Josephine Schneider-Foerstl
Die Liebe des Geigerkönigs Radanyi
Josephine Schneider-Foerstl

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Von Hamburg aus kam die erste Nachricht an Eva Maria.

Mein blondes Lieb!

Vor meiner Ausreise noch tausend Grüße. Behalte mich lieb! Bleib mir treu und vergiß des Schwures und des Liedes nicht. Zweifle nicht an mir, Eve Mi. Ich komme wieder, sobald ich Dir ein Heim bieten kann, das Deiner würdig ist ....

Dein Elemer.

Sie drückte das Blatt zuerst an die Wangen, dann an die Lippen, schloß ein Fach ihres Schreibtisches auf, legte es mit bräutlich-seliger Freude neben Radanyis Bild und versperrte beides sorgfältig.

Ein paar Tage später kam Haller und überbrachte ihr noch einen großen Strauß dunkler Rosen, die Elemer für die Braut erstanden hatte. »Er ist wirklich gut,« sagte er und zeigte dabei lachend seine großen, tadellos weißen Zähne. »Der Schlingel wäre bei Gott fähig gewesen, noch im letzten Augenblick auszukneifen und hier im Lande zu bleiben. Solche Sachen macht ein Mann mit dreißig Jahren! Wissen Sie vielleicht, wer daran schuld ist, Komtesse?«

Er weidete sich an ihren glühenden Wangen und erzählte immerfort von seinem Schüler, bis es eben einfach nimmer ging und er sich verabschieden mußte, weil die Pflicht ihn rief.

Nach kaum vier Wochen zeigte Radanyi der Geliebten seine Ankunft im Lande des allmächtigen Dollars an. Es waren nur ein paar Zeilen. In aller Hast geschrieben. Aber es war ein Lebenszeichen von ihm. Sie wußte, daß er ihrer gedachte.

Mit strahlenden Augen empfing sie den Vater, der an einem Sonnabend von der Tanja zurückkam. Es fiel ihr nicht auf, wie ernst er war und wie zerstreut und daß sein Haar und Bart auffallend viele weiße Fäden zeigte. Sie umschmeichelte ihn mit aller Liebe. Die ganze Seligkeit, die sie selbst im Herzen trug, ergoß sie auch über ihn. Er war kaum heimgekommen, blieb er tagelang wieder fort. Seine Unrast gab Eva Maria flüchtig zu denken. Ab und zu beobachtete sie aufmerksam, wie er vor sich hinmurmelte und aufschrak, wenn sie ihn unversehens ansprach. Aber sie vergaß wieder. Wenn das Herz so übervoll an Glück ist, hat es für das Leid auch des liebsten Menschen keine scharfen Augen. Ahnungslos, von ihm unerwartet, trat sie eines Morgens in sein Arbeitszimmer. Er hatte ihr Kommen überhört. Beide Arme über die Platte seines Schreibtisches gelegt, hatte er den Kopf dreingebettet.

Im nächsten Augenblick war sie an seiner Seite. Ihre Hände strichen erregt über sein ergrautes Haar. Sie schmiegte ihre Wange dagegen.

»Vater! – Hast du Sorgen, Vater?«

Er hob müde und mit einem Aufstöhnen den Kopf. »Ja. Eve Mi! Mehr wie die Kiesel im Park!«

»Geldsorgen, Vater?«

Er nickte.

»Ich dachte, wir seien reich?« sagte sie schüchtern und strich in Gedanken das blonde Haar zurück.

»Gewesen, Evi Mi – gewesen!«

»Dann sind wir also jetzt arm! – Ist es so?«

Warren sah seiner Tochter in das Gesicht. Er atmete etwas auf. Sie schien so gar nicht unglücklich darüber zu sein. Sie begriff es wohl nicht, wenigstens nicht so ganz, was das hieß.

Es war besser, er sagte ihr gleich die volle Tatsache. »Wir sind nicht bloß arm, Eve, wir haben Schulden!«

»Schulden! –« wiederholte sie. »Schulden müssen bezahlt werden, Vater.«

Er bejahte schweigend.

Sie zog einen der Stühle zu dem seinen an dem Schreibtisch und griff nach einem Blatte und einem Silberstift. »Vater, diktiere, wieviel haben wir Schulden? Und wann müssen sie bezahlt werden?«

Er schrak zusammen. »Laß, Kind! – Laß das – du verstehst es nicht!«

»Vater, was gibt es da zu verstehen? – Bist du arm, bin ich es auch. – Hast du Schulden, habe ich sie auch. Darum muß ich doch wissen, wie hoch sie sind, sonst kann ich dir ja nicht helfen.«

»Du?« – Es war halb Unglaube, halb Wehmut.

»Ja, ich! – Also bitte, Vater!«

Er nannte eine Summe, sah, wie ihre Wangen fahl wurden und ihre Hände nach der Schreibtischkante griffen, um eine Stütze zu finden. Aber sie sagte nichts. Nur die Lippen zuckten.

»Verkauf die Pferde! –«

»Sie sind schon verkauft!«

»Alle?«

Er senkte den Kopf, als schäme er sich über das Ja, das er geben mußte.

»Nimm meinen Schmuck, Vater!«

»Er ist so viel wie verpfändet, Eve Maria!«

Sie wurde noch um einen Ton bleicher und hielt die Hände im Schoße fest ineinander gepreßt.

»Haben wir nichts mehr sonst? – Das Haus hier? Die Tanja?«

Warren stöhnte auf. »Es ist alles verloren – alles –. Frage nichts mehr, Eva Maria!«

»Verzeih, Vater, wenn ich dich quäle. Aber ich muß ja. – Wie konnte das sein?«

»Wie das sein konnte? – Wenn eine Bank nach der anderen verkracht und die Direktoren flüchtig gehen? – Und ich – o, ich habe diesem Gersdorff so blind vertraut und alles in seine Hände gegeben und mit ihm Geschäfte gemacht, alles in dem Glauben, daß nichts fehlt. Und jetzt, jetzt reißt er mich mit. Begreifst du nun, Eva Maria?«

»Ja!« Aber es war nur ein Flüstern. »Vater!« sie tastete mit ihren warmen jungen Händen nach seinen zitternd gewordenen. »Gibt es denn nichts, Vater, was dieses Entsetzliche noch wenden kann?«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts, mein Kind! Die einzige Rettung, die ich wüßte, ist – ist –«

Sein Körper sank ganz zusammen. Er sprach nicht weiter.

»Was ist dieses eine, Vater! – Sag' rasch, was dich retten kann?«

»Heirate den Baron Gellern!«

Sie starrte ihn fassungslos an, dann brach sie vor ihm in die Knie. »Vater! Ich will betteln gehn für dich! Nur verkauf mich nicht!«

Ihr Gesicht fiel auf seine Hände, die er über den Knien liegend hielt. Warren vergaß in diesem Augenblick alles. Den drohenden Ruin, die Schande, die seinem Namen bevorstand, das Bettlerdasein, welches ihm in Aussicht stand. Er fühlte nichts als den Schmerz seines Kindes.

»Eve! Kleine Eve! Du sollst nicht vor mir knien. Du mußt ihn nicht nehmen. Nein, du mußt nicht. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich keinen Handel treiben werde mit deinem Herzen.«

Er zog sie zu sich empor und bettete ihr Gesicht an seiner Brust. Wortlos hielt er sie an sich gepreßt und sie umklammerte ihn, als könnte so nichts über sie kommen.

»Vater!«

»Ja, mein Kind!«

»Wenn du sterben willst, Vater – ich kenne ja deine Grundsätze von Ehre und Pflicht – dann gehe ich mit dir. Ohne Furcht, Vater. So ruhig und gefaßt, wie du. Aber das andere – das darfst du nicht von mir verlangen!« »Du liebst einen Mann, von dem ich nichts weiß, Eva Maria?«

»Aber du kennst ihn, Vater!«

»Radanyi?«

Sie nickte und führte seine Hand an ihre Lippen. »Wenn er zurückkommt, wird er dich um dein Jawort bitten.«

Warren saß zusammengebeugt. »Wenn er wiederkommt. – Dann bin ich nicht mehr!«

»Vater –! Könntest du mich wirklich allein lassen?«

Sie nahm seinen Kopf an ihre Brust und streichelte seine Wangen.

»Nein, Eve. Wenn ich gehe, will ich es dir sagen. Du kannst dann mit mir kommen oder bleiben. Was du vorziehst!«

»Ja, Vater.«

Und dann saßen und rechneten sie. Auf den Papieren häuften sich die Summen zu schwindelnden Mengen. Es würde ihnen kaum das Notwendigste verbleiben. Warren hatte nicht zu viel gesagt. Seine Sorgen waren so viele wie die Kiesel im Park.

Eva Maria ging kaum mehr auf die Straße. Jeder Lärm, jedes Lachen tat ihr weh. Drohend stand das Unheil über dem Hause. Heute, morgen, jeden Tag, jede Stunde konnte es hereinbrechen. – Gersdorff schwamm nur noch. Er hatte keinen Grund mehr unter den Füßen. Einmal war alles zu Ende. Jede Minute konnte dieses »Einmal« bringen. Es kam Eva Maria kaum zum Bewußtsein, daß es ein Weihnachten gab. Nur die Dienerschaft, die stark dezimiert worden war, wurde beschert. Der Schein sollte so lange als möglich bewahrt werden. Ganz still und gedrückt saßen Vater und Tochter am heiligen Abend beisammen und hielten ihre beider Hände ineinandergeschlungen. Eva Marias Gedanken irrten weit über das Wasser zu dem Manne ihrer Liebe. Seit er damals seine Ankunft in Newyork gemeldet hatte, war nichts mehr von ihm eingetroffen. Aber nun würde doch in Bälde ein weiteres Lebenszeichen von ihm an sie gelangen. Sie setzte das außer allen Zweifel.

Am offenen Fenster stehend, sah sie nach dem Gute-Nacht-Sagen in das leise einsetzende Flockentreiben. Die Türme Wiens läuteten zur Christmesse. Sie hörte Stimmen auf der Straße und Lachen und eilende Schritte. Ihre Hände falteten sich: Hab Erbarmen, großer Gott! Nur dieses einemal und laß uns nicht untergehen! Elemer! Wenn er wüßte! Wenn sie ihm schrieb! Nein! Nie! Betteln gehen, zu ihm? Lieber sterben.

Wenn sie hinüberfuhr und bat, mache mich jetzt schon zu deiner Frau. Womit sollte sie die Ueberfahrt bezahlen, wenn sie kaum den Lohn für den alten, treuen Diener und die Wirtschafterin aufbringen konnten?

Neujahr kam. Radanyi sandte nicht eine Zeile. Vielleicht ging der Brief verloren, vielleicht hat er sich verspätet, vielleicht sind die Postsäcke des Dampfers zu Verlust gegangen. Was denkt und klügelt und vermutet ein Mädchenherz nicht alles, nur das eine, daß er, der Liebste nicht schreiben will, das kommt nie in Betracht.

