Josephine Schneider-Foerstl
Die Liebe des Geigerkönigs Radanyi
Josephine Schneider-Foerstl

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Bankier Ballin lag erschöpft auf der Ottomane seines großen Arbeitsraumes, der auf die Terrasse nach dem Park zu ging. Er hielt das Börsenblatt in der rechten und die Zigarre zwischen den Fingern der linken Hand. Aber sie glühte nicht mehr. Er sog daran, ohne es so recht eigentlich zu merken. Als seine Frau in das Zimmer trat, legte er mechanisch Zeitung und Zigarre auf das Tischchen nebenan.

»Nun?« Alice beugte sich über den Gatten und strich ihm das leichtergraute, dunkle Haar zurück.

Er zog sie mit beiden Händen zu sich nieder und küßte sie. »Gottlob, daß wir wieder allein sind. Ich sage ja gewiß nichts über deinen Bruder und nehme auch die kleine Ellen noch gerne mit in den Kauf. Aber die Lawine, die sich hinter beiden herwälzte, das war beinahe unerträglich! – Mir wenigstens ist der Trubel schon auf die Nerven gegangen.«

Die junge Frau lehnte sich lachend gegen ihn und er rückte bereitwillig etwas gegen die Wand, um ihr Platz zu machen.

»Es tut mir leid, Egon –«

»Er tut dir eben nicht leid, mein Liebes. Ich glaube, es ist dir fast ein Bedürfnis und ich merkte, daß du überglücklich warst, das Haus bis an den Dachfirst voll Gäste zu haben. – Mir war es gräßlich! Ich habe auch Elemer nicht begriffen. Der schwamm mit in diesem Durcheinander und ließ sich schöne Worte sagen und zu guter Letzt ist er jetzt so weit, daß er eben das Versprechen, hinüberzukommen, nicht mehr zurücknehmen kann. Er hat mir gestern gesagt, er würde dieser Tage reisen. Haller fährt schon morgen. Sie geben zusammen in Hamburg noch ein oder zwei Konzerte!«

Alice Ballin legte die Wange gegen die Stirne des Gatten. Ihre Hände strichen über sein schmales, glattrasiertes Gesicht. »Er wird reich werden drüben!«

Ballin nickte. »Er ist es schon!«

»Liegen seine Gelder bei dir?«

»Ja!«

»Du hast sie doch vollständig sicher angelegt?«

»Du kannst beruhigt sein. – Ganz sicher!«

»Man hört ...«

Sie hielt inne. Er liebte es nicht, in Geschäftssachen mit ihr zu sprechen. Heute fing er selbst davon zu reden an.

»Es kriselt beängstigend!«

Sie sah ihn erschrocken an: »Das heißt?«

»Es kracht bedenklich,« vervollständigte er.

Sie wurde ganz weiß. »Egon! – Wenn wir wirklich auch zu Fall kommen, nicht wahr, das tust du mir nicht an, daß du auch die Hand wider dich hebst, wie der Bankier Lubert!« Sie preßte ihn aufweinend mit beiden Armen gegen sich. Er legte die seinen um ihren Körper. Sie fühlte, wie erregt sein Atem ging.

»Was bliebe mir sonst übrig, geliebtes Weib?«

»Ich!« sagte sie noch immer weinend und ließ ihn nicht frei.

Er hob ihr Gesicht empor. »Sei ohne Sorge. Wir stehen so fest wie je. Ich brauche nicht einmal mit deinem Gelde zu rechnen!«

»Nimm alles! Harald gibt dir, so viel du benötigst!«

»Ich danke dir, mein Liebes. Aber ich benötige nichts. Wirklich nicht. – Nur – es ist schrecklich. Ein Geschäftsfreund hat es mir gestern anvertraut. Dir Firma Gersdorff steht knapp vor dem Sturz.«

Sie schrie beinahe auf. Gersdorff war eine der ersten Banken. Die Ballins unterhielten regen Verkehr mit der Familie. Alice preßte die Hände ihres Mannes gegen ihre Brust. »Zieht er viele mit sich ins Unglück?«

»Unendlich viele. Es wird eine Menge von Selbstmorden geben in Wien und auswärts. Auch – auch – Ich kann dir den Namen heute noch nicht sagen, Alice – nein, nein, ich kann nicht. Es wird womöglich sein ganzes Hab und Gut unter den Hammer kommen ... Und wird doch alles umsonst sein. Wenn ihm nicht einer unter die Arme greift, wird er zum Bettler!«

Sie frug nicht. Er hatte scheinbar in der Erregung schon mehr gesagt, als er sagen wollte, denn er schob sie von sich und bat, sie möchte ihn ein bißchen allein lassen jetzt. »Bei Tisch bin ich dann wieder bei dir, kleine Frau!« Er drückte seine Lippen auf ihre Hand.

»Darf ich Elemer zu uns bitten für die paar Tage, die er noch in Wien ist? –«

Er nickte »Ja, tu's. Dann hast du auch Gesellschaft und ein bißchen Ablenkung. Ich werde viel im Geschäfte sein müssen.«

Sie küßte ihn und dann noch einmal und wieder. Er sah ihr nach, wie sie über die Stufen der Terrasse nach dem Park ging. »Armer, kleiner Hascher!« Sie war doch recht erschrocken. Was das verwöhnte Kind des Petroleumkönigs Anderson etwa mit einem Mann tun würde, der Bankrott machte. Sie liebte ihn. Er wußte es. Und doch! Man saß wohl gerne mit einem Fürsten in der Kutsche, wurde dieser aber zum Bettler, dann sträubte man sich, mit ihm an ein und derselben Karre zu ziehen. So war es schon immer gewesen.

