Josephine Schneider-Foerstl
Die Liebe des Geigerkönigs Radanyi
Josephine Schneider-Foerstl

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Gegen Anfang September war er so weit, daß er allein zu gehen vermochte. Dann ging es zusehends vorwärts. An einem recht sonnigen Feiertag hatte ich einen Wagen bestellt, kein Auto – weil ich glaubte, das könnte ihn besser freuen, und dann sind wir zusammen ein bißchen in die Runde gefahren, den Prater hinunter nach Döbling hinaus. Die Kinder haben ihn mit ihrem Jubel angesteckt. Er war sogar ein wenig vergnügt und sagte etwas von Schulden bezahlen, obwohl all mein Hab und Gut mit Ausnahme des kleinen Hauses von ihm ist, von seinem Geld, und dem, was er mir durch seine Geige verdient hat.

Aber dann hat es nicht mehr lange gedauert. Eines Tages war er nicht mehr zu halten. Alles Betteln, er sollte noch bei uns bleiben, hat nichts geholfen. Er wollte fort, heim, sagte er. In Wien könnte er nie ganz gesund werden.

Meine Frau hat ihm seine Koffer gepackt und ich hab sie ihm zur Bahn gebracht. Zwei Tage später habe ich ihn dann fortbegleitet. Auch seine Geige haben wir mitgenommen, die habe ich, als man ihn in die Klinik geschafft hatte, noch in der Nacht bei strömendem Regen mit meiner Radfahrlaterne in den Anlagen geholt. Sie stand noch auf der Bank, aber ich habe lange gebraucht, bis ich den Platz wieder gefunden hatte.

Ich bin bei Herrn Radanyi geblieben, bis es Zeit zum Abgang feines D-Zuges war. Ich wußte nicht, wohin er fuhr, weil er das Billett selbst gelöst hatte. Aber ich glaubte gar keine Angst um ihn mehr haben zu müssen. Er war sehr ruhig und vernünftig und mir hat es sogar den Eindruck gemacht, als freue er sich auf etwas. Aber ich habe ihn nicht gefragt.

Als er in seinem Abteil stand, ließ er noch eilig das Fenster herunter, griff nach einer Visitenkarte in seiner Brieftasche und schrieb eine kurze Notiz darauf. Die Maschine war schon in Gang und ich lief neben seinem Abteil her und fing die Karte im Hute auf.

»Meine Adresse,« hörte ich ihn sagen, »für den Fall, daß Sie oder die Ihren mich einmal brauchen sollten.«

Ich schwang mich aufs Trittbrett, griff nach seiner Hand und küßte sie, dann ließ ich mich rasch heruntergleiten.

In ein paar Minuten war der Zug um eine Biegung verschwunden. Er hat noch mit seinem Hute gegrüßt, bis nichts mehr zu sehen war.

Und jetzt – und jetzt – Herr Anderson, hat wohl alles trotzdem noch ein böses Ende genommen, sonst würden Sie doch den Aufruf nicht in die Zeitung gesetzt haben.«

Harald stand mit glänzenden Augen. Er dehnte die Schultern und reckte seinen sehnigen Körper. »Lieber Herr Rinker, Ihre Nachricht ist mit Millionen nicht zu teuer bezahlt. Nicht wahr, Gnädigste?« wandte er sich an Eva Maria.

Sie hatte in lautlosem Weinen ihr Gesicht in beide Hände gepreßt. Einmal mußte sich die furchtbare Spannung der letzten Tage und Wochen entladen. So war es nicht mehr zu ertragen gewesen.

Anderson ließ sie ruhig gewähren. Es war das beste, sie weinte sich alles von der Seele. Das Leid und nun die Wonne des Bewußtseins, daß er nicht tot war, sondern lebte und es einen Fleck Erde gab, wo sie ihn finden konnte.

Er erklärte Rinker knapp, was ihn veranlaßt hatte, in der Zeitung nach der Adresse des Freundes zu fahnden. »Und nun lassen Sie mich die Karte sehen!« bat er, »damit wir ihn aufsuchen können!«

Rinkers Gesicht wurde abweisend. Die Brauen zusammengezogen, erhob er sich unvermittelt und strebte nach der Türe.