Und Eve Mi wartete. Zu der anderen Qual gesellte sich auch diese noch. Und nichts ist fürchterlicher, zermürbender, als dieses Harren von einem Tag zum anderen.

Es litt sie nicht mehr. Wenn er krank war? Wenn er drüben in irgendeinem Spital lag, armselig und verlassen. Auf den Straßen wollte sie sich das Geld zur Überfahrt erbetteln, damit er nicht allein sei. Sogar den Vater vergaß sie darüber. So groß war ihre Liebe. Sie mußte wissen, wie es um ihn stand. Haller konnte ihr vielleicht Auskunft geben. Er empfing sie mit herzlicher Freude.

»Der Schlingel zigeunert durch die ganze neue Welt,« lachte er vergnügt. Er holte mehrere Briefe und Karten aus seinem Schreibtisch. »Ich hätte gar nicht geglaubt, daß er so fleißig an seinen alten Meister denken würde.«

Erstaunt gewahrte er den Eindruck, den seine Worte auf sie machten. Eva Maria saß schweigend uüd sah nach den Karten und Briefen vor ihr. Dann schluchzte sie unvermittelt auf. Es war zu viel gewesen an Leid und Druck, das seit den letzten Monaten auf ihr lag. Und nun dies letzte noch, das nahm ihr die Selbstbeherrschung, die sie bisher so tapfer geübt hatte. Also sein Schweigen war kein Zufall. Es war Absicht. Er wollte nichts wissen mehr von ihr. Diese Erkenntnis war fürchterlicher als all das andere, das noch auf ihren Schultern lag.

Haller war neben sie getreten und strich ratlos über ihr Blondhaar. »In jedem seiner Briefe fragt er nach Ihnen!« sagte er und nahm die Bogen aus den Umschlägen und schob sie ihr zu. Sie schüttelte den Kopf. Das war alles wertlos für sie. Zu ihr selbst kam kein Gruß von ihm.

Sie stand auf und fühlte sich bis zur Ohnmacht elend. »Verzeihen Sie, Meister! Ich hätte mich Ihnen so nicht zeigen sollen. Aber diese Ungewißheit war nicht mehr zu ertragen. Nun weiß ich doch, wie alles kommt. Er hat mich vergessen!«

»Um Gotteswillen, nein!« Haller zwang sie auf ihren Stuhl zurück. »Gewiß nicht, Komtesse. Das sollen Sie nicht denken von ihm. Ich weiß, daß er Sie liebt. Seit damals schon, als Sie nach Schottland gingen. Und was habe ich diese Sommerwochen mit ihm durchgemacht. Manchmal schien es mir, als sei er gar nicht mehr zurechnungsfähig. Und zuletzt in Hamburg. Ich mußte alle meine Ueberredungskunst aufbieten, um ihn aufs Schiff zu bringen. Er wollte absolut wieder mit zurück nach Wien. Sogar die bei Kontraktbruch vereinbarte Konventionalstrafe war er gewillt zu zahlen, wenn er nicht zu reisen brauchte. Ich war herzlich froh, als er an Bord stand. Sein letztes Bitten war das, ich sollte zu Ihnen gehen und Sie erinnern an alles, was er am Abend beim Abschied zu Ihnen gesagt hatte. Ich wurde nicht klar aus ihm. Er war so ganz verzweifelt. Das alles muß Ihnen doch beweisen, wie er Sie liebt!«

Eva Maria hielt den Kopf gesenkt. »Warum läßt er mich dann so trostlos warten?«

»Haben Sie Geduld. Sie können ihm vertrauen. Ich kenne ihn doch seit seinem achtzehnten Jahre. Wenn Sie sein Wort haben, dann hält er es auch. Eher fiele der Himmel über die Steppe, als daß er es nicht einlöst.«

»Meister – ich will nochmal warten! Ach, Meister – wenn Sie wüßten!«

»Ich weiß es ja, Komtesse!«

»Ganz Wien?«

Er nickte und hielt ihre zuckenden Hände fest. »Ganz Wien!«, schluchzte sie tonlos. »Und niemand haben, der eine Rettung brächte. Niemand, mit dem ich darüber reden kann, ob es nicht doch noch einen Ausweg gäbe. Es ist fürchterlich!«

»Haben Sie Radanyi nichts davon geschrieben?«

Ihre Wangen brannten auf. »Glauben Sie, Meister, daß er mich dann verläßt, wenn ich bettelarm bin?«

»Nein!« sagte Haller überzeugt. »Dann erst recht nicht. Im Gegenteil, je mittelloser Sie sind, desto erwünschter wird es ihm sein. Er kann mit Leichtigkeit eine Familie ernähren, denn seine Einnahmen drüben gehen ins Riesenhafte!«

»Ins Riesenhafte!« wiederholte sie – mehr für sich selbst. Haller ahnte ihren Gedankengang. Er saß im Überfluß und an ihrer Seite stand der Ruin, und dieser brachte die Not mit sich und die Verzweiflung und tausend andere Schrecken, die aus ihr geboren wurden.

»Komtesse! Wenn Ihnen und Ihrem Herrn Vater mein Haus nicht allzu bescheiden ist, es steht Ihnen offen zu jeder Stunde!«

Mit einem abwesenden Blick sah sie über ihn hinweg. Er begleitete sie ein Stück Weges. Dann lief sie allein durch das Gewühl der Straßen. Wie die Lichter blitzten und wie fröhlich die Menschen waren. Alles, alles hatte sie auch einmal gehabt. Dieses gottvoll sorglose Leben, voll Daseinswonne. Sie hatte die Hände nach all den lockenden Dingen nur auszustrecken gebraucht und es war ihr Eigen gewesen. Und sie hatte es nicht geahnt, wie jäh der Umschwung kommen würde. Wenn sie allein wäre! Ohne Jammern und Klagen würde sie auf alles verzichtet haben. Aber neben ihr stand der alternde Vater. Er litt tausendmal mehr als sie. Sie würde sich in die veränderte Zeit schicken können. Er niemals! Ein ganzes, langes Leben von fünfzig Jahren ließ sich nicht so ohne weiteres umstellen, auch in Wochen und Monaten nicht.

Das Licht und die Helle taten ihr mit einem Male weh. Sie konnte die Menschen, die durch die Straßen eilten, nicht mehr ertragen. Beinahe unbewußt kam sie nach den stilleren Außenvierteln. Von den Gangsteigen schimmerte der Schnee in blendender Weiße. Kaum der Tritt eines Fußes, der dessen Reinheit unterbrach. Die Zäune der Gärten, die Bäume, die sich darüberneigten, alles war in dieses jungfräulich silberne Weiß gekleidet. Die hohen Steinsockel der Eingänge trugen kuppelförmige Hauben, das Gitterwerk der Tore war wie ein Gefüge glitzernden Filigrans aus der Hand eines ersten Meisters.

Ab und zu leuchtete an einer Ecke eine Birne auf, aber ihr Licht erschien armselig gegen die weiche, alles überflutende Helle, welche der Vollmond über die Erde goß.

Das Schweigen der klaren Winternacht wurde urplötzlich unterbrochen durch das Aufklingen zweier Männerstimmen. Den Laut der Schritte sog die weiche Decke des Gangsteiges ein. Eva Maria drückte sich in das Dunkel einer Nische, über die eine Weide bis fast zum Boden hing. Ein feiner Staub von Schnee rieselte über sie herab, als die Mädchenhand das Geäst zur Seite bog und darunter schlüpfte. Die Arme fest an den Leib gepreßt, machte sie sich so schmal als möglich. Nun kamen die Stimmen in ihre Nähe. Eine helle, feste, in bestimmter Abwehr, und eine heisere, unsichere, in bittendem, beschwörendem Ton. Kaum zwei Meter rechts von ihr blieben die Männer stehen.

»Es ist ganz unmöglich, was Sie verlangen, Gersdorff!« sagte die helle, feste des einen, dessen Rechte den Schnee von seinem Mantel fegte. »Sie werden doch nicht im Ernste geglaubt haben, daß ich so etwas mache. Mit Ihnen jetzt ein Geschäft einzugehen, das hieße so viel als mich ruinieren.«

»Sie sind mein letztes Hoffen, Herr Baron!« sagte die heisere, bittende erregt. »Wenn Sie mir nur Bürgschaft leisten, ich gebe Ihnen mein Wort, Sie sollen keinen Schaden haben, bis zum letzten Stüber wird alles wett gemacht.«

»Ich kann nicht! Ich habe es bereits gesagt!« kam es bestimmt. »Sie überschätzen mich. Das, womit ich Sie wieder flott machen könnte, ist ja nicht mein Eigentum, sondern das meiner Mutter. Begreifen Sie doch, Gersdorff, daß ich Ihnen unter die Arme fassen würde, wenn es sich ermöglichen ließe. Ich kann doch einer alten Frau nicht zumuten, daß sie Ihretwegen ihr Hab und Gut aufs Spiel setzt!«

»Es ist ja nicht aufs Spiel gesetzt, Baron. Ich bin doch ein gewiegter Bankmensch und in Ehren grau geworden. Wer kann für das Unglück? Oder meinen Sie, ich hätte Freude dran, wenn ich jetzt so viele mit mir reiße, auch hinein in die Not und das Nichts. Schon um des Grafen Warren willen, dächte ich, würden Sie alles tun, mein Haus zu stützen!«

»Um Warren?« sagte die helle Stimme erstaunt. »Wie meinen Sie das, Gersdorff?«

»Er fällt mit mir!«

»Ich habe davon gehört!« Die helle Stimme schwankte dabei.

»Und da man doch sagt – das heißt –«

»Was sagt man?«, kam es drohend.

»Daß nun, man hat's beinahe in jedem Salon zu hören gekriegt, daß die Tochter einmal nachts bei Ihnen gewesen ist und –«

Weiter kam Gersdorff nicht. Zwei Hände hielten ihm die Arme wie angenagelt gegen das Gitterwerk der Umzäunung des Gartens, vor dem sie standen. »Wollen Sie das sofort zurücknehmen, oder ich breche Ihnen die Knochen entzwei, ohne alles Erbarmen. Wollen Sie, Gersdorff?«

»Nein! – Wenn Sie mich vor dem Ruin bewahren, dann, dann werde ich mich auch für die Ehre der Tochter des Grafen einsetzen. Sonst nicht.«

Ein Röcheln drang bis zu Eva Marias Versteck. Sie schob das Geäst Zur Seite. Sah zwei Männer, die miteinander rangen – ihretwegen. Ein großer, starker, dessen Körper wie eine schwammige Masse gegen den schlanken, sehnigen Leib des anderen wirkte.

Sie wollte rufen und war erstarrt vor Schreck, nur ihre Augen standen weitgeöffnet.