Elemer kam am Nachmittag und versprach, für die letzten zwei Tage Wohnung in der Cottage zu nehmen. Haller war dann ohnedies schon in Hamburg. Der Stefan saß seit vorgestern bei seiner Schwester im Spital und konnte und wollte nicht weg von ihr, da sie im Sterben lag. So war er ganz sein freier Herr.

Das war am Montag gewesen. Am Mittwoch gegen Abend siedelte er dann zu Ballins über. Der Freitag war zur Abreise festgesetzt.

»Soll ich dir noch Gäste laden?« frug Alice Ballin, als sie an seiner Seite durch den Park ging!

»Um Gotteswillen Tante, verschone mich damit!«, sagte er entsetzt. »Du glaubst nicht, wie ich übersättigt bin. Ich habe beinahe Angst wenn ich jemand begegne, daß er mich einlädt. Es war zuviel, was ich in diesem Sommer an Diners und Soupers und Nachmittagsgesellschaften mitgemacht habe. Ich habe einen ganzen Ekel davor.«

»Aber sonst, – ich meine, wenn du irgend jemand Lieben hast, den du noch gerne um dich haben möchtest –« Sie beobachtete ihn forschend.

»Nein –.« Aber die Hast und die Härte, mit der er dieses Nein gesprochen hatte, verrieten ihr, daß es doch nicht so ganz stimmen mochte, was er sagte.

»Hast du in der Herrenstraße bereits Abschied genommen?« sondierte sie nach echter Frauenart.

»Ja!«

»Ist Warren nett zu dir gewesen?«

»Ich habe niemand angetroffen,« gab er Auskunft. »Der Graf ist verreist und die Komtesse war zu einem Tee geladen.«

Er sah von ihr weg in den Park und nagte an seiner Unterlippe.

Also da saß der Haken. Alice Ballin hatte das sofort heraus. Der dumme Junge. Das ließe sich ja ganz ohne weiteres arrangieren, daß die beiden noch zusammentrafen.

Gleich am anderen Morgen überbrachte der Chauffeur ein Kärtchen in die Herrenstraße, ob Alice Ballin sich freuen dürfe, die Komtesse bei einem Glas Tee so gegen fünf Uhr bei sich zu sehen. Antwort hatte sie erbeten.

Eva Maria sagte zu. Sie drückte beide Hände gegen das Gesicht und weinte. Vielleicht, wenn sie Glück hatte, sah sie ihn dort. Zuerst würde sie ihn bitten, daß er ihr das unselige Wort verzieh, und dann wollte sie ihm auch erklären, wie sie in Gellerns Haus kam. Haller hatte er es ja nicht geglaubt. Sie zitterte dem Abend entgegen, kaum, daß sie Ruhe fand, ihrem Vater ein paar Zeilen zu schreiben, der nach der Tanja gereist war. Sie war nicht mitgekommen diesmal, da sie um keinen Preis Wien verlassen wollte, das Wien, in dem der Mann ihrer Liebe seine Tage verbrachte, ohne sich um sie zu kümmern.

Als sie durch den Park kam, hörte sie sein Lachen. Sie verhielt den Schritt und lehnte sich gegen eine der Rotbuchen, die den Weg säumten. Es wäre ihr unmöglich gewesen, ihm im nächsten Augenblick gegenüberzutreten. Seit Wochen hatte sie sich nach dieser Minute gesehnt und nun empfand sie Furcht vor ihm. Furcht vor dem Menschen, der ihr das Liebste auf Erden war, den sie in ihren Kindertagen so unzählige Male umarmt und geküßt hatte und der einst um sie weinte, als sie ging. »Elemer!« stammelte sie.

Zu ihren Füßen rauschte das Laub, das die ersten Herbststürme von den Bäumen gerüttelt hatten. Ganz in blutfarbenes Rot war es getaucht. Dazwischen leuchtete es ab und zu goldfarben auf, der wilde Wein, der die Terrasse der Villa umklammerte, brannte in allen Tönen. Und darüber ein mattblauer, wolkenloser Spätsommerhimmel, der all das Sterben auf Erden mit seiner letzten, wärmenden Sonne verklärte. »Sterben!« – Eva Maria faltete die Hände ineinander. Wenn alles, alles zu Ende war, wenn er kein Erbarmen hatte mit ihrer Not, wenn er vergessen konnte, was sie ihm noch vor ein paar Wochen gewesen war, dann war es besser ...

»Komtesse stellen wohl Allerseelenbetrachtungen an?« sagte Gellerns Stimme hinter ihr. Er war auf dem gleichen Wege wie sie durch den Park gekommen, aber sie hatte seinen Schritt überhört.

