »Ich wollte dir heute etwas zum Geburtstag schenken, aber ich wußte nicht was, nun weiß ich es. Du sollst die Geige deines Vater haben, Elemer. Sie ist das Kostbarste, das ich dir geben kann.«

Elemer jauchzte auf und drückte beide Hände des Großvaters an die Lippen. »Ich danke dir! – Ich danke dir, Großvater!«

Ein Schilfsänger flötete im Röhricht, das um den Hortobagy rauschte. Elemer horchte auf. »Ich habe noch einen Weg zu machen, Großvater! Komm gut nach Hause!«

Der Alte sah ihm nach, wie er raschen Schrittes nach der Steppe hineinging, seine Gestalt wurde immer kleiner. Gedankenverloren sah er ihm nach. Er glaubte zu wissen, wohin der Enkel ging. Das war ganz Art von seiner Art. Die Zukunft zu wissen, war Zigeunerbegehren, – und doch – und doch – niemand hatte ihm, dem Alten, gesagt, daß er den einzigen Sohn so bald verlieren würde. Das Leben machte die Striche kreuz und quer, wie es ihm eben paßte. Immer wurde ein Zerrbild daraus.

Elemer lief plötzlich, was die Füße ihn trugen. Der Schilfsänger schwieg schon eine geraume Weile und die Großmutter des Csikos wartete auf ihn. Er verspürte mit einem Male eine brennende Neugierde, den Schleier von seiner Zukunft zu heben und zu sehen, wie sich sein Leben gestalten würde. Er glaubte fest an die Kunst der »Karin«. Sie war bekannt, daß ihr nichts verborgen blieb. Jung und alt kam des nachts zu ihr und ließ sich die Linien der Hand klar legen.

Wenn sie nur noch auf war. Aber auch wenn sie schon schlief, würde er sie wecken, er fand sonst keine Ruhe.

Auf einer Sanddüne, wo neben Brennesseln, Wolfsmilch und manneshohen Kugeldisteln, mageres Küchenkraut sein Dasein fristete, lag die Behausung der Alten. Ein niederes, armseliges Holzwerk, mit Schilf gedeckt, der Zaun aus Erde aufgeworfen, und stellenweise, wo dieser abgerutscht war, mit Schilf durchflochten. Das regte sich leise im Abendwind und machte ein Gesicht, als ob ein Dutzend Sensen durch überreife Aehren schnitte. Vor der Tür hingen auf einem Holzpfahl braunschwarze Krüge. Zwei halbnackte, sonnenverbrannte Kinder schliefen eng aneinandergedrückt an der Schwelle. Die Pferde weideten schnuppernd, weit verstreut. Vielhundertköpfig, wie sie waren, hatte der Csikos keine leichte Aufgabe, sie immer im Zaum zu halten.

Die Stuten drängten sich liebeheischend gegen die Hengste. Dazwischen sprengte der Roßhirt sattellos auf seinem Pferde, denn die Wildheit und stete Beweglichkeit seiner Schützlinge nötigte ihn, stets beritten zu sein. Der Rücken seines Tieres war ihm Tisch, Stuhl, Bett, und gerade die Nacht, welche den anderen Hirten Ruhe brachte, brachte ihm die meiste Arbeit. Da wandern und weiden die Pferde am meisten, und er muß immer die Runde um sie machen, muß sehen, daß keine freche Diebesbande ihm das beste Stück der Herde stiehlt, daß sie bei Gewittern und Regenschauern nicht blindlings über die Steppe rasen. Er hatte das Wams von Kalbleder und den Rock darüber mit einem Ledergurt um den Leib gebunden. Dreimal wand dieser sich wie eine Schlange um die untersetzte Gestalt. Die Münzen und Metallstückchen, welche er daran hängen hatte, klirrten leise aneinander wie fein abgestimmte Schellen, als er im gestreckten Ritt zur Hütte gesprengt kam.

Zweimal war er schon hier gewesen und immer war nichts von Elemer zu sehen. Was mochte es da gegeben haben? Hatte der Junge sich mit dem Großvater überworfen? Kaum möglich. Die beiden waren stets ein Herz gewesen.

Endlich gewahrte er Elemer. Er atmete auf. Es war demnach wieder alles im Geleise.

»Guten Abend!« sagte er erfreut und sah ihm forschend ins Gesicht, um herauszubekommen, ob der alte Radanyi verraten hatte, daß er ihn aus der Schenke geholt.

Elemer schien nichts zu wissen. Das beruhigte ihn. Er wollte es mit dem jungen Herrn nicht gern verderben, denn er war allzeit gütig gegen ihn gewesen, hatte sogar schon ab und zu »Pferdeknechtdienste« für ihn gemacht, wenn er für eine Stunde zu seiner Liebsten gewollt hatte, die am äußersten Rand der Steppe wohnte.

Lächelnd wies er mit der Hand nach dem Wagen, der mit einer Plane bedeckt hinter der Hütte stand.

»Großmutter wollte schlafen gehen! Aber ich habe sie gebeten, auf dich zu warten. Spute dich – und gib ihr nichts – es würde sie beleidigen von dir. Sie weiß, daß du stets gut gegen mich bist!«

Elemer nickte dankend. Als er näher an den Wagen kam, sah er im Mondlicht eine Gestalt darauf sitzen. Es war eine Frau, die ins Leere blickte, während ein Schäferhund seinen Kopf an ihrem Kleide rieb.