»Nun,« mahnte Harald verwundert? »Sie wollen nicht?«

»Nein, Mister Anderson. »Die Adresse gebe ich nicht aus den Händen. Wenn er noch lebt, mag ich keinen Judas an ihm machen. Ich müßte ja vor mir selbst ausspucken – und wenn er tot ist, hilft sie Ihnen so wie so nichts mehr!«

»Einen Judas an ihm machen? – Ich bitte Sie, Rinker, wie kommen Sie auf solch eine obskure Idee. Ich dächte, ich habe mich immer und jederzeit als sein Freund erwiesen.« Andersons Gesicht hatte einen hochmütig kühlen Zug bekommen.

Rinker zuckte die Achseln. »Das wohl, Mister, – Sie schon – aber – ich kann sie Ihnen nicht geben. Erlauben Sie, daß ich mich jetzt empfehle!«

Harald blickte erstaunt nach Eve Maria; die sich erhoben hatte und nun auf den ehemaligen Diener ihres Hauses zuschritt. »Konstantin – verzeihen Sie – Herr Rinker – ich weiß, warum Sie die Adresse nicht zeigen wollen – es ist meinetwegen. Ich trage die Schuld an allem. Und Sie haben ja Kenntnis davon. – Aber – ich habe so furchtbar gelitten dafür und bereut. Geben Sie die Adresse Mister Anderson. Er wird zu ihm fahren und mir Nachricht bringen, wie es ihm geht und ob er verzeihen kann. Mehr will ich nicht. Wenn ich dann weiß, daß er sich wohl befindet und er vergeben hat, will ich seinen Weg nie wieder kreuzen. – Ich verspreche Ihnen –«

Anderson trat heftig zwischen sie und Rinker.

»Nein, nichts weiter versprechen, Baronin. Man gibt nur sein Wort für das, was man unbedingt halten kann. Was Sie bereits zugesagt haben, das wird Herrn Rinker vollkommen genügen. – Ist es so?« wandte er sich an diesen.

Er zögerte noch. Da hob ihm Eva Maria beide Hände entgegen. »Bitte!« stammelte sie und war im Begriffe, sich nun auch noch vor ihm hinzuknien.

Das war mehr, als er erwartet hatte. Mit einer hastigen Bewegung riß er die Visitenkarte aus seiner Brusttasche und warf sie auf den Tisch. Ohne Andersons Zuruf, zu bleiben, Folge zu leisten, lief er aus dem Zimmer die Treppe hinab, die Straße hinunter und war nicht mehr zu sehen.

Harald nahm die Karte, da Eva Maria keinen Finger hob, nach ihr zu greifen.

»Elemer Radanyi – Debreszin, Ungarn,« las er mit einem stillen Lächeln. »Na, warte, mein Lieber. – Morgen reise ich, nehme die Ellen mit und den Meister Haller und meine Schwester, wenn mein Schwager nicht Zeit haben sollte, mitzukommen. So überfallen wir ihn, ob in der Nacht oder am Morgen, das ist ganz gleich. Wir umstellen die Csardas und fangen ihn ab, wenn er etwa einen Fluchtversuch machen sollte, und ... um Gotteswillen, Baronin –«, er griff hastig unter ihre beiden Arme.

Sie versuchte aufrecht zu stehen, aber eine Art Krampf schüttelte ihren Körper.

»Es – ist nur – das Herz!«, wehrte sie, mühsam nach Atem suchend. »Ich habe es in – letzter Zeit – schon öfter – so gehabt. Es ist gleich wieder vorüber!«

Er führte sie nach der Sofaecke und rief Ellens Namen durch die geöffnete Schiebetüre.

Sie kam im Augenblick. Ihr ganzes Gesicht strahlte. Der Zustand der Baronin Gellern machte es plötzlich besorgt. Sie kniete sich vor Eva Maria und liebkoste deren kalte Hände: »Nun nicht mehr weinen – nicht mehr weinen, bitte. Es ist ja alles gut,« tröstete sie. – »Ich habe alles gehört,« erklärte sie auf den erstaunten Blick Andersons. »Ich konnte es nicht erwarten und ich habe doch auch ein Anrecht an ihn. Wir haben ihn doch alle lieb!«

Harald sah ihr forschend in die Augen. Sie wich seinem Blick nicht aus und wußte, daß er dasselbe dachte wie sie, so lieb, daß sie sogar einmal sterben wollte um ihn.