Sie fühlte die jähe Röte, die ihre Wangen glühen machte. Seit jenem Abend, als sie bei ihm läutete, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Er hob ihre Hände empor und küßte sie. Sie schloß die Augen und wußte nicht weshalb. Sein Blick hatte sie erschreckt. Ganz unverhohlene Zuneigung lag in demselben ausgesprochen. Er deutete alles zu seinen Gunsten. Ihr Erröten, das Hilfesuchende in ihren Augen. Alles in seinem Inneren jauchzte auf. Nun würde er nicht mehr lange allein sein und die arme, stille Dulderin in seinem Hause würde in Bälde eine Tochter an ihrem Herzen halten, die Tochter, nach der sie sich so sehr sehnte.

»Sind Komtesse auf dem Heimweg?« frug er so gelassen als möglich.

Sie verneinte. Sie wäre eben erst gekommen. Sie sei zum Tee geladen. »Das trifft sich gut!«, meinte er ahnungslos. »Ich habe Frau von Ballin Grüße zu bestellen von ihrem Bruder, den ich bei ihr kennen lernte, und dem ich vorgestern in Berlin begegnet bin! Wir haben dann einen Weg.«

Er ging an ihrer Seite nach dem Hause. Sie schleppte sich nur mehr. Nun war alles zu Ende. Wenn Elemer sie an Gellerns Seite kommen sah, half kein Bitten mehr und kein Erklären. – Nichts! – – Sie empfand auch keine Furcht mehr. Es war alles ganz gleichgültig, was nun kam. Für sie war jedes Hoffen vorüber.

Sie sah nach dem verglutenden Weingeranke der Terrasse und griff mit den Händen nach dem rotsprühenden Blattwerk.

»Es ist wundervoll, dieses zur Ruhe gehen der Erde!« sagte Gellern. »Alles trinkt sie noch einmal in vollem, tiefem Zuge. Das Licht, die Wärme, die Kühle der Nacht. Sie hat wahrhaftig gelebt!«

Eva Maria nickte wortlos. »Ja, sie hatte gelebt, – und sie, sie hatte nichts als gedarbt, wenn sie sich zur Ruhe legte.«

Sie strauchelte auf den Stufen, die zum Hause emporführten. Gellerns Arm stützte sie eilig.

Sie sah empor, geradewegs in Radanyis Augen, der auf dem obersten Absatz der breiten Steintreppe stand.

Ohne ihr die Hand zu reichen, verneigte er sich. Dann begrüßte er Gellern mit einem spöttischen Zucken im Gesichte. »Ich denke, die Herrschaften werden erwartet,« sagte er höflich kühl. »Meine Tante ist bereits in ihrem Teezimmer!«

Eine knappe Verbeugung, ein flüchtig-gleichgültiger Blick in Eva Marias weit geöffnete, tödlich erschrockene Augen, dann ging er ohne Eile die Stufen hinab nach dem Park und verschwand zwischen den Büschen und Sträuchern.

Eva Maria fühlte, daß ein Arm sich um sie legte. Und dann hörte sie Alice Ballins Stimme. »Das macht diese Spätherbsthitze, Baron Gellern. Ist Ihnen nun wohler, Komtesse?«

Ihr war ganz wohl. Sie fühlte überhaupt nichts. – Es war ja alles vorbei jetzt. – Alles zu Ende. – Sie trank ihren Tee, sie nahm von dem Gebäck aus der Silberschale, ohne davon zu kosten. Worte klangen an ihr Ohr und blieb doch keines im Gedächtnis haften.

Gegen sieben Uhr empfahl sich Gellern. Alice hatte Eva Maria aufgefordert, noch zu bleiben. Sie war verärgert über Elemer. Es war doch rücksichtslos, einfach zu verschwinden und sich ganze zwei Stunden nicht mehr blicken zu lassen. Sie hatte nach ihm geschickt, aber er war nicht aufzufinden gewesen.

Als er zum Abendtisch erschien, machte es den Eindruck, als wollte er am liebsten wieder durch die kaum geöffnete Türe rückwärts gehen. Aber die so lang geübte gesellschaftliche Form siegte über das momentane Empfinden. Er verbeugte sich tadellos korrekt. Ein Gedanke blitzte in ihm auf. Ein einziges Wollen erfüllte ihn urplötzlich. Quälen würde er sie diesen Abend, alles das sagen, was sie bis ins Innerste verwundete. Tausendfach wollte er ihr heimzahlen, was sie ihm angetan hatte. Ganz klein und demütig mußte sie werden und wenn sie dann kam, zu bitten, zerbrach er sie unbarmherzig. Eine wahre Wollust, das auszuführen, erfüllte ihn. Er nahm seinen Platz neben ihr ein. Als ob er vorher vergessen, sie entsprechend zu begrüßen, hob er ihre Rechte hoch und küßte sie. Sein Blick tauchte in den ihren, tausend Hoffnungen erweckend. Er sah, wie ihre Wangen sich färbten, wie ihre ganze Seele sich vor ihm auftat. Der goldfarbene Tischwein floß in ihr Glas. Er goß das seine voll und hob es ihr entgegen:

»Zum Abschied, Eve Mi!« flüsterte er und neigte sich zu ihr.