»Kusch, Verbaß«, sagte sie befehlend und drückte den Körper des Tieres leicht gegen sich. Der Hund gehorchte augenblicklich. Man sah nur noch das Weiße seiner Zähne, aber kein Knurren wurde mehr hörbar.

Elemer stieg beinahe ehrfürchtig die Stufen des Wagens zu ihr hinauf. Ohne seine Rechte zu erfassen, nickte ihm die Alte zu und zeigte auf die oberste Treppenstufe. Schweigend ließ er sich darauf nieder.

»Lange bist du ausgeblieben!« Es klang nicht ungehalten. Eher mahnend. Sie zog fröstelnd einen aus mehreren Fleckresten zusammengedrückten Schal um ihren hageren, ausgetrockneten Körper.

»Frierst du?« sagte Elemer. »Der Csikos soll dir morgen eine Decke bringen!«

Ihre Augen blickten zornig. »Willst du mich beschenken, noch ehe ich dir gedient habe?«

»Nein, Mutter Karin! – Aber was sollst du frieren, wenn du's warm haben kannst?«

»Du hast recht! – Es ist auch so, wie der Csikos, mein Enkel sagt: Du bist gut. – Aber die Linien deiner Hand sind es nicht!«

Sie sah aufmerksam auf die Verästelungen der schmalen, braunen Knabenhand, die in ihrem Schoße lag. Ihre Lippen wurden zu dünnen Strichen, ihre Augen sahen forschend von ihm hinweg zu den Sternen.

»Nirgends ist Lüge! Nicht hier, nicht dort! Seit Nächten sitze ich über dem Schicksal deines Lebens. Ich kann es deuten, wie ich will, es sind immer dieselben Wege.«

»Schlechte Wege, Karin?«

»Schlechte Wege? – Was verstehst du darunter? – Wenig Sonne! – Und Schatten – nichts, als Schatten, dann hast du recht!«

»Wenn dich die Sterne trügen, Mutter Karin?«

Sie lachte auf. »Sie trügen nicht! Du kannst dich drauf verlassen!«

»Hexenwerk soll's sein, wenn man darin lesen will!«

Sie lachte wieder. »Wer sagt dir das? – Ein neunmal Weiser! – Den schick mir und ich will's ihm lernen, was darin geschrieben steht!« Ihre Stimme wurde scharf und hell. »Glaubst du, der Schöpfer hat aus Kurzweil ihre Bahn gezeichnet und ihre Form und ihre Kreise? Zum Sonntagsvergnügen wohl für sich! – Die Dummen werden niemals alle. Und das ist gut! Wenn jeder Zweite in den Sternen lesen wollte, müßte jeder Dritte sich erschießen.«

»Karin, erklär mir's. Wie macht man es?«

Sie fuhr über sein Haar und dann über sein Gesicht, ohne ihn dabei anzusehen. »Beschwer dich nicht damit, Elemer. Viel Wissen bringt nur Leid.«

»Sag, Karin!« Der Junge rückte enger gegen sie.

Sie schob ihn nicht von sich. »Sieh, Elemer!« Sie nahm seine beiden, lebenswarmen Hände zwischen ihre kalten, knochigen und umschloß sie krampfhaft. »Jede Blume, jeder Baum, jeder Strauch, jede Frucht hat einen Zweck. Und die Sterne sollen keinen haben? Sollten da oben stehen, nur damit sie leuchten? Und wenn, wozu das Vielerlei der Form? Zu was? Damit der Mensch sie deute! Sein Geschick aus ihnen lese, wie der Schöpfer es ihm vorgezeichnet hat, als in einer Liebesstunde ein Mann und ein Weib den Keim zu seinem Leben legten!

Elemer fröstelte. »Ist es überhaupt der Mühe wert, daß man sein Leben lebt, Karin?«

»Ja! Jedes Leben ist wert, gelebt zu werden! Und wäre es ein Nichts, es steht eine Nummer dahinter. Meine Augen sehen das Etwas, das nach dem Ende kommt. Es ist so schön, daß alles andere vor ihm aufgewogen wird. – Gib mir deine Hand noch einmal, Elemer!«

Er legte ihr die Rechte in den Schoß, mit dem Handteller nach oben. Die Alte bog sich darauf herab, daß ihre Augen sie beinahe berührten. Dann hob sie unvermittelt den Kopf und sah ins Leere. In ihren Zügen war nichts mehr zu lesen.

Elemer sah fragend zu ihr auf. »Willst du mir nicht Näheres sagen? – Was liegt in meinem Leben, Karin?«

Keine Antwort.

»Karin!« drängte er bettelnd.

Abweisend sah sie ihn an und schob seine Hand achtlos von sich. »Armer Elemer! – Es ist besser, du weißt es nicht!«

»Was soll ich denn nicht wissen, Karin? – Sag mir's!«

Sie schwieg.

»Karin!« bat er von neuem und legte den Kopf an ihre Hüften.

»Geh jetzt, Elemer, und trag's, wie es kommt! Du kannst dich dagegen stemmen, wie du willst, es hilft dir nichts. Was in den Sternen und deiner Hand geschrieben steht, das bleibt!«

Er sprang auf, daß sie zusammenschrak, und setzte die Stufen hinab. Unweit des Wagens warf er sich in das knisternde Gras, wühlte die Hände in die harte, rissige Erde und preßte das Gesicht hinein.