Anderson entfernte sich für einen Augenblick, um Eve Maria eine Erfrischung zu holen. Sie knickte sonst vollkommen zusammen. Ellen streichelte deren Hände unablässig, um sie warm zu bekommen. Dabei sah sie deren wehmütig forschenden Blick.

»Kann ich Ihnen irgendwie etwas Liebes tun, Baronin?« sagte sie schmeichelnd.

Diese machte ihre Hände frei und nahm das von tiefschwarzem Haar umrahmte süße Gesicht behutsam darein.

»Haben Sie ihn so sehr geliebt, Ellen Anderson?«

»Ja – so sehr!« kam es ehrlich.

Eve Maria hielt sie mit beiden Armen fest gegen sich gedrückt.

»Arme, kleine Ellen! – Und ich –«

»Sie, holen ihn sich wieder, Baronin. So lange jemand noch unter den Lebenden ist, läßt sich alles wieder gut machen.«

Ein Kopfschütteln war die Antwort und ein paar Tränen, die Eve Maria über die Wangen rollten.

»Doch – doch!« beharrte Ellen Anderson und lehnte sich gegen deren Schulter.

»Nein, Ellen, es läßt sich nicht alles gut machen. Wenn ich ihn auch zurückholen wollte, es würde nichts nützen. Ich habe ihn endgültig verloren.«

Anderson kam mit einer Tasse Tee, belegten Broten und etwas Backwerk zurück. Gehorsam aß und trank Eva Maria. Sie fuhr eine halbe Stunde mit dem Ehepaar Anderson erst zu Haller und dann zu Ballin, diesen die freudige Kunde, die ihnen von Rinker geworden war, zu überbringen. Haller drückte ihre und Haralds Hände im Übermaß seiner Erregung. Alice Ballin fiel ihrem Bruder lachend um den Hals vor eitel Glückseligsein. Man vereinbarte, am übernächsten Tage in die Pußta abzureisen. Ellen brannte vor Neugierde, sie hatte noch nie Gelegenheit gehabt, die ungarische Steppe zu sehen. Nur Eve Maria stand still mit einem Zucken um den herb gewordenen Mund dazwischen und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Alles fuhr zu ihm. Sie mußte bleiben. Niemand dachte daran, sie auch nur aufzufordern, mitzukommen. Was hätte sie auch nur bei ihm getan? Sie, die seines Lebens Unglück geworden war. Er würde ihr wohl den Rücken kehren, wenn er sie sah, und ihr seine Verachtung zeigen. Sie hatte es nicht anders verdient.

Leid, das man selbst verschuldet hat, ist das bitterste, das man trägt, und die Reue, die man darüber empfindet, die größte. Die ganze Nacht weinte Eva Maria in die seidenen Kissen. Und wurde doch nichts anders darüber. Immer wieder tauchte das Wünschen empor, mitzukommen zu ihm. Im nächsten Augenblick schalt sie sich selbst als vermessen und unvernünftig. Niemand wollte sie, er am allerwenigsten. Es hieß bleiben und warten.

Sie wußte selbst nicht, auf was sie wartete. Aber gerade dieser Gedanke erschien ihr der größte Trost, daß vielleicht noch etwas kommen würde, etwas, von dem sie jetzt für den Augenblick selbst noch keine klare Vorstellung hatte. Und an dieses Etwas fing sie an, sich zu klammern.

So war auch der Abschied von dem Ehepaar Anderson, von Haller und Alice Ballin nicht so fürchterlich, als sie erst geglaubt hatte.

Ellen versprach ihr, sofort zu schreiben oder zu depeschieren. Man wollte in spätestens acht Tagen zurück sein. Der Herbst war in der Steppe kurz und der Winter brach oft unvermittelt über Nacht herein. Wenn es einigermaßen möglich war, wollten sie Elemer mit nach Wien bringen.

Der Stefan war alt und sagte von sich selbst, daß er auf den letzten Füßen gehe; der wollte den jungen Herrn noch einmal sehen und ihm zum Abschied Schöpsenrücken und weiche Rüben zubereiten. Da würde Elemer gewiß nicht zögern, zurückzukommen.

Aber sie kamen nach acht Tagen wieder allein. Radanyi war nicht zu bewegen gewesen, sich ihnen anzuschließen. Er hatte zwar versprochen, Stefan in den nächsten Wochen zu besuchen, um dann aber sofort wieder nach Hause zu reisen.