»Nehmen Sie Vernunft an, Gellern!« keuchte der Bankier, ohne seinen Gegner loszulassen. »Es hilft Sie ja doch alles nichts – Sie war bei Ihnen. – Ich selbst habe sie hineingehen sehen. – –«

»Schuft! – Verleumder! – Einem Weibe die Ehre zu stehlen!«

Zwei sehnige Arme hoben Gersdorff mit einer Riesenkraft in die Höhe, schleuderten ihn auf den Fahrweg. Im Wurfe aber glitt Gellern auf dem weichen Schnee und fiel gegen den gemauerten Sockel des Zaunes. Ohne einen Laut von sich zu geben, blieb er liegen. Gersdorff erhob sich, schüttelte den weißen Staub von sich, sah den leblosen Körper drüben ausgestreckt und rannte, ohne sich auch nur umzusehen, die Straße vorwärts.

Langsam färbte sich der Schnee ringsum mit dunklem Rot. Eve Maria kniete neben Gellern und preßte ihr Taschentuch gegen die klaffende Wunde, die knapp an der rechten Schläfe lag. Ihre andere Hand lag an der Wange des Herrenreiters. In ratlosem Schrecken suchten ihre Augen die Straße entlang und irrten dann wieder zu dem todbleichen Gesichte, das in ihrem Schoße lag.

Wie der tote Siegfried war er vor ihr ausgestreckt. Das dichte, blonde Haar fiel wirr zur Seite. Die Arme hingen reglos über den kalten, eisüberzogenen Randstein. Immer kraftloser sank sein Haupt zurück. Sie neigte sich über ihn, sah die geschlossenen Augen, den stummen Mund, dessen sieghaftes Lachen in Wien sprichwörtlich geworden war. Tastend griffen ihre Finger von seiner Wange hinunter zu seinem Herzen. Sie verspürte keinen Schlag, der dagegen fiel. Wenn diese stahlgrauen Augen sich nie mehr öffneten, wenn dieser Mund für immer schwieg? Wenn dieses Herz aufgehört hatte zu schlagen? – Ihre Zähne klangen aneinander. »Und an allem bist du schuld – an allem du!« – So hatte Elemer gesagt an dem letzten Abend. Das war damals alles durch sie gekommen und heute wieder.

»Was habe ich verbrochen, daß du mich so furchtbar strafst? Sie sah zu dem sternenklaren Himmel über sich. »Hab Erbarmen! Wie soll ich leben, wenn ich seinen Tod auf dem Gewissen habe?«

Ununterbrochen sickerte sein Blut. Es brannte in ihrer Hand und lief darüber herab in den Rinnstein. Sie scharrte den Schnee ringsum mit der einen freien Hand zusammen, legte ihn in dicken Ballen in die blutige und preßte sie wieder gegen die Wunde.

Sein schlanker Körper streckte sich. »Mein Gott, Barmherzigkeit – Erbarmen – erbarme dich meiner, – erbarme dich meiner.« »Mutter!«

Sein Mund stand halb geöffnet. Unter den Lippen leuchteten die Zähne in tadelloser Weiße.

Dies eine Wort, das er gesprochen hatte, machte sie nun vollends fassungslos. Sie ließ die Hand von der Wunde gleiten und faltete beide über seiner Brust.

So tat sie ihren Schwur und gab sie ihr Versprechen Magd zu werden, der alten Frau zeitlebens zu dienen, wenn ihr durch sie der Sohn genommen wurde.

Ein feines Schlittengeklingel durchbrach das grausame Schweigen. Sie hörte kaum darauf. Reglos blieb sie knien und hielt das Haupt Gellerns im Schoß. Ob man nun kam oder nicht, es war zu spät. Hier wollte sie bleiben bis zum Morgen. Vielleicht brachte die Kälte ihr in Barmherzigkeit den Tod, vor dem sie nun gar keine Furcht mehr empfand.

»Eve Mi!«

Es war nichts als ein heiserer Laut, den sie ausstieß.

Drüben auf der anderen Seite stand das Gefährt. Warren und hinter ihm ein anderer und noch einer liefen auf sie zu.

»Eve Mi!« Der Graf kniete neben ihr nieder und hob behutsam Gellerns Kopf von ihrem Schoß.

»Das Herz klopft sehr schwach!« sagte ein junger Mann, der sein Ohr an die Brust des Herrenreiters gelegt hatte. »Aber ich denke, wir können es trotzdem riskieren, ihn zu dreien in seine Wohnung zu bringen. Gleich die übernächste Gartentüre. Wenn Sie vielleicht läuten wollten, Komtesse. Dann brauchen wir keine Zeit mit Warten zu verlieren.«

Sie sah nach Gellern, den man eben mit aller Vorsicht vom Boden hob, und dann dem dritten ins Geficht. Voll Entsetzen starrte sie ihn an. Es war Gersdorff!

Der wagte es, noch einmal in die Nähe des Mannes zu gehen! Wie kam der hierher? Die ungesprochene Frage löste sich ihr im nächsten Augenblick.

»Glauben Sie, Doktor, daß irgendwelche Gefahr für Baron Gellern besteht?« frug er und suchte dabei in den Zügen des jungen Mannes zu lesen. »Ich bin gelaufen, was meine Füße hergaben, um keine Zeit zu versäumen, ihm Hilfe zu bringen!«

Hilfe hatte er gebracht! Sie verzieh ihm alles andere. Er trug also noch ein Gewissen in sich. Sie empfand in diesem Augenblick nichts als Mitleid mit ihm.

»Nun ist mein Sohn endlich gekommen!«, sagte die Baronin Gellern erleichtert, als die Glocke in der Halle anschlug. »Bitte, Schwester, sagen sie ihm, daß ich ihn womöglich gleich bei mir haben möchte. Er ist so ungewöhnlich lange ausgeblieben heute.«

Die Dame, in der Tracht der Pflegerinnen, entfernte sich ohne Säumen. Die Baronin hörte Stimmen aufklingen, ein Laufen und Hasten von vielen Füßen über die Treppe und den Korridor. Ein Zufallen von Türen. Lysoformgeruch drang bis in ihr Zimmer. Sie glaubte ein Flüstern vor der Türe zu hören, das sofort wieder verstummte. Eine unbeschreibliche Angst erfüllte sie, ihre armen, steifen Hände fanden nicht einmal die Kraft, auf den Knopf der Klingel zu drücken, die an ihrem Stuhle befestigt war. Etwas mußte geschehen sein. Etwas Furchtbares, Grauenvolles, das man ihr, der Mutter, verschwieg, das man bestrebt war, ihr zu verheimlichen, so lange es irgend möglich war.

»Schwester!« Sie wollte rufen, aber die Stimme versagte gänzlich. »Schwester!«

Warum kam niemand ihr zu sagen: Dein Sohn ist tot! – Dein einziges Kind ist nicht mehr. Und war noch vor kaum drei Stunden in all seiner Mannesschönheit, seiner Lebensfreude vor ihr gestanden und hatte Abschied genommen, wie dereinst Jung-Siegfried. Und als ein Toter brachte man ihn ihr zurück.

»Schwester!«

Alle Kraft des Willens reichte nicht aus, die Lahmheit des Körpers zu überwinden. Sie war festgeschmiedet und wenn ihr Kind sich derzeit verblutete, sie mußte warten, bis einer kam und es ihr sagte oder ihn ihr zu ihren Füßen legte.

Die Türe öffnete sich zu einem Drittel. Eva Maria vermochte keinen Schritt weiter zu gehen, als sie in diese angstverzerrten Züge der Mutter Gellerns sah. Kein Wort fiel. Nur der Blick der Baronin glitt an dem jungen Mädchen herunter und blieb an den Blutspuren ihrer Hände und ihres pelzbesetzten Kleides hängen.

Sie schloß die Augen. Als sie dieselben wieder öffnete, stand Eva Maria neben ihr und neigte sich küssend über ihre Hände.

»Mein Sohn?«

Kein Klagen, kein Schreien! Nichts wirkte erschütternder, als dieses, »mein Sohn« aus dem Munde der alten Dame.

»Es ist keine Gefahr mehr!« sagte Eva Maria und strich ohne innezuhalten über die bewegungslosen Finger der Baronin.

»Tot?«

»Nein, nein! Sie glauben mir nicht? Darf ich Sie zu ihm bringen, gnädige Frau? Wollen Sie ihn sehen und sich überzeugen, daß er lebt?«

»Ja, ich will ihn sehen, zuvor kann ich es nicht für wahr halten, daß er mir nicht genommen wurde!«

In ihrem Rollstuhl fuhr Eva Maria sie aus dem Zimmer, den breiten, gut erwärmten Korridor zurück. Vor Gellerns Schlafgemach machte sie Halt. »Sie werden nicht erschrecken, gnädige Frau?« bat sie dringend. »Und nicht weinen? Der Arzt hat absolute Ruhe zur Bedingung gemacht.«

»Was notwendig ist, meinem Sohne ein Genesen zu bringen, werde ich ohne weiteres befolgen, liebes Kind. Sie können mich ruhig hineinlassen.«

Warren stand über Gellerns Bett geneigt. Daneben der junge Arzt. Sie sprachen im Flüstertone miteinander. Als die Baronin von Eva Maria hereingefahren wurde, gingen beide auf sie zu.

»Ein Duell?« frug die alte Dame und sah unverwandt auf das Lager, drauf ihr Sohn ruhte. »Nicht? – Wie wäre das auch möglich gewesen. Er ist ja gar nicht fähig, einen anderen zu beleidigen. Mein guter Bub!«

Sie wollte ganz nahe an das Bett gefahren sein, damit sie wenigstens die eine ihrer Hände an die seine legen konnte.

Eva Maria erzählte kurz nur von seinem Ausgleiten. Von allem anderen nichts. Die Augen der Baronin wandten sich für einige kurze Sekunden ihr forschend zu. Aber sie frug nicht. Sie tat, als ob sie glaubte, glaubte, ohne zu zweifeln.

Wenn er lebte und gesund wurde, erfuhr sie von ihm ja eines Tages doch die volle Wahrheit. Jetzt genügte das andere.

Eva Maria schloß kein Auge in dieser Nacht. Dem Vater brauchte sie nichts zu erklären. Gersdorff hatte ihn von allem unterrichtet. Nur wie sie Zeuge des Unfalles geworden, das erzählte sie ihm.

Und dann kam sie an jedem Tage der folgenden Woche in das Landhaus Gellern und erkundigte sich, ob das Genesen des Barons Fortschritte machte. Gesehen hatte sie ihn nie mehr. Stets empfing die alte Dame sie allein, bis er doch eines Tages selbst am Palais in der Herrenstraße vorfuhr. Über zwei Stunden blieb er in Warrens Arbeitszimmer. Erregt klang die Stimme des Grafen durch die gepolsterte Türe. Dann folgte wieder minutenlanges Schweigen.