Sie wurde weiß bis in die Lippen. »Wohin gehst du?«

Er hatte geglaubt, kalt bis ins Herz hinein sein zu können. Aber die Frage, vielmehr der Ton, in dem sie gesprochen war, erschütterten ihn. Aber dann kam diese teuflische Lust, sie zu quälen, von neuem. Was hatte sie ihm nicht alles angetan in diesen paar Wochen. Beinahe zum Säufer war er geworden. Seine Nächte waren schlaflos, ins Ausland flüchtete er sich, um sie nicht mehr an Gellerns Seite sehen zu müssen. An allem trug sie die Schuld! An dem ganzen zerstörten Leben, das vor ihm lag.

»Wohin gehst du?« frug sie nochmals und sah ihn an.

»Ich habe mich zu einer einjährigen Tournee durch Amerika verpflichtet. Wenn es mir gefällt, gedenke ich drüben zu bleiben.«

Er weidete sich an ihrer Qual. Er sah das Zittern ihrer Hände, die tiefe Blässe, die befürchten ließ, sie würde jeden Augenblick vom Stuhle sinken. Aber es schien ihm noch immer nicht genug. Es dünkte ihm nur ein Hundertstel von dem, was er gelitten hatte damals, als sie am Arm des anderen aus dem Garten kam. Er konnte nicht vergessen. – Er konnte nicht. – Jetzt und nie!

»Hast du Nachricht, wie es Harald geht?« wandte er sich an seine Tante! »Die kleine Ellen, dieser entzückende Kobold, hat mir geschrieben, wir hätten nun doch noch Luxuskabinen bekommen auf der »Deutschland«! Ich weiß nicht, wie dieser famose, süße Bengel das fertig gebracht hat. Denn es war nichts mehr zu haben, als ich bei der Direktion des Lloyd anfrug!«

Ballin lachte. »Die bringt noch mehr fertig, als das. Ich möchte wissen, was ihr nicht glückte, wenn sie nur will!«

Elemer erschrak nun doch über Eva Marias Aussehen. Leichenhaft blaß lag ihr Mund zwischen den schmalen, farblosen Wangen. Jetzt fällt sie, dachte er, und hob bereits die Hand, sie zu stützen. Aber sie fiel nicht. Ihr Wille, sich nicht wieder so zu zeigen wie am Nachmittag, hielt sie aufrecht. Ein gräßlich bohrender Kopfschmerz stellte sich ein, der ihr das Bleiben unerträglich machte. Beinahe unvermittelt erhob sie sich und bat, Frau von Ballin möchte nicht böse sein, es sei ihr so eigen zumute und sie wäre eine so schlechte Gesellschafterin heute. Ein andermal würde man gewiß zufriedener mit ihr sein.

»Sie armes Kind!«, sagte Frau von Ballin liebevoll. »Bleiben Sie doch bei uns. Wenn Ihr Vater verreist ist, können Sie das ja ganz ruhig machen. Wir telephonieren in die Herrenstraße, daß Sie hier die Nacht verbringen, damit man sich dort nicht sorgt.« Sie drückte auf die Klingel. »Sie sollen ein Zimmer nach dem Park zu haben, Komtesse. Dort ist es vollkommen ruhig. Nichts wird Sie wecken. – Wollen Sie?«

Eva Maria bejahte. Es kam langsam, schwer. Nur ein Fleckchen haben, wo sie baldmöglichst ruhen konnte. Sonst würde wieder dieses grauenhafte Dunkel sie überfallen, wie am Nachmittag.

Sie reichte dem Bankier die Hand. Er wünschte ihr einen gesegneten Schlaf, der alles Unpäßlichsein verscheuchte. Dann streckte sich ihre Rechte Elemer entgegen.

»Gute Nacht, Herr Radanyi!«

»Gute Nacht, Komtesse. – Wir sehen uns nicht mehr, ehe ich reise? – Ich fahre morgen mit dem ersten Frühschnellzuge!«

Sie sah ihn verständnislos an, ihre Gedanken liefen die letzten drei Jahre zurück. Hin zu dem Abend, wo sie Abschied genommen hatte von ihm. – So ganz, ganz anders als heute. Wenn sie noch einmal die Arme um ihn legen dürfte wie damals. Es war alles vorbei.

Ohne ihm geantwortet zu haben, ging sie aus dem Zimmer. Alice Ballin schob ihren Arm durch den Eva Marias. »Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer, Komtesse. Sie nehmen noch ein Migränepulverchen und legen sich dann ganz flach. Bis morgen ist alles gut!«

Elemer sah den beiden nach, bis sich die Türe hinter ihnen geschlossen hatte. Er überhörte, was Ballin frug.

»Was seufzt du so?«, sagte der Bankier. »Hast du Liebeskummer?«

»Ich?« Radanyi lachte gezwungen und stürzte ein Glas Wein auf einen Zug hinunter. »Hast du irgendwie Einblick in Gellerns Verhältnisse, Onkel?«

Ballin sah ihn überrascht an. »Gellern? – Wie kommst du darauf? – Interessiert dich das?«

»Ja!«

»Genaues kann ich dir natürlich nicht sagen. Nur was man so spricht. Schon seine Pferde allein repräsentieren ein Riesenvermögen. Seine Mutter ist eine Scengeryi gewesen. Die Scengeryi sind im Geld beinahe erstickt, – früher – wie es jetzt ist, weiß ich nicht. Der Besitz in Ungarn ist ihnen für alle Fälle verblieben. Er geht dem Werte nach in die Millionen. Er fällt, soviel ich gehört habe, einmal an Gellern. Ein armer Teufel ist er also sicher nicht.«

Radanyi biß sich die Lippen wund. Ballin sah ihn forschend an. »Ich weiß nicht, wo du mit deiner Frage hinaus wolltest, Elemer, aber wenn du so weiterverdienst, wie die letzten drei Jahre, kannst du dich ruhig einmal neben ihn stellen!«

Radanyi seufzte nochmals auf. Er wollte etwas sagen, aber Alice kam zurück und berichtete, sie habe Eva Maria gleich selbst zu Bett gebracht. Sie tue ihr so furchtbar leid. Ganz wachsfarben liege sie in den Kissen.