Alles Bitten und Zureden war ohne jeden Erfolg geblieben. Alice Ballin lachte über den Eigensinn des Neffen. Harald hielt ihm eine Moralpredigt. Ellen schmeichelte. Es war umsonst. Radanyi blieb.

»Sorgen Sie sich nicht, Baronin!« tröstete Anderson. »Er sieht verhältnismäßig gut aus. Etwas hager zwar, und auch ziemlich weiß im Haar, aber sonst wie früher. Seine Menschenscheu, die wird sich wieder beheben. Die Mutter und der Großvater verwöhnen ihn unsagbar. Er sitzt am Abend am liebsten mit den Zigeunern in der Schenke, ohne je selbst eine Geige in die Hand zu nehmen. Doch gibt es auch Tage, sagte seine Mutter, wo er mit dem Csikos die Nächte auf dem Pferde draußen in der Steppe verbringt. Das ist aber auf die Dauer kein Leben für ihn. Er muß wieder heraus. Am Ende glückt es doch, ihn zu überreden, daß er mit mir und meiner Frau wieder hinüberfährt, wenn wir zurückreisen. Versuchen will ich's!«

Eva Maria nickte, ohne etwas zu erwidern. Sie begriff sich nun selbst nicht mehr, auf was sie gewartet hatte. Es war alles zu Ende.

Und dann fuhren eines Tages Ellen und Harald Anderson wieder ab. Haller nahm seine Stunden im Konservatorium wiederum auf. Alice Ballin reiste nach St. Moritz für den Zeitraum von einigen Wochen. Eva Maria war sich in ihrem Leben noch nie so zwecklos erschienen und so gottverlassen, wie in diesem November. Am Allerseelentage stand sie am Grabe des toten Gatten und betete ohne Unterlaß, daß sie in Bälde die paar schuhtiefe Erde mit ihm teilen dürfe. Sie wolle nichts mehr vom Leben.

Als einige Tage später ein Brief der Tante Aebtissin aus Schottland eintraf, der sie einlud, dorthin zu kommen, sagte sie ohne weiteres Besinnen zu. Nur Abschied wollte sie noch nehmen, ehe sie für immer ging. Einmal wollte sie Elemer noch sehen und sich dann bescheiden.

Zwei Tage später fuhr sie mit dem Nachtzuge nach der Steppe ab. Ohne Gepäck, ohne jede weitere Vorbereitung. Nur eine kleine Lederhandtasche mit dem allernötigsten hatte die Zofe für sie gepackt und der Bediente ihr in das Abteil gelegt.

In drei Tagen wollte sie zurück sein und dann sofort nach Schottland wegreisen.

Trübe, nebelig, regnerisch hing der Novemberhimmel über der Pußta. Nirgends ist der Herbst so fürchterlich eintönig und an Tod und Sterben mahnend, als gerade in der Steppe. Keine schönen Morgen, an denen die Spinne ihr zartes Gewebe in die Luft hängt, nichts von goldgelbem Laub der Bäume, vom melancholischen Violett der hinsterbenden Wälder bietet sich dem Auge.

Wie eine riesige, angekohlte Schüssel liegt sie in der unendlichen Weite. Mit Heijoh und Heißa fährt der Sturm darein und wirbelt den feinen Staub zu Kirchturmshöhe, jeden Ausblick nehmend, zuweilen sogar den Atem raubend. Feucht und nebelschwer sind die Tage, Nächte mit krachender Kälte folgen ihnen. Die Hirten wickeln sich in ihre Pelze, die Schafe stecken die Köpfe zusammen, Pferde und Rinder sammeln sich in Gruppen und drehen den Rücken nach der Windseite.

Brechen die Stürme mit allzugroßer Gewalt herein, so daß Gefahr für Herden und Hirten droht, so suchen beide Zuflucht in den Windfängen, Wänden aus dicken, eichenen Bohlen, in Form einer Windrose mitten in der Steppe errichtet. Das ist der einzige Schutz, der ihnen zu Gebote steht.