»Für mich ist die Sache insoweit belanglos,« sagte Warren zum Schlusse, »als ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind. Meine Tochter zu tadeln, daß sie just an Ihrer Schwelle geläutet hat, wäre ungerecht. Es war jedenfalls zehnmal besser an der Ihren, als an einer anderen Schutz zu erbitten. Und Ihre Werbung, Baron Gellern, ehrt mich, ehrt mich sehr. Aber ich will meiner Tochter nicht das Recht nehmen, über ihr Herz und ihre Hand selbst zu verfügen. Wenn Sie wünschen, werde ich Sie bei ihr melden lassen. Sie können sich dann den Bescheid aus ihrem Munde selbst holen!«

Er drückte mit etwas unsicheren Händen auf die Klingel neben seinem Schreibtisch und befahl dem alten noch einzigen Diener des Hauses, der Komtesse zu melden, daß sie Besuch bekäme.

»Wer ist es?« frug Eva Maria und legte Elemer Radanyis Bild in das Geheimfach zurück, worin sie es stets verschlossen hielt.

Das wenige Rot, das ihren Wangen noch Farbe gab, verschwand. Sie öffnete die Lippen und wandte sich um, ohne etwas gesagt zu haben.

»Empfangen Komtesse?« mahnte der Diener bescheiden.

Sie schrak zusammen. Ein furchtbarer Kampf stand in ihrem Gesichte geschrieben. Ihr Kopf senkte sich und als sie ihn wieder hob, suchten ihre Augen nach den Fenstern, ob es nicht ein Entrinnen gäbe.

Der Alte räusperte sich.

»Ich lasse bitten!« kam es kaum hörbar.

Als Gellern wenige Minuten später eintrat, lehnte sie sich schutzsuchend gegen die blaßrote Seide der Bespannung. Langsam wandte sich ihm ihr Gesicht zu, aus dem alles Leben gewichen schien.

Sie wollte vorwärts gehen und vermochte es nicht, konnte dem Manne, der ihre Ehre verteidigt hatte, nicht dankbar beide Hände entgegenstrecken. Und wußte nicht, warum sie Furcht empfand vor ihm. Vor dieser Siegfriedsgestalt, die noch immer unweit der Türe stand und auf ihre Ermunterung wartete, näher zu treten. Sie sah auf ihre Hände, an denen in jener Nacht sein Blut geklebt hatte. Und von ihren Händen weg suchte sie nach seinen Augen, die damals so fest geschlossen lagen. Nur sein Mund, der schwieg, wie in jenen Schreckensstunden auch.

Nun kam er trotzdem auf sie zu, ohne von ihr aufgefordert zu sein. Sie konnte nicht mehr weiter zurückweichen, die Mauer gebot ihr Halt. Zwei Schritte nur trennten sie noch von ihm. Was sie nicht getan hätte, tat er. Beide Hände streckte er ihr entgegen.

»Komtesse, ich danke Ihnen für mein Leben!«

Sie aber dankte ihm mit keinem Worte, daß er es für ihre Ehre eingesetzt hatte.

Stumm, den Kopf gesenkt, stand sie vor ihm.

Und wartete, wartete, daß er ging – ging – weil sie Angst empfand, Angst, daß er seinen Lohn von ihr fordern würde. Und er tat es. Er forderte nicht! Er bat!

Kein Schwall von Worten erging über sie. Er kniete nicht vor ihr. Einfach, schlicht bat er sie um das Glück, ihm Weib zu sein.

Sie ließ ihn ohne Antwort stehen, sah, wie er die Lippen auseinanderdrückte und wartete, bis sie sprechen würde.

Aber sie schüttelte nur verzweifelt den Kopf.

Gellern verfärbte sich. »Sie weisen mich demnach ab, Komtesse?«

Sie sah auf, sah diese gütigen, blauen Augen, den feingeschwungenen Mund, der heute ohne jedes Lachen war. Mitleid hielt ihr das »Nein« auf den Lippen zurück.

»Ich kann Ihnen heute noch keinen Bescheid geben!«, sagte sie, jedes ihrer Worte abwägend. »Wenn Sie mir Bedenkzeit geben würden – vier Wochen nur. – Aber sie werden nicht warten wollen!«

Sie sah, wie er aufatmete.

»Ich werde warten, Komtesse!« Er neigte sich über ihre Hand, sah ihr noch einmal in die Augen und verließ den Raum.

Sie starrte ihm nach und glitt in die Knie, als sich die Türe hinter ihm schloß.

»Elemer! – Elemer! – So weit hast du mich gebracht, daß ich einem anderen Hoffnung mache. – Nur eine Zeile! – Nur eine Zeile, daß du mich nicht vergessen hast!«

So fand sie Warren, als er eine Viertelstunde später bei ihr eintrat, um nach ihr zu sehen.

Er nahm sie in die Arme und liebkoste ihr schmalgewordenes Gesicht.

»Eve Mi, – ich hab dich nicht verkauft! Bei Gott, ich hab es nicht getan!«

Sie nickte und drückte sich schutzsuchend gegen seine breite Brust.

Er griff in die Tasche und holte ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt heraus. Eine Notiz war mit einem blauen Strich umrandet. »Lies es dann, Eve Mi. Und dann komm zu mir. Gersdorff war heute morgen da. Er hat wieder Hoffnung. Vielleicht gibt es doch noch ein Hinüberkommen auf festen Grund.«

Als er gegangen war, nahm Eve Mi das Blatt zur Hand. Gleichgültig, weil sie für nichts mehr Interesse empfand, begann sie zu lesen. Dann zitterte das Papier zwischen ihren Fingern. Sie mußte es auf den Tisch legen, weil es zu sehr schwankte. Sie wischte sich noch einmal die Augen rein und las:

»Newyork: Der Geiger Elemer Radanyi, der seit sieben Monaten unseren Erdteil bereist, ist der Typus des rassigen Vollblutmusikers. Schärfste Energie, großzügiges, geistiges Erfassen verbindet sich mit einem heißen Empfinden und einem leidenschaftlichen Temperament zu einem Zusammenklang edelster Art. Man glaubt in dem mit berauschendem Wohlklang gesättigten Ton den Herzschlag des Künstlers zu hören. Seine Geige erscheint eine mit Eigenleben begabte Vermittlerin seiner Gedanken und Gefühle zu sein. Technische Schwierigkeiten gibt es für diesen glänzenden Virtuosen überhaupt nicht. Nimmt man dann noch das Gesamtbild seiner Erscheinung, so ist es begreiflich, daß er gefeiert und umworben ist, wie nie noch ein Künstler vor ihm. In Newyork heißt er kurzweg der »Geigerkönig«. Und er trägt diesen Titel zu recht. Unbegreiflich aber ist, wie Europa diesen Virtuosen nicht mit allen Mitteln an sich zu fesseln suchte, denn er wird sehr wahrscheinlich nicht mehr dorthin zurückkehren. Man betrachtet ihn hier mit unbedingter Sicherheit als den zukünftigen Schwiegersohn des Großindustriellen Pier van der Veldt. Da er selbst auch Riesensummen mit seinen Konzertreisen verdient, wird er in Bälde einer der reichsten Menschen unseres Erdteils sein!«

Das Blatt glitt raschelnd zu Boden. Eva Marias Hände lagen übereinandergelegt in ihrem Schoß. Sie schloß die Augen. Klar, ohne jedes Verwischtsein stand sein Bild vor ihr, seine Worte klangen auf, als würde jedes eben erst gesprochen.

»Ich komme, Eve Mi! So wahr der Himmel über der Pußta steht, kannst du auf mich rechnen. Glaubst du mir?«

Und sie hatte ihm geglaubt. Aber alles, was er gesagt hatte, war Lüge gewesen. Sie hatte ihren Schwur umsonst gegeben.

»Elemer! – So kannst du an mir handeln?«

Wenn er sie nicht mehr liebte, wenn er frei sein wollte, dann hatte er doch zum mindesten die Verpflichtung, ihr zu schreiben: Mein Fühlen und Wollen von damals hat sich geändert. Ich war im Irrtum, als ich Dir sagte, mein Herz und meine Seele sei nur Dir zu eigen. Ich weiß es jetzt, was Liebe ist. Gib mir mein Wort zurück.

Aber er fand den Mut nicht hierzu und hüllte sich in jämmerlich feiges Schweigen.

Ellen van der Velt, das war die Kleine, die er damals einen entzückend süßen Kobold nannte und von der Ballin sagte, daß sie alles zuwege brächte, wenn sie nur wollte. Vielleicht hatte sie schon auf der Überfahrt all ihre Künste spielen lassen, Elemer für sich zu gewinnen. Und dann war er ihr nach und nach ganz verfallen. Es war wohl das schlechte Gewissen, das ihn in Hallers Briefen immer wieder nach ihr fragen ließ.

Müde, wie nach einer schweren körperlichen Arbeit sank sie im Arbeitszimmer des Vaters in einen der Stühle. Warren frug nicht. Und Eva Maria sprach kein Wort. Nur ab und zu sahen sie sich an und jedes wußte, was das andere dachte. Ihre Hände legten sich für einen Augenblick über einen Aktenbogen, der auf dem Schreibtisch lag. Sie fühlte, wie etwas Hartes sich darunter wölbte. Ohne es eigentlich zu wollen, schob sie das Blatt zur Seite.

Ihr Arm fiel jäh herab. Mit weitgeöffneten Augen starrte sie den Vater an.

Warrens Lippen verschoben sich. Langsam, schleppend kamen die Worte aus seinem Munde: »Ich habe alles versucht. Es bleibt mir nur noch dieses eine, Eve Maria! Gerstorff hat sich vor einer Viertelstunde vergiftet.«

»Und ohne mich wärst du gegangen! – Auch so über mich hinweg, wie – wie der andere –!«

»Nein, Eve Mi! – Ich hätte dich rufen lassen oder dich selber geholt, wenn du nicht gekommen wärst! Ich habe ja versprochen, es dir zu sagen, wenn es Zeit ist. Nun kannst du wählen, ob du bleiben oder mit mir gehen willst.«

»Ich gehe selbstverständlich mit dir. – Was sollte ich sonst noch?«

»Leben!«

Warren hatte es herausgestoßen und griff mit beiden Händen nach denen der Tochter.

»Du tust mir weh, Vater!« sagte sie und suchte sich frei zu machen.

Er spannte seine Muskeln nur zu noch festerem Griffe. »Das ist ja gar nichts gegen das andere, Kind. Wenn ich dich nicht sicher treffe. Und – ich werd' es nicht – sieh, meine Hände zittern so.«

Die ihren lagen nun ganz ruhig und willenlos.