Radanyi suchte seine Gedanken zu konzentrieren, aber es war ihm unmöglich. Gellerns Vermögen – Eva Marias leichenblasses Gesicht, Reue, daß er so herzlos gehandelt hatte an ihr – Eifersucht, Verlangen, sie noch einmal im Arm zu halten, alles lief wirr durcheinander.

»Komm,« Alice steckte ihren Arm durch den seinen. »Wir wollen noch einmal spielen zusammen!«

Sie ging mit ihm in das anstoßende Musikzimmer und schlug den Flügel auf. Er nahm unlustig seine Geige aus dem samtgefütterten Behälter und stimmte sie rein. »Was soll ich spielen, Tante?«

Sie nannte eines der Lieder, die man drüben in Amerika so häufig zu hören bekam.

»Es liegt schon in meinem Koffer, Tante, soll ich es holen?«

»Ja, Elemer. Aber geh leise, bitte. Eve Maria schläft in dem Zimmer gegenüber dem deinen. Wenn sie wach wird, ist mein ganzes Migränepulver umsonst gewesen!« Sie sah ihn dabei mit stummem Vorwurf an.

Er stieg die teppichbelegte Treppe hinauf und obwohl der Bodenbelag im Korridor keinen Laut hörbar werden ließ, schlich er auf den Zehen den matterhellten Gang zurück. Vor Eva Marias Zimmer machte er Halt und lehnte sich gegen den eichenen Rahmen. Seine Wange drückte sich an die Füllung. »Gute Nacht, du – gute Nacht!« Beide Hände faltete er über dem harten Holze: »Vergib mir – vergib mir, sag doch, ob du mir vergeben hast! –« Leise knarrte das Holz der Schwelle. – Erschrocken trat er zurück und legte den Kopf von neuem dagegen. – »Laß dich noch einmal sehen, Eve Mi, süße, kleine Eve Mi – dann kann ich es nimmer für ein ganzes, langes Jahr – Hast du mir denn nichts mehr zu sagen!? – Nichts!? – Du weißt doch, wie ich dich liebe – du weißt es doch.«

Ein Schritt von irgendwoher ließ ihn auffahren. Er schlich hastig nach seinem Zimmer und sah noch einmal nach ihrer Türe zurück. Sie blieb geschlossen und doch lag das Glück seines Lebens dahinter, das er aus den Händen hatte gleiten lassen.

Er fuhr sich über die Augen und drückte die Türe seiner Räume behutsam hinter sich zu. Aus seinem Schlafzimmer kam das mattrosa Licht der Nachtampel. Die Perlvorhänge, welche die beiden ineinandergehenden Zimmer trennten, glitzerten schillernd auf. Er hob die Hand, sie zurückzuschieben und ließ sie wieder sinken. Seine Augen weiteten sich in Schreck und Ueberraschung. Er zog den Atem lautlos durch den halbgeöffneten Mund, als könnte dessen Hauch ihm zum Verräter werden. Vor seinem Schreibtisch stand Eva Maria und drehte geräuschlos den Schlüssel des Mittelfaches. Sie sah sich um. Es blieb alles ruhig. Sie begann die Schubfächer zu öffnen und legte seine Briefschaften heraus, dann verschloß sie wieder alles mit einer Lautlosigkeit, die jedem Diebe Ehre gemacht hätte. Sie schien nicht zu finden, was sie suchte. Radanyi las die Enttäuschung in ihrem Gesichte, als sie sich umwandte.

Dicht an ihm vorbei – ihr Arm streifte die Perlen – ging sie nach dem Mahagonisekretär in der Ecke und ließ den Klapptisch herunterfallen. Das Räumen und Suchen begann von neuem.

Ein maßloser Zorn stieg in Radanyi auf. Alle Weichheit fiel von ihm ab. Was hatte sie in seinem Eigentum zu wühlen? – Was suchte sie? – Dokumente, die sich auf seine Geburt bezogen? Glaubte sie, er sei ein Kind der Schande? – Fahndete sie nach Liebesbriefen, die sie in seinem Besitze wähnte?

Er achtete nicht mehr auf das Klirren der Perlen. Eva Maria überhörte es vollkommen. Er sah, wie sie alles wieder zurücklegte und hastend etwas zwischen die Falten ihres Kleides schob.

»Verzeihung, Komtesse, wenn ich störe!«

Mit einem kaum unterdrückten Schrei wandte sie sich um. Als sie sich ihm gegenübersah, brannte ihr Gesicht in grenzenloser Scham. In dem seinen aber stand nichts als Kälte und Verachtung.

Er trat einen Schritt zurück, um ihr den Weg an sich vorüber frei zu machen. Beide Arme zog er dabei gegen seinen Leib, um sie nicht zu streifen.