In der Csarda stand der alte Radanyi und sah über die Landschaft. Vor kaum einer Viertelstunde war die Steppe noch voll schwachen Lichtes gelegen und nun schlugen Graupeln an die kleinen Fenster der Gaststube. Durch den Kamin kam ein Heulen und Wimmern, krachend fiel die schwere, eichene Haustüre ins Schloß; draußen im Flur wimmerten die beiden Wolfshunde und sprangen kratzend gegen die Bretterwand, welche die Küche vom Flur trennte. Als der Hagel ruhiger wurde, hob der Wind die leichtere Last von unzähligen tausend weißer, weicher Schneeflocken vom Boden zur Höhe, von wo sie zuerst herabgekommen waren. Man sah kaum auf zwei Meter Schrittweite vor den Fenstern. Ein einziger, großer, weißer Vorhang zog sich rings um das ganze Haus und hüllte die Stallungen ein.

Luise Radanyi trat unter die Oellampe, die an einem Haken von der Decke hing, goß sie voll und schnitt den schwarzen Docht gerade. Sie warf ein rotgelbes, nicht allzu helles Licht durch den Raum und schwankte noch leise von der Bewegung, die der lang herabhängende Draht erhalten hatte. Schweigend trat sie neben den Alten und blickte gleich ihm in das immer heftiger werdende Gestöber. Mit einem Seufzer wollte sie sich entfernen. Radanyi hielt ihren Arm für eine Sekunde fest.

»Ist er zu Hause?«

»Ja.« Aber es war wieder ein Seufzen.

»Wir müssen schauen, daß wir ihn fortbringen. Wenn er nicht freiwillig geht, dann durch List, oder sonst etwas!«

»Vater!« weinte sie auf und legte beide Hände auf seine Schulter und das Gesicht darauf.

»Weißt du sonst einen Ausweg, Luise? – Mir ist jeder recht. – Nicht? – Ich auch nicht. – Hierbleiben ist ausgeschlossen, wir dürfen nicht warten, bis er den Verstand verloren hat.«

»Vater!« schrie sie unterdrückt auf.

»Hast du es noch nicht bemerkt? – Er sitzt stundenlang, ohne etwas zu sagen, er horcht, ohne etwas zu hören. Seit der Amerikaner dagewesen ist und die andern, geht's abwärts mit ihm. – Früher hat er gesprochen, jetzt schweigt er. Keine zehn Worte bekommst du im Tage von ihm zu hören.«

»Sag, was ich tun soll!« klagte die arme Mutter. »Soll ich zu ihr fahren?«

»Zu wem?«

»Zur Baronin Gellern!«

Radanyi antwortete nicht sofort.

»Ja – fahr zu ihr. »Vielleicht hat sie ein Herz im Leib und kommt,« stieß er heraus.

»Soll ich heute noch reisen, Vater?«

»Du weißt nicht mehr, was du sprichst, Luise!« meinte er beschwichtigend. »Das beste Pferd brächte dich heute nicht die Hälfte Wegs nach Debreszin. Aber morgen vielleicht, gar lange dauert der Hexentanz da draußen nicht. Das wäre noch zu früh jetzt im November. Packe für alle Fälle was du brauchst für ein paar Tage. Und bring sie mit. Alles andere ist umsonst!«

Sie fuhr sich verstohlen über die Augen.

»Und du bist immer um ihn, Vater, du läßt ihn nicht aus den Augen, wenn ich weg bin!«

»Nein – ich laß ihn nicht aus den Augen. – Schon seit Tagen nicht mehr, sonst wüßt ich nicht, daß es allerhöchste Zeit ist, ihn wegzubringen!«

Mit beiden Armen umfaßte Luise Radanyi den alten Mann und drückte sich gegen ihn.

»Nur nicht den Kopf verlieren, Luise,« mahnte er. »Nichts merken lassen. Es gibt sich ganz von selbst, daß, wo er ist, auch ich bin. Er kann mir nicht aus. Weder bei Tag noch bei Nacht. Wenn du in Wien bist, teile ich mit ihm sein Zimmer.«

»Er wird es merken, Vater!«

»Nein! Er wird mir glauben, wenn ich ihm sage, daß meine Dachstube zu kalt ist für so alte Knochen, wie ich sie habe!«

»Und wenn er geht, den Csikos aufzusuchen?« frug sie bange.

»Dann geh ich eben mit. Ich habe lange nicht mehr nach den Pferden gesehen. Das weiß er und wird nichts dahinter finden!«

Luise nahm ihr Taschentuch und verwischte damit die letzten Tränenspuren, ehe sie aus der Gaststube trat, um nach Elemers Zimmer zu gehen.