Mit stierem Auge sah die Alte seinem Tun zu. Und wenn sie ihr Leben gab, sie konnte die Wege des seinen nicht ändern. Es mußte jeder tragen, was ihm bestimmt war.

Zwei Arme legten sich um Elemers schlanken Knabenkörper, ein erregter Atem ging über sein Haar, ein Körper drückte sich eng gegen den seinen.

»Elemer!« –

Der Junge rührte sich nicht.

»Elemer! –«

»Laß mich, Csikos!«

Tränen und Zorn klangen in der Stimme mit.

»Sei nicht bös, ich will dir nur etwas sagen!«

»Ich will nichts wissen mehr!«

»Gar nichts?«

»Nein!«

Elemer warf sich herum und fuhr mit dem Ärmel seines Rockes über beide Augen. Sieh nach deinen Pferden, – ich will allein sein!«

»Wenn du mich einmal brauchen solltest, Elemer.«

»Dich brauchen–?« Es kam stolz, abweisend. »Wozu?«

»Man weiß nicht, wie es kommt im Leben – du bist der Herr, und ich der Knecht – ich weiß es schon –«

»Ich hab's nicht so gemeint, Csikos – gewiß nicht!« Zwei Knabenhände hielten den Roßhirten an der Joppe fest. »Hol morgen eine Decke für deine Großmutter – ich hab's ihr versprochen, damit sie nicht mehr friert – und für die Raja hab ich eine Flasche Wein – und – und jetzt kannst du mir meinetwegen auch noch mitteilen, was du mir vorhin sagen wolltest!«

»Daß du immer auf mich zählen kannst, Elemer! – Und daß ich dir's nie vergesse, was du alles für mich getan hast!«

Elemer zuckte die Achseln. »Was du aus allem für ein Wesen machst, wo's gar nicht der Mühe wert tut, darüber zu reden!«

Die Pferde, welche bis dahin ruhig gegrast hatten, spitzten die Ohren, sie wieherten und stießen Töne durch die Nüstern, die man weithin pfeifen hörte.

Im selben Augenblick schnellte der Csikos auf, schwang sich an einem der Hengste hoch und hetzte mit dem Rudel in das Dunkel der Steppe hinein.

Elemer rief eine »gute Nacht« nach. Aber es verhallte ungehört. Nur die Stimme der Karin klang vom Wagen herüber, hell und mahnend:

»Nimm dich vor dem Raubzeug in acht! Die Pferde haben es gerochen und ich sah ihre Augen funkeln. Geh nach Hause, Elemer, und nimm den Stock hier mit.«

Gleichzeitig klatschte es neben ihm auf. Es war Karins eichene, gewundene Krücke, die sie ihm zugeworfen hatte. Er nahm sie mit einem Gefühl des Schauers und wog sie in der Hand. Man konnte wohl gut einem Wolfe den Schädel damit zerschmettern.

Aber er gelangte ohne jegliche Fährnisse nach Hause. Aus der Giebelstube rann das Licht des Großvaters auf den schmalen Weg. Es erlosch erst, als Elemer an der Türe des Alten geklopft hatte. Nun der Enkel zurück war, konnte er sich ruhig dem Schlummer überlassen.

Das erste Frührot stieg über den Steppenrand. Die Heidelerchen schwirrten geräuschvoll um das Dach der Csarda. Quickend und knarrend glitt der Wagen des Schafhirten durch das magere Gras. Die vieltausendköpfige Herde folgte trippelnd, links und rechts, vorne und hinten wohl bewacht. Dazwischen sprangen ein paar muntere, kluge Ziegen, welche der berühmten Tölpelhaftigkeit und Feigheit der Schafe als Beispiel des Mutes beigegeben waren. Elemer stand hemdärmelig unter der niederen Haustüre und erwiderte freundlich das ihm gebotene »Guten Morgen« der Hirten. Dann drückte er gegen eines der angelehnten Fenster der Stube und rief ins Innere. Aus der Küche kam Antwort.

Ein Knecht führte zwei Schimmel, die an einen niederen Korbwagen gespannt waren, vor den Eingang der Schenke und legte ohne zu fragen, die Zügel in Elemers Hand.

Gleich darauf erschien der alte Radanyi, eine bunt gestreifte Decke über dem Arm. Der Enkel nahm sie ihm ab und legte sie in den Wagen, ein verstecktes Lachen in den Augen.

»Der Csikos hat die Schimmel geschickt, Großvater!«

»Der Teufelskerl!« zürnte der Alte. »Ich habe gesagt, die Braunen!«

»Die Braunen sind Luder! – Die werfen um!«

»Mich nicht! –«

»Aber ich hätte mich gesorgt, Großvater! – Zank den Csikos nicht, – ich hab's gewollt!«

Radanyi lachte auf. »Dacht ich mir's doch.« – Ich kenn dich besser, als du glaubst, mein Junge!«

Er setzte den Fuß auf das Trittbrett und machte sich's im Wagen bequem. Sorglich legte ihm Elemer die Decke über die Knie. Während er die glatten Leiber der schlanken Schimmel tätschelte, legte er liebkosend seinen Kopf gegen einen von ihnen.