Sie sah es und zuckte zusammen. Einen Augenblick zögerte sie. Dann glitt sie vor ihm nieder.

»Vergib mir – daß ich dich bestohlen habe!«

Ihr Kopf lag gegen seine Knie, ihre Schultern zuckten. In ihm war alles Aufruhr. Mit beinahe rohem Griff hob er sie an beiden Armen hoch und drückte sie schonungslos an die Schmalwand des Zimmers. »Was suchtest du bei mir!«

Sie fühlte seinen Atem dicht an ihrem Gesichte. »Was du suchtest,« keuchte er. – »Ist das andere alles noch nicht genug? Das andere? – Daß du zu Nacht in Gellerns Haus läufst und – und –« er wagte es trotz allem nicht, ihr den Schimpf ins Gesicht zu schleudern. – »Der Zigeuner war dir nicht gut genug – ein Herrenreiter ist ein anderes Ding und seine Milliarden stehen hinter ihm, – das ist es – das ist es – das hast du gewußt. Um sein Geld hast du alles vergessen, – alles – die Kindertage, mein Warten die ganzen langen Jahre! – Getrunken habe ich, in den Spelunken bin ich gesessen, und an allem bist du schuld – an allem du!«

Er ließ sie plötzlich los. Sie taumelte. »Laß mich gehen. Elemer!« Sie hing mehr gegen die Mauer, als sie stand, »Laß mich gehen!« wiederholte sie.

»So geh doch! – Warum gehst du nicht? – Zu ihm, nicht wahr, zu ihm. Er wohnt ja gar nicht weit!«

Sie wollte einen Schritt nach vorwärts machen. Lautlos fiel sie ihm gegen die Schulter. Im nächsten Moment taumelte sie wieder empor. Mit zitternden Fingern griff sie in die Brustfalten ihres hellen Abendkleides. Ohne ein Wort zu sagen, legte sie, was sie darin verborgen hatte, in seine Hand.

»Ich – wollte ja nur ein Erinnern an dich!«

Er sah, daß es ein Lichtbild von ihm war. Eines aus der allerletzten Zeit. Mit einem Ruck schleuderte er es auf den Tisch. Seine Gestalt wuchs vor ihr auf, dann sank sie zusammen.

»Geh, Eve Mi! – Geh! – Es ist ja nun doch alles zu Ende. – Ich bins ja nicht wert!«

Er schlug die Hände vor das Gesicht.

Sie umschloß seinen Körper mit beiden Armen. »Elemer! – Elemer! – Muß denn das alles sein? – Warum hast du mir denn so furchtbar weh getan? – So furchtbar weh! – Du hast es doch gesehen, wie ich gelitten habe. – Und hast dich nicht erbarmt. Und weißt doch, wie lieb ich dich habe – immer schon!«

Sie zog ihm die Hände vom Gesichte und umschloß seine Wangen. »Wenn ich schuld bin an allem, wie du vorhin sagtest, dann will ich ja gut machen, wie ich kann. Das unselige Wort von damals bitt ich dir ab, alles –«

»Eve Mi – Eve Mi!« Er hob sie in die Arme, wie ein Kind. »Das ist es alles nicht, mein Mädchen. – Nur daß du bei ihm warst – das, das hat mich halb wahnsinnig gemacht. – Warum hast du mir das getan?«

Er hatte sie nach dem schmalen Ruhebett getragen, das quer in der Ecke des Zimmers stand. Er bettete sie bequem und kniete daneben nieder, den einen Arm unter ihren Rücken gelegt, während seine Rechte ihre kalten Finger umklammert hielten.

»Was hast du bei Gellern gemacht? Sei ehrlich, Eve Mi – es geht um das ganze Glück meines Lebens.«

»Elemer.« Ihr Blick hing an dem seinen. »Ich habe dich damals bei Ballins gesucht. Du warst nicht da. Ich ging zu Fuß, weil ich allein sein mußte mit all meiner Last. Da hielt einer auf der anderen Seite der Straße mit mir Schritt, hin und her, wie ich auch lief. Vor Furcht drückte ich auf die nächste Eingangsglocke. Ich wußte ja nicht, wer darinnen wohnte. Da kam Gellern und brachte mich zu seiner Mutter und dann nach Hause. – Elemer, wäre es dir denn lieber gewesen, wenn ich dem anderen Unbekannten in die Hände gefallen wäre?«

Er legte wortlos sein Gesicht in ihren Schoß. Aber es war ihm noch nicht genug. »Und heute, du – heute, bist du wieder an seiner Seite gekommen!«

»Durch einen Zufall, Elemer. Im Park erst. Ich kann ja nichts dafür – –!«

Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Er sprang auf und beugte sich über sie und überschüttete sie mit der ganzen haltlosen Leidenschaft seines heißen Blutes, das doch wiederum von dem vererbten Feinempfinden der Mutter gezügelt wurde. Sie lag bleich wie der Tod mit geschlossenen Augen und wehrte ihm nicht. Unter den geschlossenen Wimpern aber rannen die Tropfen unablässig auf sein Gesicht und seine Hände.