»Ich werde mich vollständig still verhalten, Vater. Du triffst doch auch das Wild im Sprung. Und ich bin dir doch so nah. Du brauchst nur hier an meinen Schläfen anzusetzen.«

Mühelos hatte sie ihr Gelenk aus seinen Fingern befreit und strich ohne jedes Beben das blonde Haar zurück. »Sieh her – die Stelle liegt ganz frei! Du brauchst nur abzudrücken!«

»Nur abzudrücken ...« murmelte er nach. »Und dann, Eve Mi? – –«

»Dann kommst du an die Reihe!« wollte sie sagen. Aber sie brachte es nicht fertig. Sie sah ihn an, wie er so vor ihr saß, ganz gebrochen und zusammengesunken, wie ein gebrochener Greis und war noch nicht einmal sechzig. Vor einem Jahre noch hatte sie die weißen Fäden an seinem Barte zählen können und heute war kaum mehr ein schwarzes darunter. Sein Rücken, der immer so straff und gerade die breiten Schultern getragen hatte, bog sich nach vorne. Von der Nase zu den Mundwinkeln liefen zwei tiefe, dunkle Falten, die dem ganzen Gesichte etwas Altes, Sorgengequältes gaben. Ihre Gedanken eilten in die Kindertage zurück. Sie hatte nichts als Liebe von ihm genossen. Nicht ein rauhes Wort von ihm, das ihr erinnerlich gewesen wäre.

Er war ihr Vater und der Ursprung ihres Lebens lag in dem seinen. Und sie konnte ihm dies erhalten, wenn sie Gellerns Frau wurde.

»Vater!«

Warren hob kaum merklich den Kopf. »Ich kann nicht, Eve Mi. – Es ist schwerer, als ich geglaubt habe.!«

»Laß nur, es ist nicht mehr nötig!« Sie strich über sein spärlich gewordenes Haar. »Ich will an Gellern schreiben, daß er kommen kann. Ich bin bereit, Vater.«

»Eve Mi!«

Er tastete ohne aufzusehen nach ihr. Aber sie hatte das Zimmer bereits verlassen.

Über der Riesenstadt Newyork dehnte sich der Zauber einer wundervollen Frühlingsnacht. Freilich, tief unten in dem Gewirr der tausend Straßen, die wie die Fäden einer Spinne in- und durcheinander liefen, war nichts von ihr zu sehen. In acht- und zehnfachen Reihen jagten die Autobusse, Karosserien, Equipagen, Lastwagen, Motorfahrzeuge aneinander vorüber. Unbeweglich stand der diensthabende Ordnungsmann auf seiner erhöhten Kanzel und leitete den Verkehr durch eine befehlende Geste seiner Hand. Eine zustimmende Gewährung und die hunderte von Fahrzeugen sausten aneinander vorüber, ihre Lichter machten den Asphalt zu einer einzigen, hellschimmernden Welle, die sich mit dem Strom von Glanz paarte, der aus den taghell erleuchteten Fenstern der großen Geschäfte floß. Ein stummes Verneinen der befehlenden Rechten, und der gesamte Verkehr stoppte, wie auf den Sekundenschlag eines dröhnenden Uhrwerkes. Das Tuten, Surren, Knirschen, Rasseln verstummte jählings. Die ganze Straßenbreite war für eine, wenn auch kurze Spanne Zeit, den Fußgängern zur Ueberquerung geöffnet. Wie der blendende Kegel eines Riesenscheinwerfers flutete all die Helle über ihnen zusammen, machte die Gesichter weiß und gespensterhaft, ließ ihren Schritt tänzeln und den hellen Saum der Frauenkleider, die unter dunklen Mänteln geschützt lagen, aufleuchten. Und dann machte eben diese Hand den Wagenverkehr wieder durcheinanderfluten, daß nur der geübteste Fahrer nicht von ihm zerdrückt und zerquetscht wurde.

Gleich uneinnehmbaren Burgen starrten die Wolkenkratzer aus Nebel, Rauch und Dunst und die Lichter aus ihrem vierzigsten oder fünfzigsten Stockwerk zitterten wie Sternchen weit hinten am Horizont.

Es schien, als ob in dieser Frühlingsnacht Newyorks oberste Zehntausendklasse sich in dem größten Konzertsaal, den die Weltmetropole aufwies, ein Stelldichein gäbe. In Achterreihen standen die Autos und Equipagen an der Auffahrt hintereinandergedrängt. Immer neue schlossen sich an. Ein ganzer Wagenpark zog sich die Straße hinauf. Und immer noch kein Ende.

Das Vestibül warf Brände von Licht durch die sich stets von neuem öffnenden Flügeltüren. Seide rauschte auf. Ein Strom von Wohlgerüchen aus tausend Blüten und Essenzen zusammengemischt, machte die Sinne trunken. Edelsteine blitzten aus Stirnstreifen, Diademen und Ohrgehängen. Aus tiefem, tiefstem Dekoletee blitzten sie auf, wie ein Funke von einem Glühwürmchen in der Johannisnacht. Marmor schienen die weißen, stolz getragenen Nacken zu sein, die nackten Arme wetteiferten mit ihnen, kaum der Hauch von einem Band, der an den Schultern Seide, Brokat oder Sammet zusammenhielt.

Die Deckenbeleuchtung hing wie ein gläsernes Meer über dem ganz in Gold und weiß gehaltenen großen Raum. Tausendkerzige Birnen warfen Sturzbäche von Licht auf das spiegelnde Parkett und ließen jede, auch die verborgenste Ecke in Tagesklarheit aufleuchten. Die Fräcke und Smokings der Herren stachen wie riesige Tintenflecke aus der kostbaren Pracht der Toiletten ihrer Damen. Man begrüßte, verneigte, küßte und umarmte sich, man kritisierte, spöttelte und zuckte die Achseln, wenn man sich den Rücken wandte.

Die Gesellschaft ist sich in diesem Punkte überall in der gangen Welt gleich. Auch die fünfte Avenue Newyorks macht hierin keine Ausnahme.

Ein feines Klingelzeichen rann durch die Korridore und zitterte bis hinunter in die weite Halle des Vestibüls.

Spätlinge rauschten über die Schwelle, hasteten nach ihren Plätzen, verneigten sich, lächelten, hoben die Hand zu intimem Gruße.

Ein zweites, silbernes Glockenstimmchen. Die Laute ebbten ab. Man flüsterte oder verständigte sich durch ein Lächeln.

»Er kommt von Chikago –«, haucht die junge Astor ihrer Freundin Ruth Vanderbildt zu. »Er ist herrlich. Noch viel, viel männlicher, als damals im Herbst –.« Sie suchte die Logen entlang und fand den Ruhepunkt für ihre Blicke. »Wie ich sie hasse, diese Ellen van der Veldt. Wie sie sich gibt, als ob er schon ihr eigen wäre!«

Und dann ein rasches Oeffnen der Türe im Rücken des palmengeschmückten Podiums und im selben Augenblicke ein beinahe amphitheaterartiges aufschreiendes Jubeln der Hunderte von Konzertbesuchern.

»Radanyi! – Radanyi!«

Er verneigt sich. Ein Meer von Blüten, verbeugt sich, ein hilfloser Blick, ein rührend bescheidenes Lächeln. Eine bittende Geste der Linken.

Er will sprechen! – Laßt ihn reden! –

»Radanyi! – Radanyi!«

Er hebt beide Hände zum Dank. Fängt einen der duftenden Veilchensträuße geschickt zwischen drei Fingern auf und steckt ihn in das Knopfloch seines Frackes.

Die junge Astor faltet die Finger wie zum Gebete ineinander. Sie hat jede der Blüten zuvor geküßt und nun liegen sie an seiner Brust. Ganz nahe seinem Herzen. Sie vergißt sogar Ellen van der Veldt zu hassen.

Nun lautlose Stille. Er setzt den Bogen an. Die Hunderte scheinen den Atem eingestellt zu haben. Wie eine Welle Frühlingsluft schwingt Beethovens Musik sich über all das Licht, den Glanz und das Duftgewoge. Das tändelt, flirtet, liebt, heiße Sonne läßt Blüten reifen, schwerhalmige Aehrenfelder wogen im Sommerwind, Wälder rauschen auf, verstummen, säuseln im Abendwehen, Mondsilber fließt darüber, Bäche murmeln, aus tiefen Schatten strecken sich unsichtbare Hände, winken und locken, ein Jauchzen, trunken vor Wonne dann ein jähes Erwachen aus Seligkeit und Glück und Geborgensein – am Wegrand verweint, Verzweiflung im Blicke. Ein Kämpfen, Ringen, – es sind nicht mehr Radanyis Hände, die den Bogen führen – Beethoven selbst ringt mit dem Schicksal. – Dann ein Müdewerden, ein Sichergeben, ein Ruhen nach unerhörter Qual und Angst, ein Hinüberschlummern im Allvergessen, ein letztes Hauchen: es ist vollbracht.

Die Geige schweigt.

Wie ein Sturm braust es über Radanyi hin. Das ganze Blütenwunder amerikanischen Frühlings schüttet die bis zur Ekstase begeisterte Menge über und vor ihn auf das Podium. Das Klatschen, Rufen und Händewinken nimmt kein Ende.

Er wird nicht müde zu danken. Sein Gesicht strahlt. Aber in seinem Lächeln ist so gar nichts Vonsicheingenommensein und Künstlereitelkeit. Nur Wonne und Befriedigung, daß er die Seelen seiner Zuhörer für Beethoven erobert hat.

Aus einer der mittleren Logen kam ein kleiner Lorbeerkranz geflogen und blieb am Hals der Geige hängen.

Elemer sah empor und blickte in ein tiefdunkles Augenpaar, schwarzes, dichtes Haargebausch wölbte sich über einer hohen, weißen Stirne. Eine brennend dunkle Glut lag auf den schmalgeformten Wangen.

Es war Ellen van der Veldt.

Er schloß für Sekundendauer die Lider.

»Dunkel ist die kleine Tore – doch ich liebe blonde Locken –

Blonde Locken licht und sonnig – wie der Flachs an Freijas Rocken«

Er lächelte, aber er sah nicht mehr empor, verneigte sich und noch einmal und abermals, streifte den kleinen Kranz über den rechten Oberarm und setzte von neuem die Geige ans Kinn.

Eine Stunde später saß er erschöpft in einer der blumengeschmückten Nischen des Astor-Hotels. Der große, tiefe Klubsessel aus braunem Leder umschloß seine Gestalt wie ein muskelstarker, schutzgewährender Arm.

Zwischen Ärger und Lachen sah er in das schmunzelnde Gesicht Harald Andersons, der ihm gegenüber saß.

Der junge Mann verzog kaum merklich die Mundlinie, kniff die grauen Augen etwas zusammen und schob die Manschetten bedächtig hinter die Aermel seines Frackes. Die langen, aristokratisch geformten Finger, von denen einer mit einer Auslese von Perle geziert war, griffen nach der Sektflasche, die in dem Eiskühler neben dem Tisch stand und ließen den Pfropfen an die Decke knallen.