»Hast du noch Wünsche, Großvater?«

»Nein, Elemer!« – Dann sich besinnend: »Sorg, daß die Knechte die Tiere zur rechten Zeit zur Tränke führen und daß die Schläge nicht zu hart auf die Jungrinder fallen. Wenn die Zigeuner und die Bauern kommen, gib ihnen nicht von den großen Stückfässern zu trinken, sie vertragens nicht. Ich habe alten Landwein für sie zurechtgestellt, damit sich ihre Gemüter nicht zu sehr erhitzen. Wenn's dennoch so weit kommt, dann hol den Csikos, der hat Fäuste wie ein Hammer und lehrt sie trinken, ohne nebenbei zu raufen!«

»Ja,« sagte Elemer, und lachte. »Wir schaffens schon! Sorg dich nur nicht! Und küß die kleine Eve mit für mich – und gute Reise auch und schönen Mißerfolg!«

Die Pferde zogen an. Radanyi drehte sich halb im Sitze um und drohte lachend mit der Faust.

Als Luise wenige Minuten darauf aus dem Hause trat, sah man das Gefährt nur mehr als immer kleiner werdenden, beinahe stille stehenden Punkt weit draußen in der Steppe. Sie lehnte sich gegen den Sohn und hielt die Hand über die Augen, um besser sehen zu können.

»Guck, Mutter!« sagte Elemer und zeigte in die Weite.

Die De'libab, die Fatamorgana der Pußta trieb in der hitzegeschwängerten Luft ihr neckisches Spiel. In der Ferne, wo die Arme des Himmels sich auf die Brust der Erde stützten, winkten Städte, Bäume, Hirten und Herden verschwommen ineinander. Berge ragten in Dunst und Blau, Busch und Blattwerk spiegelte in weißen, silbernen Wassern.

»Mutter – wie schön!«

Da war es verschwunden.

»Wie schade, Mutter!«

»Genau, wie das Leben! – Kaum geträumt, ist es vorbei!« sagte Luise Radanyi und zog Elemers Gesicht an die Brust.

In der Ferne ließ die Sonne zwei glänzende Silberpunkte aufflimmern, die immer mehr ineinander verschwammen ... Es waren die beiden Schimmel, die über die braungebrannte Steppe rannten. Fest und sicher, ohne ihnen Einhalt zu gebieten oder sie in ihrer Bewegung zu hemmen, hielt Radanyi die Zügel in der Rechten.

Immer weiter jagten die Rosse. Immer größer wurde die Entfernung von der Csarda.

Hollundergebüsch und Weißdorn umsäumten stellenweise den staubig werdenden Weg. Hagebutten und Brombeergesträuch dehnten sich wie Zäune. Die Gegend belebte sich.

Männer gingen in Scharen. Ihr Schritt war schwer. Unter ihren Sensen fiel das niedere Gras und trocknete bereits im Niederfallen. Burschen und Mädchen schlichteten es zu Haufen und luden es auf die bereitstehenden Wagen.

Riesige, weißblühende Dornhecken zogen sich meilenweit als Grenze der einzelnen Besitzungen. Hinter ihnen leuchtete es schwefelfarben von goldenem Raps. Wo er abgeerntet war, wurden sofort Kürbis und Melonen an dessen Stelle gepflanzt. Sonnenblumen recken sich riesenhaft, die Häupter unter der Last der Körner tief geneigt. An den Rebstöcken hingen die Trauben in erster köstlicher Reife. Tabak bauschte sein Blattwerk in tropischer Fülle, und wartete nur auf das Eingeerntetwerden von Menschenhand.

Zwischen all diesem Reichtum, den die Natur hier schuf, tauchten die schloßartigen Umrisse eines Landhauses auf. Aprikosen und Pflaumenalleen dehnten sich, die Ueberfülle des Astwerkes wurde durch Stützen hochgehalten. Wo ein Stück weißlich angehauchter Salpeterboden brach lag, schimmerten leuchtende Nachtnelken in entzückender, verschwenderischer Farbenpracht.

Auf dem breitausladenden, massiven Giebel stand ein Storchenpaar, und hob sich mit schwerem Flügelschlag landeinwärts. Kreischend stoben die Schwalben auseinander und strichen um das blaue, feuchtglänzende Schieferdach.

Radanyis Wagen rollte klappernd durch die grob gepflasterte Einfahrt. Eine schwarz gebrannte Gestalt sprang herzu und griff nach den Zügeln. Radanyi warf sie ihm lachend zu und weidete sich an dem Erstaunen des jungen Menschen. Er war früher bei ihm Rinderhirte gewesen und durch seine Empfehlung in die Dienste des Grafen Warren gekommen.

»Wie geht es dir, Ccega?« »Gut, Herr! – Es ist nirgends besser wie hier. Die Bäume, die Blumen, das Obst, die Tränke, – alles ist besser wie in der Pußta. Nur der Wein, Herr, – der ist nirgends so gut wie bei dir.«

»Warum kommst du dann nicht öfter, dir welchen zu holen?«

»Man hat Weib und Kind! – Herr, da kann man nicht mehr wie man will!«

Er lachte dabei über das ganze Gesicht.

»Seit wann bist du verheiratet, Ccega?«

»Seit drei Jahren, Herr! – So lange bist du nicht mehr hier in der Tanja gewesen!« Er zählte an den Fingern nach.

Ueber die breiten, etwas ausgetretenen Stufen, welche zum Landhause hinaufführten, kam ein lichtes, weißes Etwas gesprungen. Blondes Gelock tanzte um das sanft gerundete reizende Kindergesicht. Das ganze, schlankgliedrige Körperchen wippte.

Radanyi fing es mit beiden Armen auf.

»Kleine Eva Maria, wie bist du groß geworden!«

»Nicht wahr, Vater Radanyi? – Schon bis hierher!«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte sich und reichte dem Alten doch bis kaum an den Brustansatz.