»Sieh mich doch an, mein Mädchen!« bettelte er innehaltend. »Sieh mich doch an. Morgen hast du mich ja nicht mehr!«

Sie hob ihm beide Hände entgegen. »Bleib, Elemer!«

»Ich kann ja nicht!« Er saß neben ihr und bettete ihren blonden Kopf in seine beiden Hände!« »Ich habe unterschrieben, Eve Mi. Wenn ich nicht reise, bin ich kontraktbrüchig!«

Sie sah ihn an, öffnete zu einer ungesprochenen Frage den Mund und blickte dann an ihm vorbei.

»Was wolltest du mir sagen, mein Liebes?« drängte er. »Ich muß es wissen!«

Ein kurzes Zögern und ein feines Rot auf den Wangen frug sie ohne einen Ton des Vorwurfes: »Wer ist die kleine Ellen, mit der du reisen wirst?«

Er blieb ernst und liebkoste ihre Hände. »Sie ist die Tochter des Newyorker Großindustriellen Pier van der Veldt. Nichts für mich, mein Mädchen. Ein Kobold. Kein Kamerad fürs Leben. Weißt du, wie es in ›Dreizehnlinden‹ heißt?«

»Dunkel ist die kleine Tora – doch ich liebe blonde Locken. Blonde Locken, licht und sonnig – Wie der Flachs an Freias Rocken.«

Er ließ Eva Marias lichtes Haar schmeichelnd durch seine Finger gleiten.

Sie legte die Arme um seinen Hals und drückte sich verängstigt an ihn: »Elemer! – Was wird aus mir, wenn du mich vergißt!«

»So niedrig schätzt du mich ein, Eva Maria? – Habe ich dich vergessen, als du nach Schottland gingst? – Damals warst du noch ein Kind. – Und heute – heute bist du meine Braut, die auf mich wartet, bis ich sie holen komme. Ich komme, Eve Mi. So wahr der Himmel über der Pußta steht, so sicher kannst du auf mich rechnen. Glaubst du mir das?«

»Ja!« sagte sie vertrauend. »Schenk mir zum Gedenken an dein Wort das Bild, um das ich dich bestehlen wollte.«

Er erhob sich, ging nach dem Sekretär und entnahm ihm die gesamten Photographien, die er dort aufbewahrte. Alle, ohne Ausnahme legte er in ihren Schoß. Während sie eine nach der anderen in stiller Seligkeit betrachtete, schrieb er mit seinen steilen Buchstaben eine Widmung auf die Rückseite des Bildes, das auf dem Tische lag.

»Meiner heißgeliebten Braut zum treuen Gedenken – Elemer.«

»Ist es so recht, Eve Mi?« frug er, es ihr hinüberreichend.

Sie streckte ihm beide Hände entgegen. Er ergriff sie hastig: »Schwöre mir, daß du mein Weib werden willst. Daß du auf mich wartest. Daß du dich keinem anderen gibst, solange ich fort bin!«

»Ich schwöre es dir, Elemer!«

Sie hatte sich von dem Ruhebett erhoben. Auge in Auge standen sie. Er prägte sich jede Linie ihres Körpers ein. »Daß ich dich wieder finde!« fagte er, »wenn ich komme und du wolltest dich vor mir verstecken!«

»Elemer!«

Er nahm sie ganz zart und behutsam nochmals in seine Arme.

»Behüt dich Gott, mein Mädchen. Wenn dir das Warten schwer wird, dann denke, ich habe es drei Jahre ertragen. Und war in Ungewißheit, ob ich dich je besitzen würde. Du aber weißt, daß ich dich liebe und daß du ohne Bangen hoffen kannst!« Er wischte ihr leise die Tränen fort. »Weine nicht, Eve Mi! Mein Herz und meine Seele, alles lasse ich bei dir. – Küsse mich noch einmal und sage mir, daß du mir vergeben hast, was ich dir getan habe!«

Sie nickte nur.

»Alles, du armes Lieb?«

»Alles –,« stammelte sie.

»Ich danke dir. Und nun geh!« Er schob sie von sich. »Jede Minute macht es schwerer.«

Ein Schritt wurde im anstoßenden Zimmer hörbar.

»Elemer!« In maßlosem Schrecken und jäher Scham suchte Eva Maria bei dem Geliebten Deckung.

In raschem Besinnen schaltete er die Beleuchtung aus und drückte sie auf das Ruhebett. Dann verließ er den Raum.

Beinahe gleichzeitig schoben er und Alice Ballin die Perlvorhänge zur Seite. Jedes Staunen im Gesichte.

»Tante – Du?«

»Elemer, was machst du denn so lange? Ich habe mich gesorgt.«

In seiner überströmenden Bräutigamsseligkeit küßte er sie auf Mund und Wangen. »Du Gute! Nun komme ich ja schon!«

»Wenn ich wüßte,« sagte sie ahnungslos, »daß es die Komtesse nicht stört, würde ich Nachschau halten, ob ihr jetzt wohler ist.«

Sie sah das jähe Rot nicht, das bis an seine Stirne hinaufflog. »Ich denke, Tante, es ist besser, wenn sie ruhig weiter schlafen kann. Vielleicht ist morgen alles gut und kann ich ihr noch einmal Lebewohl sagen.« Er hatte es so laut gesprochen, daß Eva Maria es hören mußte. In seinem Inneren aber schämte er sich grenzenlos. Nicht mit einem Wort hatte er die Geliebte nach ihrem Wohlbefinden gefragt. Morgen würde er gewiß nicht darauf vergessen.