Geschickt, ohne einen Tropfen zu verschwenden, goß er die hohen, goldgerandeten Kelche voll und ließ den seinen an den Radanyis klingen.

»Auf deine Kunst, Elemer!«

»Ach – –.« Radanyi trank leer, lehnte sich zurück und schloß die Augen. »Noch einmal Harald – aber diesmal nicht auf meine Kunst!«

»Auf was dann, mein Lieber?«

Harald Anderson zeigte beide Reihen seiner festen, weißen Zähne, sein Gesicht, dem so ganz und gar jede Rundung und Weichheit fehlten, verriet nicht nur Neugier. Die straff gezogenen Nasenflügel sprachen von Erregung.

Ein Ober trat mit devoter Verbeugung an den Tisch und überreichte Radanyi zwei versiegelte Wertbriefe. Elemer setzte, ohne sich im Sessel aufzurichten, seinen Namen unter die Empfangsbestätigung und legte eine Zehndollarnote daneben. Die Miene des Kellners veränderte sich nicht, aber die Verneigung, als er wegtrat, hätte bei jedem Hofzeremoniell als Ehrfurchtsbezeugung für eine Majestät gepaßt.

Noch ehe die Briefe in Elemers Brusttasche verschwanden, hatte Anderson seine Hand auf die freie Linke des Freundes gelegt. »Sag einmal, du, Geigerkönig, für wen wucherst du denn so?«

Radanyis Gesicht wurde weich und kinderhaft jung. Seine Augen glänzten in dem hellen Licht der Lüster auf, wie Sonnenflecken auf spiegelnden Wassern. Abwesend sah er an Anderson vorbei, während er ihm sein Geständnis machte: »Für ein süßes blondes Mädchen, das ich liebe!«

»Du liebst?« entfuhr es Anderson. –

Ueberrascht wandte sich ihm Radanyis Blick zu. »Ich liebe. Ja! – Du erlaubst es doch?« Er lachte vergnügt auf.

Andersons Hand drückte die seinen zitternd auf den weißen Seidendamast des Tisches. »Und blond ist dein Mädchen?«

Elemer nickte rasch hintereinander. »Ja – blond – und blaue Augen hat es, so blau, wie der Himmel zu Hause über der Pußta und lieben kann es – ach, Harald, wenn du wüßtest, wie es lieben kann!«

Andersons Gesicht zeigte zwei dunkelrote Flecken, das untrüglichste Zeichen, daß er aufs äußerste erregt war. »Dann ist es gar nicht Ellen van der Veldt?«

»Wie kommst du darauf?« Radanyi zog die Hand unter der des Freundes heraus.

»Ich dachte nur –«

»Du dachtest? – Erlaube, auch Gedanken haben einen Untergrund!«

»Man sagt es allgemein!«

»So? – Sagt man das? – Dann nimmt man es eben mit der Wahrheit nicht sehr genau. Die Zeitungen haben kürzlich auch solch großen Unsinn in die Welt gesetzt. Wenn mir noch einmal ein Reporter auf das Zimmer kommt, fliegt er hinaus.«

Radanyi goß rasch nacheinander zwei Gläser Sekt hinunter. Rücksichtslos fuhr er mit sämtlichen fünf Fingern der Rechten in sein sorgfältig frisiertes Haar. »Daß du so etwas glaubst, hätte ich am wenigsten für möglich gehalten, Harald!«

»Du bist so oft bei van der Veldt!« sagte Anderson zögernd. »Du auch!« kam es prompt.

»Ich zähle nicht für Ellen!« Aus Andersons Ton klang eine gewisse Wehmut.

»Und ich will nicht gezählt sein!« erwiderte Elemer schroff. Die hochaufgeschossene, überschlanke Gestalt des Amerikaners reckte sich. »Und dein Mädchen – ich meine dein blondes Kind – ist dir das Braut oder nur Geliebte?«

Radanyi antwortete nicht. Aber die Abweisung stand nur zu deutlich auf seinem Gesichte geschrieben.

»Verzeih, Elemer!« Harald reichte ihm die Hand über den Tisch. »Ich habe ungeschickt gefragt! – Nicht wahr?«

»Sie ist mir Braut!« kam es erregt. Elemers Finger spannten sich fest um den hohen Stiel des Sektglases.

Harald goß es voll, daß es überschäumte. »Ein Hoch auf die Braut und auf dein Glück, mein Lieber, und auf das ihre!«

Sie tranken die Kelche bis zum letzten Tropfen leer. Als Elemer den seinen zurückstellte, hielt er zwei Hälften in der Hand. Er war fast geometrisch genau in der Mitte abgesprungen.

Radanyi sah ihn aus jäh erblaßtem Gesichte an und blickte dann auf den Freund. »Was bedeutet das, Harald?«

»Nichts!« lachte Anderson. »Was sollte es auch bedeuten! Du hast ein bißchen fest zugefaßt, das ist alles. Ich wußte übrigens gar nicht, daß du abergläubisch bist!«

»Das sind die Zigeuner alle!«

»Bist du ein Zigeuner, Elemer?«

»Ein halber!«

»Wie interessant. – Ich wollte ich könnte mit dir tauschen!«

»Um Ellen van der Veldt willen?«

Anderson nickte resigniert und besah sein Bild in dem wandhohen Spiegel, der ihm gegenüber zwischen zwei Marmorsäulen eingelassen war. Hagere Formen, ein eckiges, scharf geschnittenes Gesicht, das jeden Tag vom Friseur bearbeitet wurde, von dem etwas widerspenstigen Blondhaar angefangen bis zu der allerkleinsten Bartstoppel. Gar nichts, das ein Mädchen zur Begeisterung entflammen konnte.

Radanyi lachte. Er hatte die schweigende Selbstkritik des Freundes mit aufmerksamen Augen verfolgt.

»Du bist nicht mit dir zufrieden, Harald?«

»Nein!« Es wurde obendrein von einem heftigen Kopfschütteln begleitet.

»Wir sind samt und sonders undankbar. Bedenke doch, daß unsere Stammeltern nach Darwin Affen gewesen sind. Haben wir uns trotz allem nicht herrlich entwickelt, insbesondere wir beide?«

Andersons Lachen, das diesem Ausspruch Radanyis folgte, rief ein halbes Dutzend von Amerikanern herbei, die sich alle in der Nische häuslich niederließen. Man lachte, trank, politisierte, schloß Wetten ab, vereinbarte Zusammenkünfte, nur von Geschäften sprach man nicht.

Es war schon gegen ein Uhr, als Radanyi die breite, mit tiefrotem Plüsch belegte Treppe seines Hotels hinaufstieg. Er hatte vier Zimmer der ersten Etage für sich gemietet. Der Wein prickelte ihm in den Gliedern, nur seine Füße waren etwas unbeholfen schwer. Aber gerade deshalb wollte er den Lift nicht benützen. Das Gehen brachte wieder etwas Leben in die Schenkel.

Er fühlte keinen Schlaf und warf sich angekleidet auf die breite Ottomane in seinem Schlafzimmer. Er rückte etwas zur Seite, um dem Bild seiner Träume Platz neben sich zu machen. »Süße, kleine Eve Mi!«

Er glaubte ihren Körper dicht an dem seinen zu fühlen. Weich und zärtlich strichen seine Finger über die Seide des Kissens, das neben ihm lag. Genau so zart waren ihre Wangen. Seine Arme hoben sich, sein Blut erregte sich bis zum heißesten Verlangen. Er griff hastend in die innere Tasche seines Rockes, warf die beiden Wertbriefe achtlos auf den zunächststehenden Stuhl und holte seine Brieftasche heraus. Sie hatte ihm damals beim letzten Abschiednehmen ihr Bild in seinen Mantel geschoben. Er hatte es erst einige Stationen später entdeckt. Das war sein kostbarster Besitz, den er immer mit sich trug und auch nun wieder in Händen hielt, ihn zu besehen. »Eve Mi! – Eve Mi!«

Er umschloß es in der Wölbung seiner Handflächen, als sei es die Braut selbst, die er umfangen halte. Seine Küsse brannten auf ihrem Munde. Jeder Zug ihres Gesichtes entfachte neue Sehnsucht in ihm. Er vermochte nicht mehr ruhig zu liegen, sprang auf und begann hin und her zu laufen, immer noch das Bild umschließend.

»In vier Wochen, Eve Mi! – In vier Wochen!« sagte er vor sich hin. Ob sie sich wohl Gedanken machte, warum er nicht schrieb. Aber sie wußte ja, daß er ganz ihr eigen war, daß er wiederkam, daß sie auf ihn zählen durfte. Nein, sie würde nicht an ihm zweifeln.

Er griff mit der Rechten nach seinem Taschentuche, es war ihm mit einem Male ganz heiß geworden. Er hatte es in seinem Fracke stecken gehabt und fühlte wie etwas Schneidendes ihm das Blut von den Fingern rinnen ließ. Erschrocken riß er den ganzen Inhalt der Tasche heraus und hielt die untere Hälfte des zerbrochenen Sektglases in der Hand.

Ratlos erstaunt drehte er das Stück zwischen den Fingern. Wie kam das an diesen Platz? Er konnte sich absolut nicht erinnern, es eingesteckt zu haben. Das war doch zu sonderbar.

Eva Marias Bild zur Seite legend, damit es nicht durch sein Blut beschmutzt werde, das von seinem rechten Daumen rann, drückte er auf einen der Elfenbeinknöpfe nahe der Eingangstüre.

Fast unmittelbar darauf erschien ein Bediensteter und frug nach seinen Wünschen.

»Etwas heißes Wasser und einen Streifen Gazeverband,« erbat sich Radanyi und sah dabei dem Manne forschend ins Gesicht. Es war ihm so bekannt, aber er wußte nicht, wo er es unterbringen sollte.

Da war es auch schon verschwunden, denn der Diener hatte sich sofort wieder zum Gehen gewandt, das Verlangte herbeizuholen.

Radanyi vergaß vollständig auf seine Schnittwunde und strengte sein Gedächtnis an. Wo hatte er nur diesen Menschen schon gesehen? – Oft gesehen? – Eine Bewegung desselben war ihm insbesondere im Erinnern haften geblieben. Er sah ihn mit erhobenen Armen etwas in Schränke legen oder aus ihnen herausnehmen. – Er verbiß sich ganz darein, das Wann und Wie zu finden. Aber es war zwecklos. Er fand es nicht.

Inzwischen war der Bedienstete schon wieder zurückgekommen. Ohne zu fragen oder viele Worte zu machen, wusch er den verletzten Daumen, ließ einen Tropfen karbolähnlich riechenden Öles darüber tropfen und machte einen kunstgerechten Gazeverband um das ganze Glied.

Radanyi hatte ihm wortlos zugesehen. Er ärgerte sich, daß sein Gedächtnis ihn so im Stiche ließ.