Er strich liebkosend über die blonde Lockenfülle: »von Elemer soll ich dir einen Kuß bringen, Eve Mi!«

»Ja?« – Sie bot ihm den kleinen, feuchtroten Mund und sah ihm dabei strahlend in die Augen. »Warum hast du ihn nicht mitgebracht?«

»Vielleicht kommt er bald!«

»Ohhh!« Sie klatschte in die Hände, faßte nach einer der seinen und schob die ihre dazwischen. Neben ihm her sprang sie die Treppe hinauf. »Weiß Vater, daß du kommst, Großvater Radanyi? – Nein? – – Dann laß dich nicht melden. Du mußt ihn überraschen.«

Sie überquerte einen der breiten, weißgedielten Gänge, klopfte an einer Türe, schob den Gast hinein und verschwand kichernd.

Aus einem der geschnitzten Stühle erhob sich die breitschulterige Gestalt des Grafen Warren. Beide Hände streckte er dem Ankömmling entgegen.

»Lieber Radanyi! – Das heiß ich Freude machen! – Ich wollte ja schon längst hinüber nach der Pußta – aber die Ernte jetzt! – Immer gibt es wieder etwas, das mich hält. – Wie geht's der Schwiegertochter? – Gut! – Dem Enkel auch? – Das hör ich gerne.«

Er schob für Radanyi einen bequemen Stuhl herbei und drückte ihn dann hinein. »Wie lange sind Sie hier? – Bis zwei Uhr nur? Schade! – Wir werden früher essen!«

Ein Klingeln zerriß die Stille im Flur. Ein Diener kam und blieb abwartend an der Türe stehen.

»Den Mittagstisch so bald als möglich. Herr Radanyi ist Gast. – Für jetzt vom alten Tokaner und ein gutes Frühstück!«

Geräuschlos klappte die Klinke ins Schloß.

Warren lehnte sich etwas in seinen Stuhl zurück und musterte Radanyi mit einem gütigen Lachen. »Wo fehlts? – Macht der Junge Sorgen? – Denn eine Sorge ist es, die Sie zu mir treibt!«

Radanyi nickte. »Elemer muß fort!«

»So?« – kam es verwundert. – »Weshalb denn? – Frauen? – Nein –, das hab ich mir gedacht. Mit achtzehn Jahren wärs noch etwas früh! – Was ist es dann?«

Radanyi rückte mit seinem Anliegen um den Enkel heraus.

Der Graf hörte schweigend zu, nickte ein paar mal und streifte gedankenverloren die weiße Asche seiner Zigarre in den Achatbehälter.

»Ist Elemer musikalisch?« unterbrach er Radanyis Rede.

»Ja, doch«, kam es eilig. »Wenn er dem Primas die Geige aus der Hand nimmt, lauschen sogar die Bauern in der Gaststube auf das, was er spielt!«

»Dann ist es gut! – Ich habe einen Vorschlag, lieber Radanyi! – Schicken Sie mir den Enkel. – Ich nehme ihn mit nach Wien zu Meister Haller. Der wird einen Künstler aus ihm machen!«

Der Alte atmete auf. »Und wann wird das sein, Herr Graf? – Ich meine, wann Sie reisen.«

»In spätestens sechs Wochen. Wenn Eva Marias Klasse beginnt, möchte ich zu Hause sein.«

»Schweigend drückte der Alte die Hände Warrens. »Wie kann ich Ihre Güte wieder wett machen, Herr Graf?«

»Ist alles wett gemacht, mein Freund. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die von heute auf morgen vergessen, was sie Gutes empfangen haben. – Glauben Sie, ich wüßte nicht mehr, daß ich Ihr Schuldner bin?« – Er zog einen abwehrenden Schnitt durch die Luft, als Radanyi ihn unterbrechen wollte. »Wissen Sie noch, damals als junger Fant, – als ich noch Händel liebte und das Spiel und die Frauen – Gott ja, was liebt man nicht alles mit dreiundzwanzig Jahren – da hab' ich einmal gezecht in der Csarda – schwer – und gespielt – auch schwer geflirtet, um die Bella, das einzige »blonde« Steppenmädchen, das dem Rinderhirten gehörte! Und der wollte mich dann erschlagen und sie haben mich in rabenschwarzer, regenströmender Gewitternacht zu sich auf den Teufel von Hengst genommen, den sonst keiner reiten konnte und haben mich mit heiler Haut an die Station gebracht und sind bei mir geblieben bis der Früh-Zug ging und haben mir meinen Berg von Schulden gestundet, damit mein Oheim nichts erfuhr und mich in Wien nicht vor die Türe setzte. So was vergißt sich nicht, Radanyi. Ich muß noch danken, daß Sie mir endlich einmal Gelegenheit geben, ein bißchen was von dem gut zu machen, was ich Ihnen schulde.« Er ließ den goldfarbenen Wein in sein und des Gastes Glas fließen. Er floß wie Oel. Mit feinem Klinkel stießen die Gläser aneinander. »Also, es bleibt dabei! Der Enkel kommt mit mir nach Wien und ist Gast in meinem Hause. – Er wird wohl groß geworden sein, der junge Mann! – Haben Sie meine Tochter schon gesehen, lieber Radanyi? – Nicht wahr, sie ist reizend geworden und macht mir viele Freude!«

Die Türe öffnete sich für einen Spalt. Eva Marias lachendes Kindergesicht guckte herein. Dann kam das ganze Persönchen ins Zimmer gesprungen und schmeichelte sich auf die Knie des Vaters. Warren drückte es zärtlich an sich. »Was meinst du mein Sonnenschein, haben wir noch für jemand Platz in unserem Hause in der Herrenstraße?«

»Genug, Vater!«

»Dann können wir also Elemer zu uns nehmen?«

Sie fiel ihm um den Hals, dann dem alten Radanyi. Ihre Freude kannte keine Grenze, sie mußte wissen, wann und wie lange und brachte beim Mittagstisch kaum einige Löffel Spargelsuppe über die Lippen, so hatte die Nachricht sie erregt.