Es lag vollständig in grauschwarzem Dämer, als sie bei ihm eintrat. Sie konnte nichts unerscheiden. »Elemer!« rief sie angstvoll.

»Mutter?« kam es aus dem Dunkel, dorther, wo der riesige, grüne Kachelofen eine angenehme Wärme ausstrahlte.

Sie tastete sich vorwärts. Er kam ihr langsam entgegen, griff nach ihrem Arm und zog sie mit sich nach dem Divan, der vor dem weißbezogenen Bette neben der Längsmauer stand.

Zwei Korbstühle leuchteten aus dem Dunkel, am Boden schimmerte ein weißes Fell.

Ein unbestimmter Duft von Blüten und Obst lag über dem Raume, der in seiner schlichten Einfachheit unendliches Behagen zu geben vermochte. Sie fühlte, wie seine Finger trotz der Wärme, die der Ofen ausstrahlte, kalt waren und daß er fröstelte.

»Frierst du, mein Bub?« sagte sie besorgt und wollte sich heben, das Feuer neu anzufachen.

Er drückte sie auf das Sofa zurück. »Laß, Mutter, es nützt ja nichts. Es kommt alles von innen.«

»Willst du es nicht hell haben, Elemer?« frug sie. Sie konnte nicht einmal sein Gesicht erkennen.

»Nein!« kam es hastig. »Aber es ist gut, daß du da bist, ich habe mich gefürchtet!«

Sie erschrak. Er ließ ihre zitternde Hand nicht los. »Wovor hast du dich gefürchtet, mein Bub?«

»Ich hab sie heute gesehen, Mutter!« raunte er ihr zu.

»Wen denn?«

»Mutter, du fragst noch?«

»Wo willst du sie denn gesehen haben, Elemer?«

»In Debreszin. – Ich bin heute hinübergeritten, meine Post zu holen, da hat sie an einer Straßenecke gestanden!«

»Elemer! – Bedenke doch. Wie sollte sie denn dorthin kommen. Eine Ähnlichkeit! Sonst nichts!«

»Mutter!« er beugte sich nahe zu ihr. »Du glaubst also nicht, daß sie es war!«

»Nein, mein armer Junge, gewiß nicht!«

»Sie reißt mir noch das Herz aus dem Leibe und lacht dazu!«

»Sei nicht ungerecht, Elemer! Sie ist nicht grausam! Weißt du nicht, was die kleine Ellen dir gesagt hat?«

»Das ist ja alles nicht wahr, Mutter. Niemand kennt sie so gut wie ich. – Ich bin vor ihr gekniet – gekniet Mutter – und sie hat »nein« gesagt! – Zweimal »nein«!«

»Schon in der nächsten Minute, nachdem du gegangen warst, hat sie vielleicht bereut!«

»Sie hat gelacht!«

»Ich hab es mit eigenen Ohren gehört, Mutter!«

»Du hast dich getäuscht, mein Sohn – geweint wird sie haben, gerufen – aber nicht gelacht.«

Er widersprach nicht mehr. Qualvoll in tiefster Seelenpein stöhnte er auf. »Ach, Mutter, wär ich doch ein Zigeuner geblieben.«

Sie fuhr wortlos rasch über beide Augen. Jetzt, im Dunkel konnte er wenigstens nicht sehen, daß sie weinte. Ja, es war wirklich höchste Zeit, daß er fort kam. Hier, wo er so gar keine Ablenkung hatte, wo er nur immer den gleichen Gedanken nachhing, ging er zugrunde. Sie verwand ihren Jammer und suchte ihrer Stimme einen gleichmütig-ruhigen Klang zu geben.

»Wenn du wieder reisen wolltest, Elemer, hier ist es so furchtbar eintönig im Winter, du bist die Gesellschaft gewöhnt und wirst dich langweilen!«

»Ach, nein! – Es ist ja alles nicht der Mühe wert.«

»Du irrst, mein Bub! – Jeder Tag bringt draußen in der großen Welt etwas Neues!«

»Für mich nicht, Mutter! Mir bringt er immer das Gleiche!«

Mit unsicheren Händen machte sie Licht. Als sie die dunklen Vorhänge zuziehen wollte, wehrte er bittend: »Nicht, Mutter! »Wenn alles so fest verschlossen ist, meine ich immer, ich liege in einer Totenkammer.«

»Solche Gedanken trägst du!« sagte sie vorwurfsvoll.