Unten im Musikzimmer empfing ihn Ballin mit einem forschenden Blick. »Wo steckst du denn, Elemer? – Du hast wohl geschlafen?« Er schüttelte den Kopf. »Nur geträumt, Onkel.«

Die Geige zur Hand nehmend, bat er Frau von Ballin, ihn zu begleiten. Er hatte als Lied die »Zuversicht« von Maase aufgeschlagen. Schon bei den ersten Tönen, die durch das offene Fenster in den Park drangen, hatte Eve Maria, die unbehelligt in ihr Zimmer geschlüpft war, die ihren aufgerissen. Noch nie hatte sie ihn spielen gehört, seit sie von Schottland zurück war. Beide Hände hielt sie, wie zum Gebete gefaltet. Sie wußte, das Lied galt ihr und niemand sonst. Leise sprach sie die Worte dazu:

»Und bist du fern, im fremden Land,
so soll mich das nicht kränken.
Und drückst du mir auch nicht die Hand,
so wirst du an mich denken;

Denn, der den Schwalben Heimweh gab
und Nachtigallen Lieder,
Der führt auch dich bergauf, bergab
und bringt dich einst mir wieder.

Und wärst du jahrelang auch fort,
so dürft mein Herz nicht zagen,
Und schriebst du mir kein einzig Wort,
so wollt ich drum nicht klagen;

Denn der den Schwalben Heimweh
gab und Nachtigallen Lieder,
Der führt auch dich bergauf, bergab
und bringt dich einst mir wieder.«

Die Töne waren verklungen. Beide Hände gegeneinandergepreßt, weinte sie sich in Schlaf.

Der Morgen brachte Elemer eine bittere Enttäuschung. Er hatte so sicher gehofft und die halbe Nacht davon geträumt, die Braut noch einmal zu sehen. Aber ihre Fenster waren geschlossen und die gelben Jalousien noch zur Hälfte herabgelassen. Und vor der Auffahrt stand sein Wagen. Er durfte keine Viertelstunde mehr versäumen. Immer wieder ging sein Blick nach dem Treppenaufgang, er meinte, es könnte gar nicht anders sein, als daß sie noch einmal zu ihm kommen müßte. Und sie konnte schlafen, so fest, daß sie nichts weckte.

Alice Ballin stürzte ihn erst vollständig aus seinem Hoffen, da sie ihm sagte, das Zimmermädchen hätte ihr gemeldet, die Komtesse habe ihr gesagt, sie käme nicht vor neun Uhr zum Frühstück.

Ganz benommen nahm er Abschied von Ballin und dessen Frau. »Grüße mir alle meine Lieben!«, sagte Alice und küßte den Neffen auf beide Wangen.

»Und komm wieder zurück,« ließ sich der Bankier hören, »laß dich nicht für immer halten!«

»Nein. Onkel! Sobald ich kann, bin ich wieder in Wien!«

Dann rollte der Wagen über den weißen Kies der Auffahrt durch das hohe, schmiedeeiserne Tor. Radanyi sah zurück. Aber nichts als das weiße Tüchlein, das seine Tante schwenkte, konnte er mehr entdecken. Die Fenster der Braut blieben geschlossen, wie zuvor. Er kam knapp fünf Minuten vor der Abfahrt an den Westbahnhof. Es war alles schon tags zuvor geregelt. Das große Gepäck, das Billett. Der Platz war bestellt. Der Zug war nicht übermäßig besetzt. Als er in sein Abteil trat, wandte sich die Dame, welche am Fenster gestanden hatte, nach ihm.

»Eve Mi!«

Achtlos glitt sein Mantel zu Boden. Er benötigte beide Arme für die Geliebte. »Du – du – wär ich doch eine halbe Stunde früher gekommen!«

»Ich habe so hart gewartet. Oder hast du geglaubt, ich, ich könnte schlafen, in der Stunde, in der du gehst!« sagte sie und preßte seine Hände zwischen den ihren.

Unbarmherzig erging das Zeichen der Abfahrt.

Er riß sie noch einmal an sich. »Hast du das Lied verstanden, das ich gestern gespielt habe?«

Sie nickte, da er ihr die Lippen mit den seinen geschlossen hielt.

Die Maschine setzte sich lautlos in Gang. Sie sprang zur Türe. Von seiner Hand festgehalten, glitt sie auf den Gangsteig. Das Fenster fiel herab. »Eve Mi!«, hörte sie ihn noch sagen. Ihr Tuch flatterte im Luftzug des Bahnsteiges. Aus dem immer weiter westwärts eilenden D-Zuge leuchtete das seine.

Und dann blieb nichts mehr übrig als ein dunkler Strich und eine schwarze, qualmende Wolke, die alles verhüllte.

Sie biß die Zähne aufeinander und zog den Schleier tief über ihr tränennasses Gesicht.

Hinter ihr, etwas abseits aber lehnte Gellern gegen einen Lichtmast gestützt. Er hatte einen seiner Freunde zur Bahn begleitet und war Zeuge des Abschiedes der beiden Liebenden geworden. Mit schleppenden Schritten entfernte er sich: Ein seiner seligsten Hoffnung beraubter Mann.


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