Es wurde doch später mit der Abfahrt, als Radanyi es gewollt hatte. Die Turmuhr der Tanja schrie knarrend die vierte Nachmittagsstunde, als sein Wagen aus dem Tor rollte. Die Strecke war weit. Gut zwölf Stunden Wegs. Die Nächte waren kalt, und Kälte war seinem Alter nicht mehr zuträglich. Er hatte kaum mehr als die halbe Strecke zurückgelegt, da sah er einen Reiter in gestrecktem Galopp ihm entgegenkommen.

»Elemer!« Der Alte richtete sich im Sitze auf. Der Junge kam ihm rasch entgegen.

»Ist etwas nicht in Ordnung, zu Hause?«

»Doch! – Doch! – Was sorgst du dich Großvater! – Aber mir war bange um dich!«

Er sprang ab und gab dem Pferde, das ihn getragen hatte, einen Klapps gegen die Hinterschenkel. Es stürmte landeinwärts. Elemer sah ihm nach und verfolgte die Richtung, die es nahm. Befriedigt stieg er in den Wagen und griff nach den Zügeln.

»Mach dir's bequem, Großvater, du wirst müde sein!«

»Du fragst nicht einmal, Elemer?«

»Was soll ich fragen? – Ich seh dir's an, deine Reise hat Erfolg gehabt!«

»Bist du traurig darüber?«

»Nein! – Ich habe dir versprochen, zu tun, was du haben willst. – – Und die Karin – –«

»Was ist es mit der Karin?«

»Sie sagt, man müsse alles tragen, wie es kommt. Das Sträuben und das Nichtwollen nützt alles nichts. Es kann keiner über sein Geschick hinweg!«

Radanyi nickte und lehnte sich in die sammetgraue Polsterung zurück. Während Elemer den Weg im Auge hielt, sah der Alte unverwandt nach dem Enkel. Was würde das Leben diesem bringen? Er schrak gedankenverloren auf, als Hundegebell an sein Ohr drang. War man schon so nahe an der Csarda? Gleich darauf drang deren Lichtschimmer durch die fahlgraue Dämmerung. Aber die Entfernung täuschte. Radanyi kannte das. Das Grau des Dämmerns vertiefte sich zu schwarzem Sammet. Die ganze Steppe, so weit das Auge reichte, schien ein einziger gähnender Schlund zu sein. Melancholisch raunte und rauschte das Schilf, welches den Hortobagy umsäumte. Immer enger umspannte das Dunkel das Gefährt. Nur die Leiber der Schimmel leuchteten daraus hervor. Plötzlich schien die ganze Steppe von einem blendend blauen Licht übergossen. Ein Rollen rann über sie hin und machte Erde und Himmel erschüttern. Elemer wandte sich gleichzeitig mit dem Großvater nach rückwärts.

»Heija! – Lauft, was ihr könnt!« Elemers Peitsche glitt wie ein Kosen leicht über die Rücken der Pferde. Deren Hufe berührten kaum mehr den Boden.

Irgendwo flammte es auf! Schweigend! Drohend! Ein kaum hörbares Murmeln folgte. Dann Stille! Eine Stille, die grausam war, die kein Ende zu nehmen schien. Und dann ein Ton, als ob klappernde Knochenhände in den Eingeweiden der Pußta wühlten. Große Tropfen fallen. Vereinzelt erst. Im Schwefelgelb der Blitze wirken sie wie Iris. Näher rinnt das Licht der Csarda. Die Pferde fliegen. Aus der offenen Türe der Schenke fließt ein breiter Strahl, verwebt sich mit dem Rot, das über dem Himmel flammt.

»Stopp!« Die Pferde stehen wie eine Säule. »Großvater spring, daß du nicht unter das Geprassel kommst.«

Elemer hält schützend beide Hände über den Kopf. Die Hagelkörner fallen wie Erbsenregen und klatschten auf das Pflaster des Hofes, über den er die braven Schimmel nach dem Stalle führt.

»Hast's gut gemacht – ganz gut!« Er tätschelt jedem den Hals und läßt sie den Zucker aus der offenen Hand zermalmen. Dann legt er das Gesicht gegen ihre aneinandergedrängten Köpfe und weint. Ein lautloses, erschütterndes Weinen.

»In sechs Wochen muß er fort! Und dann würde es nie mehr so sein, wie es gewesen war. ... Nie mehr!«

Aus den sechs Wochen wurden nur drei. Warren mußte dringender Geschäfte halber nach Wien. Zwei Tage vorher kam ein reitender Bote nach der Csarda und bestellte, daß Elemer sich für den übernächsten Abend bereit halten solle. Der Graf würde seinen Wagen schicken.