»Ja – solche Gedanken und noch andere – noch andere, die viel gräßlicher sind – Mutter, ich muß dich etwas fragen, sonst verzweifle ich darüber!«

»Frage alles, was du willst, mein Bub! Vielleicht bringt es dir Ruhe!«

Er sprang vom Sofa auf und lief durch das Zimmer, öffnete beide Fensterflügel und schloß sie wieder, sah nach dem Zifferblatt der Uhr, die neben dem großen, grünen Ofen pendelte und stieß den Riegel an der Türe vor.

»Elemer!«, mahnte Luise Radanyi. »Was ist es denn, mein Bub, hast du denn kein Erbarmen mehr mit deiner armen Mutter!«

»Erbarmen – Mutter – Hab du's mit mir« – er setzte sich neben sie und faßte ihre beiden Arme mit schwerem, hartem Griff der Finger. »Sag, Mutter – aber die Wahrheit muß es sein –« seine Augen hypnotisierten sie förmlich, gibt es – in unserer Familie – Geisteskranke?«

Sie zuckte zusammen. Ihr Mutterherz schrie auf in seiner Qual.

»Also doch –« sagte er mit einem rätselhaften Lächeln. »Ich habe mir's ja gedacht.«

Er ließ ihre Arme los und nahm seine Wanderung wieder auf. Vor dem Fenster blieb er stehen und legte die Stirne gegen die Scheiben, die einen feinen Schleier von Dunst über sich liegen hatten.

»Elemer, du irrst!« entgegnete Luise, die ihren Schrecken erst jetzt abgeschüttelt hatte. »Nicht ein einziger ist in unseren beiden Familien, der an Wahnsinn gelitten hätte. – Nicht einer! – Du darfst es mir glauben. Wenn du so etwas im Auge hast, dann grämst du dich umsonst, mein Bub.«

Er drehte sich hastig nach ihr um. »Aber ich – ich bin auf dem besten Wege ins Irrenhaus. – Der Geiger Radanyi ist wahnsinnig geworden, wird es heißen.«

Sie hob beide Arme und ließ sie ebenso rasch wieder sinken. Er las die Angst in ihren Augen, die seinen brannten sich hinein.

»Mutter, ich seh's ja kommen. Aber versprich mir's, daß ihr mich nicht zwingt zum Leben, wenn es so weit ist mit mir. Und Mutter – laßt mich nicht fortbringen – ich will nicht in der Fremde sterben. Ein Grab in der Steppe will ich haben, – bei dir, bei euch. – Wenigstens im Tode laßt mich bei euch sein. – Mutter – ach Mutter, warum habt ihr mich fortgeschickt.«

Sein Kopf fiel auf die Kante des Tisches, neben dem er sich niedergelassen hatte. Sie konnte es nicht mehr mit ansehen, wie er litt. Schweigend erhob sie sich und ging aus dem Zimmer. Er lief ihr nach und holte sie im Flur ein.

»Mutter!«

Sie wandte sich nach ihm zurück. Er legte von hinten beide Arme um ihren Hals und drückte sein heißes Gesicht gegen das ihre.

»Was ist es, mein armer Bub?«

»Nichts!« sagte er leise und ließ sie frei.

Die Haustür wurde aufgestoßen. Ein Geriesel von Pulverschnee stiebte in den matt beleuchteten Gang. Von draußen kam Pferdewiehern und ein unverständliches Schimpfwort.

Prustend, scheltend, stampfend, schob sich eine Gestalt durch die halboffene Türe, die der Sturm immer wieder in die Angel zurücktrieb. Man sah vorerst nichts als eine Mütze, die kirchturmartig auf einem breitknochigen Schädel saß.

Zwei Hände, in groben Fäustlingen steckend, rissen sie herab und schlenkerten die Schneelast der Haube mit einem Ruck zu Boden. Dann kamen die Schultern an die Reihe, auf denen weiße Tauben zu hocken schienen. Der große Schnurrbart sah aus wie zwei mit Zucker bestreute, weißkandierte Hörnchen. Immer wieder aber griffen die Fäustlinge nach den Schultern, um diese frei zu klopfen. Dann stampften die Füße auf, die in hohen, weiten Pelzstiefeln steckten. Eine ganze Lache Schneewasser rann um den Fremden. Wie kleine Quellen träufelte es von Mütze, Mantel und Beinkleid, das in die hohen Schäfte gepreßt war.