»Wünschen Herr Radanyi noch etwas?« kam es höflich.

»Nein! Danke! – Aber sagen Sie einmal,« er hielt den Mann an den glänzenden Knöpfen seiner Livree fest,»»haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen oder auch gesprochen oder so – ich finde absolut nicht mehr, wann und wo das gewesen ist!«

Ein flüchtiges Lächeln zuckte über das Gesicht des Bediensteten. »Jawohl, Herr Radanyi! – Ich stand früher im Dienste des Grafen Warren in Wien und hatte die Ehre Ihr persönlicher Diener zu sein, als Sie damals von der Pußta herauf in das Haus in der Herrenstraße kamen!«

Radanyis ganzes Gesicht strahlte. »Ja! Wahrhaftig. Und Sie haben mir damals am ersten Tage beim Umkleiden geholfen!«

»Jawohl, Herr Radanyi!«

»Damals und heute!« Elemer lachte. »Und wie geht es Ihnen hier?«

»Nicht gut, Herr Radanyi!«

»Nicht gut? – Ich dächte, gerade hier sei so recht der Boden, sich Geld zu holen!«

»Schon, Herr Radanyi. Aber man wird auch leichtsinnig dabei. Man kommt in allerlei Gesellschaft, sieht den Prunk und den Luxus, weiß wie's die anderen treiben, denen der Dollar angeboren ist, und das – das hat mich ruiniert!«

»Sie wollten es auch so haben?« frug Elemer.

»Ja, ich wollt es auch so haben, Herr Radanyi. Weniger für mich, als für meine Frau und meine Kinder. Ich habe angefangen zu spielen. Erst mit kleinen Summen, dann mit großen, habe wechselnd Glück gehabt, aber dann hat es mich verfolgt, als ob ich einem Falschspieler in die Fänge gegangen wäre. Schlag auf Schlag verlor ich. Und immer wieder begann ich von neuem, weil ich glaubte, einmal müsse es doch wieder anders kommen. Aber es blieb immer wie es war. Und jetzt stecke ich bis über den Hals in Schulden und es wird nicht mehr lange dauern, werde ich hier vor die Türe gesetzt sein. Zu spielen ist dem Personal verboten. Es hilft eben alles zusammen, daß ich nicht mehr herauskomme aus dem Schmutz. Schon seit Tagen trage ich mich mit dem Gedanken, wie ich mich und Frau und Kind am raschesten aus dem Leben schaffe.«

»Das ist feige!« sagte Radanyi mit einem kühlen, abweisenden Blick.

»Feige?« Der Mann lachte bitter auf. »Das sagt man, wenn man die Not nicht kennt. Sie wissen nicht, was das ist, Herr Radanyi: ein krankes Weib zu Hause, das vor Kummer und Aufregung dahinsiecht und nicht einmal mehr eine Träne findet, und die Kinder – wenn ich heimkomme, hängen sie an meinem Rocke und betteln um ein Stück Brot und ich kann ihnen keins geben, muß zusehen, wie sie hungern und matt und hager werden, weil alles, was ich verdiene, den Spielerkomplizen gehört. Da ist das weniger feige, wenn ich der ganzen Misere so bald als möglich ein Ende mache!«

Elemer entledigte sich, ohne etwas zu sagen, seines Frackes. Behutsam hatte der Bediente mit zugegriffen und schob vorsichtig den Ärmel über den Verband des Fingers. Dann kniete er nieder und löste ihm die Schuhbänder. Alles, als sei er noch in Warrens Diensten.

»Wie heißen Sie?« frug Radanyi

»Rinker! – Konstantin Rinker!«

»Wie hoch beläuft sich Ihre Spielschuld?«

Der Mann erhob sich verlegen und machte eine abwehrende Bewegung. »Ich weiß schon, Herr Radanyi. Sie wollen mir helfen. Aber es hat keinen Sinn. Das Gold wäre für Sie so viel wie verloren. Es würde ein halbes Menschenalter dauern, bis ich die Summe wieder zurückbezahlen könnte.«

»Sind es mehr wie zweitausend Dollar?«

»Nein! Um hundert weniger!«

Elemer nahm die beiden Wertbriefe vom Tische und reichte sie Rinker. »Nehmen Sie! Das reicht gerade.«

Der wußte nicht, wie ihm geschah. Da hatte ihn der Geigerkönig schon vor die Türe geschoben und drehte den Schlüssel hinter ihm im Schloß.

»Herr Radanyi! – Herr Radanyi!« hörte er draußen rufen.

»Gehen Sie!« gab er gedämpft zurück. »Machen Sie Ihre Schulden quitt und kaufen Sie Ihren Kindern Brot – und spielen Sie nicht wieder!«

»Nie wieder!« Dann ein rauhes Aufschluchzen.

Rinker kniete vor der Schwelle und preßte sein Gesicht gegen die Wandung der hohen Flügeltüre, hinter der Radanyi sich zur Ruhe legte. »Gott segne ihn! – Gott segne ihn!« Es war seit Monaten das erstemal, daß Rinker wieder zu seinem Gotte mit einer Bitte kam.

Gleich einem orangefarbenen Vorhang hing der Abendhimmel über der Millionenstadt Newyork. Dieses Rotgelb drang selbst durch die Schicht von Dunst und Dampf und aufsteigenden Nebeln, welche über dem endlosen Häusergewirr lagerte. Die Straßen erschienen wie mit einer ockergelben Flut übergossen. An den tausenden von Fenstern rann sie herab und tauchte alles in ein unwirkliches, wesenloses, unirdisches Licht. Die Wolkenkratzer tauchten wie Gralsburgen aus der mattgoldenen Helle, ihre Fenster brannten, die Mauern schienen aus gleißendem Erz geformt. Die mächtigen bronzefarbenen Zeiger der Riesenuhr an einem der Geschäftshäuser erschienen wie aus reinem Gold gehämmert. Man staunte über das seltene Schauspiel. Aber man blieb nicht stehen. Newyork hatte keine Zeit für Natur und Sentimentalität. Unaufhaltsam weiter raste die Zeit und mit ihr die Menschen.

Elemer Radanyi stand an einem der Fenster seiner Mietwohnung im Astorhotel und sah an die rasch verblassende Glut des Himmels, der sich ihm in engem Umkreis bot. Er empfand urplötzlich ein lebhaft schmerzliches Sehnen nach zu Hause. Nach der Pußta mit ihrer unendlichen Weite. Nach der zarten Gestalt der Mutter und dem gütigen Gesichte des Großvaters. Nach dem Csikos und seinen Pferden, nach dem trägen Wasser des Hortobagy und der armseligen Lehmhütte, in der die alte Karin wohnte.

»Karin!«

Die Sterne hatten doch getrogen. Es war wohl ein Schatten in sein Leben gefallen – damals, als er sich mit Eva Maria entzweite – aber es war alles wieder gut geworden. Eve Mi war sein. Mochte kommen was wollte, wenn sie sein Weib war, würde auch das Schlimmste zu ertragen sein.

Er verschränkte beide Arme und starrte nachdenkend in die immer mehr verlöschende Glut. Wie würde das sein, wenn sie ihm einmal ganz zu eigen war. Er sah sich vor ihr knien, den Kopf in wonnevollem Ausruhen in ihren Schoß gelegt, wie damals an dem Abend, ehe er von ihr ging. Er glaubte die Kühle ihrer Finger an seinen Wangen zu fühlen und ihre Tränen zu verspüren, wie sie auf seine Hände rannen. So – genau so würde sie vielleicht nun weinen, weil er nichts von sich hatte hören lassen, acht volle Monate lang. – Arme kleine Eve Mi! Ein Jahr lang hatte er warten wollen, ihr Nachricht von sich zu geben, aber er konnte nicht mehr. Jetzt – jetzt sofort sollte sie ein paar Zeilen haben, daß sie wußte, daß er ihrer gedachte.

Mit ein paar Schritten war er am Schreibtisch, riß eines der Schubfächer auf und entnahm ihm einen der großen Leinenbogen, auf die er zu schreiben pflegte. Als wäre nun jede Minute ausschlaggebend, so hüpfte die Feder über das gerauhte Papier.

»Mein blondes Lieb!

Seit jenem Abend, an dem Du mich zum Glücklichsten aller Sterblichen gemacht hast, sehnt sich jeder Nerv meines Lebens nach Dir, Eva Maria! Aber erst heute kann ich Dir schreiben, ich vermag Dir ein Heim zu bieten, das Deiner würdig ist. Das war auch der Grund meines Schweigens und dann auch der, daß ich wußte, Du würdest niemals an mir zweifeln. So wahr der Himmel über der Pußta steht, so sicher durftest Du auf mich hoffen. Du weißt es ja. In vier Monaten läuft mein Kontrakt ab. Und dann komme ich, Eve Mi, Dich mir zu holen. Der Gedanke macht mich zeitweise schwindeln vor Glück. Ich danke Dir für Deine Treue und daß Du mir Deine Liebe bewahrt hast. Von heute ab sollst Du mit jedem Dampfer eine Post von mir bekommen. Hast Du geweint um mich, mein armes Lieb?

Vergib mir, wenn ich Dir weh getan habe, und harre nun auch noch die kurze Spanne Zeit in Treue Deines

Elemer.

NB. Kannst Du mir ein neues Bild von Dir schicken? Das andere von Dir geschenkte ist kaum mehr erkenntlich. – Ahnst Du weshalb. Wenn Du zu Meister Haller kommst, dann sag ihm, daß ich in Bälde wiederkäme. – Ich habe ihm bereits in Hamburg zu wissen gemacht, daß Du meine Braut bist.

Nochmals in Treue

Dein Elemer.«

Radanyis Hände zitterten, als er die Adresse schrieb. Wann ging der nächste Postdampfer nach Europa?

Er klingelte und ersuchte um den Überseekurs.

Rinker, der Tagesjour hatte, versprach sofort nachzusehen. Als er wieder zurückkam, legte er den aufgeschlagenen Kurs der Postdampfer vor ihn hin. »Und eine Neuigkeit habe ich für Sie, Herr Radanyi!« meinte er schmunzelnd.

»Das wäre?« Radanyi sah ihn gespannt an.

»Kennen Sie den Herrenreiter Gellern?«

»Ja, doch, was ist mit ihm? – Doch nicht verunglückt?«

»Nein! – Aber er hat sich verheiratet, und zwar mit der Komtesse Warren!«

Zwei weitgeöffnete Augen starrten Rinker an. Radanyis Gesicht ist verändert, wie das eines Menschen, der im Todeskampfe steht. Ganz bleich und verzerrt heben sich die einzelnen Züge von der Muskulatur des Fleisches ab! »Sie haben sich getäuscht, Rinker!« würgt er mühsam hervor. Reglos liegen seine Hände ineinandergekrallt.