Elemer wehrte erschrocken. Nein – nein – er würde reiten, noch ein letztes Mal über die Pußta jagen auf seinem Braunen, der ihn seit den Kindertagen geschaukelt hatte. Und der Csikos sollte ihm das Geleite geben. – Der Csikos, der ihm gezeigt hatte, wie man ein Pferd zwischen die Schenkel nimmt, wie man Pfeile schnitzte und Wölfe überlistete, der ihm kleine, süße, rote, wilde Himbeeren brachte, so viel er nur wünschte, ach und noch tausend anderes, was es nur am äußersten Rande der Steppe gab, wohin Elemer selten kam.

Am Spätnachmittag der Abreise saß Elemer auf einer der Bänke in der Herrenstube und sah unverwandt nach dem kleinen Fenster, durch welches das weiche Rot des Abendhimmels hereinfloß. Ein frischer Wind trug wirbelnd seinen grauen Staub über die Pußta. Er machte die Ferne bleich und dunstig. Die Weite verschwamm in einem leichten, hauchdünnen Schleier, aus dem die Wolkenmassen des Horizontes gelb-violett hindurchschimmerten.

Totenstille herrschte im Hause und auch von draußen kam kein Ton. Die Steppe streckte sich aus zur Ruhe der Nacht, erschöpft, übermüdet, von der unendlich verzehrenden Hitze des Tages.

Als der Großvater die Stube betrat, rückte Elemer etwas zur Seite, um ihm neben sich Platz zu machen. Die Erregung desselben zeigte sich in dem Druck, mit welchem er die schmalgeformte Knabenhand umklammerte. Er vermochte nicht zu sprechen, nur seine Finger legten sich immer fester um die des Enkels.

»Mach mir's nicht so schwer, Großvater,« bat der Junge.

»Ist es dir schwer? – Sag, Elemer, – dir auch? – Ich fürchte, mir reißt's die Seele entzwei. Ich möchte meine ganze Habe geben, wenn ich dich hier behalten dürfte!«

»Du hast es in der Hand gehabt. – Ich tu nur, was du willst, Großvater!«

»Ja! Und es ist das Rechte. Du wirst mir's danken. Elemer. Nach Wochen wirst du nicht mehr begreifen können, wie du deine Tage hier verbringen konntest.«

Er griff in seinen Rock und zog aus dessen Innentasche ein Paket, das er sorgfältig in ein blaues Tuch gewickelt hatte.

»Das ist für dich, mein Bub. Du sollst nicht darben und keines Menschen Schuldner sein. Kein Almosen soll dich drücken, von wem es auch immer sei. Ich werde alles begleichen. Das habe ich auch mit dem Grafen Warren vereinbart. – Du bist Gast in seinem Hause! Kein, Bettler!«

Der Kopf Elemers fiel auf die Tischplatte. Er griff, ohne aufzusehen, nach den zitternden, schwieligen Händen, die über sein Haar strichen und drückte sie gegen die Lippen.

Luise Radanyi trat ein. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet und verschwollen. Seit Nächten fand sie keine Ruhe mehr. Sie gab ihr alles, wenn sie ihr Kind in die Fremde schickte. Aber sie bot alle Selbstbeherrschung auf, um dem Sohne das Scheiden nicht zu schwer zu machen.

Elemer erhob sich, sah die beiden Augenpaare, die bisher so treu über seinem Leben gewacht hatten, mit Tränen auf sich gerichtet. Mit einem Stöhnen brach er vor den beiden Menschen in die Knie: »Großvater segne mich ... Mutter ...«

Seine Worte waren nicht mehr verständlich. Das Gesicht in beide Hände gedrückt, zuckten seine Schultern in lautlosem Weinen.

Beide Hände legte Radanyi auf den dunklen Scheitel seines Enkelsohnes.

»Mein Segen sei mit dir! Heute und immer! Alles, was dich glücklich machen kann, möge der Gott, der die Pußta grünen läßt, dir geben. – Komm, Elemer.«

Er hob ihn mit festen Armen empor. »Sie wollen noch alle Abschied von dir nehmen.«

Elemer sah sich um. Von draußen kamen Stimmen durch die Stille. Alles was der Csarda benachbart war, alle Knechte und Mägde, die nicht gerade einen dringenden Dienst zu versehen hatten, waren gekommen, Elemer Lebewohl zu sagen. Mehr als ein Dutzend Hände streckten sich ihm entgegen, als er unter der Türe trat. Er wollte darnach greifen und traf in's Leere. Seine Augen verschwammen.

Einer der Knechte hielt den Braunen. Elemer schwang sich in den Sattel.

»Willst du schon reiten?« sagte die Mutter und bahnte sich den Weg zu ihrem scheidenden Kinde.

»Ja, Mutter, es ist Zeit!«

Radanyi hielt die Zügel in den Händen. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Er wollte sprechen, aber es waren nur abgerissene Worte, die Elemer auffing: »Was auch das Leben dir bringen mag, – hier wirst du immer deine Heimat finden.«

Er nickte und drückte die Hand des Großvaters zwischen den seinen. Das Gesicht von Luise Radanyi war ohne jeden Tropfen Blutes. Noch konnte sie den Sohn zurückhalten, noch war er ihr eigen, – aber es blieb alles ungesprochen.

Das Pferd bäumte sich mit einem Male hoch auf. Es schäumte vor Ungeduld. Elemer nahm die Zügel an sich. Seine Rechte hob sich:

»Vergeßt mich nicht!«

Dann drückte er leicht gegen die Flanken des Braunen. Mit einem Satz schoß es vorwärts und dann hinein in den dämmernden Abend. Niemand rührte sich von der Stelle. Alles sah ihm nach, wie es kleiner und kleiner wurde, nun gesellte sich ein zweiter Reiter dazu. Es war der Csikos, der Elemer begleitete und das Pferd wieder zurückzubringen hatte. Luise Radanyi atmete auf. Er war in sicherer Hut.

Von ihrer Hütte aus sah Karin dem Scheidenden nach und nickte schweigend: »Die Sterne und die Linien seiner Hand, sie sagen eins! – Armer Elemer!«

War das Wien? Das lachende, lockende Wien, von dem die Mutter ihm in der letzten Zeit so viel erzählt hatte? Elemer fürchtete sich beinahe. Er saß neben Eva Maria in dem Kraftwagen und hielt ihre linke Hand fest.

Er hatte nur das eine Gefühl, hier konnte er nicht bleiben. Nicht um alles. Diese Steinmassen, die sich da links und rechts neben ihm auftürmten, erdrückten ihn. Er war gewohnt, den Himmel wie eine Glocke über sich zu sehen, und hier bekam er kaum einen Streifen Aeterblau zu Gesicht. Und dieses Ueber-, Neben- und Durcheinander. Ganz Wien schien sich in dieser einen Straße versammelt zu haben. Wo kamen all die Menschen her? Wo krochen die nachts unter? Woher nahmen all die vielen zu essen und zu trinken?

Warren sah ihm lachend in die Augen: »Wie gefällt es Ihnen, lieber Radanyi?«

Elemer schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Herr Graf. Ich habe so viele Leute noch nie beieinander gesehen. Nur Pferde, Rinder und Schafe.«

Eva Maria drückte kichernd ihre Wange gegen seine Schulter. »Aber es ist schön! Nicht Elemer?«

»Nein!« sagte er ehrlich und schloß für einen Moment die Augen. Jeder Wagen und jedes Auto, das ihm entgegenkam, glaubte er mit dem ihren zusammenprallen zu sehen. Und dann war es mit einem Male ganz sachte vorbeigeglitten und es hatte weder Arm- noch Beinbruch gegeben. Die Menschen lachten, sprachen, liefen, und rannten sich doch nicht gegenseitig über den Haufen, wie er fürchtete. Es rief, klingelte, hupte, hundert Töne schrillten ineinander, verschwammen und schrillten wieder auf. Es wurde ihm schwindelig dabei. Das würde er nie lernen können, sich durch all das Gewühl zu schlängeln, ohne nicht im nächsten Augenblick zu Brei zermalmt zu werden.

Wenn das der Csikos sähe! – der Csikos, der gleich ihm noch nie über die Pußta hinausgekommen war. Er würde schreiben, daß man ihn wieder heimholte. Das stand fest.

Das Auto bog vom Zentrum ab in die stille vornehme Herrengasse. Das sinnverwirrende Getöse verstummte und machte einer wohltuenden Ruhe Platz. Elemer atmete auf. Sein Blick wurde weniger scheu. Palast reihte sich an Palast. Weltabgeschieden stand jeder für sich in der Schwüle des Spätsommertages.

Der Wagen hielt. Ein hohes, von weißen Marmorsäulen getragenes Portal rundete sich. Hastend kam ein ergrauter Diener durch dasselbe und öffnete den Wagenschlag. Elemer hüpfte heraus und hob Eva Maria aus den Kissen. Als letzter folgte Warren.

Er hieß Elemer eintreten und reichte ihm beide Hände.

»Noch einmal willkommen in meinem Hause, lieber Radanyi. Ich hoffe, es möchte Ihnen eine zweite Heimat werden!«

Elemer sah ihm, ohne ein Wort zu sagen, in die Augen. – Vielleicht blieb er doch. Es war ihm mit einem Schlage so ganz anders zumute. Hier fand er es sogar wundervoll. Feierliche Stille herrschte in der großen Halle, durch deren Kuppel das Licht der Abendsonne in weich abgetönten Reflexen fiel. Ein leiser Hauch von Duft schwang sich darüber, von irgendwoher kam ein feines Klingeln, als ob aus weiter, weiter Ferne eine Glocke zum Gebete rief. Im Vorübergehen strich er tastend über das seidig glänzende Haar eines Bären. Es knisterte leise.

»Vater hat ihn selbst geschossen! – Nicht wahr, Vater!« sagte Eva Maria und zog Elemer mit sich nach der breiten, teppichbelegten Treppe, die zum oberen Stockwerk führte.

Er wurde nicht fertig mit Staunen. Alles war anders als zu Hause in der Pußta. Wiederum bekam er ein Gefühl der Angst und der Unsicherheit.

Warren winkte einem Diener. »Führen Sie Herrn Radanyi auf seine Zimmer. Wenn Sie sich etwas ausgeruht haben, lieber Elemer, wird Eva Maria Sie holen zum Abendtisch!«

Er nickte ihm freundlich zu, verschwand hinter einer Tür.

Elemer würgte es in der Kehle. Er hätte am liebsten Kehrt gemacht, zurück – die Treppe, hinunter durchs Tor, die Straße entlang, woher er gekommen war und wieder heim in die Steppe. Aber der Diener ging neben ihm und schritt an seiner Seite den breiten Gang entlang, machte vor einer Flügeltüre halt und ließ den Gast eintreten. Dann klappte die Klinke in's Schloß.

Er war allein.


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