»Ich hab mich sicher nicht getäuscht, Herr Radanyi!« Es kommt stockend und unsicher. Ein Verstehen dämmert in dem Bediensteten auf.

Aber er kann nicht mehr anders, ein Zurücknehmen ist unmöglich. Langsam, zögernd nimmt er ein Blatt aus der Tasche, es ist aus einer illustrierten Zeitschrift herausgeschnitten und sorglich zusammengefaltet. Dann reicht er es dem Geigerkönig.

»Hier – hier – steht es, Herr Radanyi.«

Vor Elemers Augen tanzen rote Punkte, werden schwarz und grün und wieder rot und wieder schwarz und wieder grün. Sein Gesicht ist grau. Immer wieder liest er die eine Zeile der Familiennachrichten des Wiener Journals von vorne:

Der bekannte Herrenreiter Gellern hat sich vergangenen Dienstag mit der Komtesse Warren, der einzigen Tochter des Grafen Warren, vermählt.«

»Vermählt! – Vermählt!«

Beide Hände drückt Radanyi gegen den Mund. Hat er geschrien? – Er weiß es nicht. – Er sieht nur, daß zwei angsterfüllte Augen an seinem Gesichte hängen. »Gehen Sie, Rinker! – Gehen Sie! – Ich finde alles allein!«

Er wußte nicht, was er allein finden wollte. Nur einen Zweiten konnte er jetzt nicht neben sich brauchen.

Seine Hände ballen sich um das Blatt. Noch ehe der andere die Türe hinter sich ins Schloß drückt, bricht er in einem Stuhl zusammen.

»Herr Radanyi!«

Abwehrend hebt dieser die Hand. »Gehen! – Allein sein!« –

Als kleiner, zusammengeraffter Knäuel fällt das Blatt aus Radanyis Fingern auf den Perser. Dann kommt ein verzweifeltes Wimmern, ein Stöhnen, wie von einem waidwund geschossenen Tiere. Die Arme verschränken sich auf den Knien, der Oberkörper sank weit nach vorne, immer tiefer, bis das Gesicht auf die übereinandergelegten Arme zu liegen kam. –

Kein Laut wurde mehr hörbar.

Rinker horchte klopfenden Herzens. Er begriff alles. Aber es ließ sich nichts mehr ändern. Nur allein durfte man den armen Menschen jetzt nicht lassen. Um keinen Preis.

Er stürzte in eines der zunächstliegenden Zimmer und drehte die Kurbel des Tischtelephons. Anderson – war am meisten bei dem Geigerkönig aus- und eingegangen. Der mußte kommen und bei ihm bleiben, bis das Aergste überstanden war.

Es sind nur wenige Sekunden und doch eine endlos lange Spanne Zeit, bis die verlangte Nummer sich meldet.

Erschöpft hängt Rinker nach wenigen Worten der Zwiesprache den Hörer ein.

Er wich nicht von Radanyis Türe, bis Harald Anderson aus dem Lift sprang. »Elemer!«

Radanyis Gesicht hob sich nicht.

»Elemer! – Was ist dir?«

An den Schultern hob Anderson den Freund hoch. Zwei ausdrucklose Augen richten sich auf ihn.

»Harald – wenn du barmherzig sein willst, – dann geh!«

»Nein! – Würdest du gehen, wenn du mich so fändest?«

Ein Stöhnen ist die Antwort.

Anderson schob den Arm unter den Elemers und ging mit ihm nach dem Ruhebett, das im Dämmerlicht des einen Fensters stand. Dort drückte er den nun völlig Willenlosen nieder.

»Sprich doch, mein Lieber! – Wie soll ich dir helfen können, wenn ich nicht weiß, was dir ist!«

»Mir kann niemand helfen!«

»Ist dir jemand gestorben, Elemer?«

»Ja!«

»Die Mutter?«

Radanyi verneinte mit einem Kopfschütteln.

»Die Braut?«

»Ja!«

»So plötzlich?« forschte Harald. Und dann in jäh erwachtem Mißtrauen über das Gesagte drang er weiter in ihn. »Sag doch, Elemer – ist sie wirklich gestorben?«

Radanyi wandte sein verstörtes Gesicht zur Seite und stützte den Kopf in beide Hände.

»Elemer!«

»Sie hat einen andern genommen!« Jedes Wort verriet die Qual, die er in sich trug.

»Du Armer! – Aber nein, du bist es ja nicht. Sie war es nicht wert, daß du sie geliebt hast. – So eine! – Die hätte dir auch als Frau die Treue nicht gehalten.« Anderson sprach sich in Zorn. Solche Weiber gab es, so niederträchtig erbärmliche Kreaturen, die sich immer dem in die Arme warfen, der ihnen am nächsten war. Wenn ein Mädchen Radanyi die Treue nicht hielt, das mußte schon eine ganz minderwertige Sorte sein. Es war nicht schade um sie.

Die Hauptsache war, daß Elemer jetzt über diese fatale Tatsache hinweg kam. Man mußte ihn mit allen Mitteln aus dieser gefährlichen Stimmung reißen. Sonst ging er womöglich zugrunde daran. Und den Triumph sollte sie nicht haben. Es gab solche Weiber, die sich brüsteten, wenn einer sich ihretwegen eine Kugel durch den Kopf jagte. Da sollte sie lange warten können, dieses – diese Dirne. »Dirne!«, wiederholte er ganz laut.

»Nicht!«, bat Radanyi und versuchte seinen Körper in eine gerade Haltung zu zwingen. »Sie hat ja noch keinen geküßt als mich – gar keinen – und nun den – den – andern.«

»Ha! – Die hat dich zuvor betrogen, wie sie dich jetzt betrog. Glaub es doch, Elemer!« Anderson geriet schon wieder in Zorn. Wie konnte man mit dreißig Jahren nur so unschuldsvoll naiv sein und alles für bare Münze nehmen, was ein Mädchen sagte. Aber das sah Radanyi ähnlich. Dem war jedes Wort lautere Wahrheit. Heute machte ihm die ihre Mätzchen vor und morgen eine zweite und den anderen Tag wiederum eine andere. Der brauchte in der Tat jemand, der die Augen für ihn offen hielt. Nun, es würde sich schon machen lassen, daß er nicht sobald wieder hereinfiel. Liebevoll legte er den einen Arm um Radanyis Schulter. »Du bleibst jetzt bei uns herüben. – Ueberall bist du willkommen, jedes macht die Türe auf, wenn du anklopfst, du brauchst nicht einmal zu klopfen, man holt dich, wenn du willst. Und wenn alles verwunden ist, diese ganze verdammt eklige Geschichte, dann fährst du hinüber und stellst dich eines Tages vor sie hin und lachst ihr ins Gesicht. Sie weint sich ja doch die Augen wund um dich. – Und morgen, meinetwegen schon heute Nacht, wenn du willst, fahren wir mit dem Expreß, oder wenn du es vorziehst mit dem Kraftwagen, an den Michigan. Dort habe ich eine Farm und zwei Kupferwerke. Du kannst jagen, fischen, schwimmen, rudern, was du willst. Und wenn du Verlangen nach einem Mädchen hast, findest du hundert für eine. – Sie sind alle rassig und hübsch dort unten, du kannst auch eine Blonde haben, – wenn es gerade eine Blonde sein muß.«

Gequält hob Radanyi die Hand.

»Wollen wir fahren, Elemer? – Ja! –«

Anderson drückte ohne weiteres Besinnen auf die Klingel.

Rinker kam im Sprunge angerannt. Als er das sorglos gleichmütige Gesicht des Amerikaners sah, beruhigte er sich.

»Packen Sie die Koffer von Herrn Radanyi. – Alles! – Verstehen Sie. – Lassen Sie alles in meine Wohnung schaffen. – Fünfte Avenue, Haus Anderson. – Am Telephon bestellen Sie von mir, daß ich morgen an den Michigan reise. – Herr Radanyi fährt mit mir. – Es ist zu packen für acht bis zehn Wochen. – Für den Morgenexpreß sind zwei Billette erster – Fensterplätze zu belegen. – Haben Sie verstanden?«

»Gewiß, Mr. Anderson.«

Radanyi machte kaum eine müde Gebärde der Abwehr. »Ich muß erst noch alles begleichen hier!«

Harald nickte. »Wird alles erledigt. –« Er trat in das Zimmer nebenan, schlug eigenhändig die schwere Seidendecke des breiten Daunenbettes zurück und schaltete die Nachtampel ein. Als Rinker zurückkam, sagte er ihm halblaut etwas ins Ohr.

»Sofort, Mr. Anderson.«

Nach zwei Minuten erschien er wieder, ein Glas Wasser und ein weißes Pulver in einem Päckchen auf einer Tablette auf die Marmorplatte des Nachttisches stellend.

»Geben Sie die Hälfte hinein, das genügt,« befahl Anderson. Dann ging er in das Zimmer zu Elemer und sagte in ruhigem, bestimmtem Tone, daß es Zeit sei, zu Bett zu gehen. Man müsse morgen früh heraus. Ohne Widerrede erhob sich Radanyi. Gierig leerte er das Glas bis auf den letzten Tropfen. Von dem weißen, kleinen Pulver war nichts mehr zu sehen.

Noch ehe er den Kopf gegen die Wand gedreht hatte, kam es über ihn wie ein Einlullen, ein sachtes Hinübergleiten, ein ungemein wohltuendes Gefühl des Geborgenseins.

Die Arme fielen in regloser Schwere über die Decke. Sorgsam legte Anderson sie zurecht. Er beugte sich über Elemer, horchte auf den Atem und schaltete das Licht aus.

»Ich bleibe hier!« sagte er zu Rinker, der die Koffer packte. Sie können ruhig weiter arbeiten. Es stört mich nicht. Wenn Sie fertig sind, bringen Sie mir die Hotelrechnung des Herrn Radanyi. Trinkgelder, Getränke usw. alles mit eingeschlossen!«

»Jawohl, Mr. Anderson!«

Harald trat an den Schreibtisch und begann zu ordnen. Ein Brief lag offen neben einem Stoß von Zeitschriften.

»Mein blondes Lieb!«

Er lachte verärgert. Der durfte ihm natürlich nie mehr zwischen die Finger kommen. Er faltete ihn zusammen und legte ihn in seine Brieftasche. Da war er am sichersten aufgehoben und vor jedem unberufenen Blicke geschützt.

Gegen ein Uhr war alles erledigt. »Um sechs Uhr will ich geweckt sein,« sagte er zu Rinker, der ihm gute Nacht wünschte. »Der Chauffeur hat um halb sieben Uhr am Haupteingang zu warten. Wann geht der Expreß auf die Minute?«

»Sechs Uhr achtundvierzig, Mr. Anderson!«

»Es ist gut!«

Mit einer Handbewegung war Rinker entlassen.

Um sechs Uhr achtundvierzig fuhr Radanyi mit seinem Freunde an den Michigan.


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