Das Poltern und Schimpfen verstummte. Ein rundes, von Kälte dunkel gerötetes Gesicht lachte dem alten Radanyi, der zur Begrüßung aus der Stube herauskam, an.

»Ein Teufelswetter – was? Da bleib einer auf dem richtigen Weg. Solche Gäule, die sind sonst verlässig wie ein Kompaß, wenn's nach Hause geht, aber heut hat sie alles im Stich gelassen und mich mit. Die Schneewehen so hoch,« er zeigte in Leibesmitte, »und ein Wind dazu, der einem das Blut zum Stillstand bringen könnte so verdammt kalt. Und eine Finsternis, daß keiner sehen kann, ob seine Gäule schwarz oder weiß sind. –«

Er trat hinter Radanyi in die warme Stube.

»Aaaah!« Die Mantelenden flogen auseinander. Eine dicke, schwarze Lederjoppe kam darunter zum Vorschein und ein Schal, der zweimal um den Hals geschlungen, lang herunterhing. »Kannst du mich behalten, Radanyi? – Dort auf der Bank ist Platz genug. Und die Gäule ducken sich auch im Stall und kuscheln sich zusammen. Die beißen und bocken nimmer heut. Das ist uns dreien vergangen!« kam es mit einem gemütlichen Lachen hinterdrein.

»Dann bleibt ihr halt!« nickte Radanni. »Du und die Gäule. Kommst du von Debreszin?«

»Ja – Geschäfte, – nicht grad besonderes gute –, wie's eben kommt, geniert mich nicht. – Ein andermal ist es wieder besser.«

»Willst du Glühwein haben, Bella?« forschte Radanyi und wandte sich zur Türe.

»Bewahre! – So schlimm steht's nicht. Bring, wie du ihn hast. Brot hab ich selber und eine Schöpsenkeule auch, so groß, daß ein halbes Dutzend davon satt werden.«

Das tiefe, gemütliche Lachen klang wieder durch die Stube.

Elemer war eingetreten und musterte den Gast.

»Guten Abend auch, Elemer –« grüßte der Fremde. »Den Bella, den kennst du wohl nimmer, was? Hab dir den Braunen seinerzeit gegeben, weil du so vernarrt in den Wallach warst: weißt du noch?«

Elemer reichte seine weiße, kühle Hand über den Tisch.

»Guten Abend!« sagte er freundlich.

»Krank gewesen?« erkundigte sich der Pferdehändler. »Das wird sich aber jetzt bald geben, wenn man so ein schönes, junges Weib um sich hat!«

Der alte Radanyi sah ihn verärgert an. »Was schwätzt du dummes Zeug. Mein Enkel ist nicht verheiratet!«

»Weiß ich schon,« kam es gleichmütig. »Es braucht ja nicht immer gleich ein angetrautes Weib zu sein. Obwohl die heut – die hat wirklich solide ausgesehen, so gar nicht!« er machte einen Hieb in die Luft, schnalzte mit den Lippen und lachte verstohlen für sich hin.

»Bella –«

»Tu nicht so!« kam es undeutlich zwischen den Zähnen, die gleichzeitig die Hammelkeule und große Stücke schwarzen Brotes zerkleinerten. »Sind auch mal jung gewesen, was Radanyi«, nickte er dem Alten zu.

»Bella!« würgte Elemer heraus.

»Jaaa?« Sein Mund schnalzte im Wohlgefühl des Sattwerdens. »Hast dir was Feines ausgesucht. Das paßt zu dir. Wenn ihr auch nebeneinander sein mögt wie Tag und Nacht. – So ein Haar hab ich nicht leicht noch wo gesehen. Wie Weizen, wenn er zum Schneiden fertig ist, und ihre Augen, da hast du gleich den schönsten, blauen Himmel neben dir. Geschmack hast du, Elemer!«

»Bella, du ...«

Die Augen Elemers starrten in die lustig zwinkernden des Pferdemaklers. Sein Gesicht trägt einen Ausdruck, als sei es das eines völlig Fremden. »Bella ... Du hast? ...«

»Ja, ja, ich hab sie mitgenommen von Debreszin her ein schönes Stück. Niemand wollte ihr Pferd und Wagen vermieten. Die Debresziner besitzen vorzügliche Nasen und haben den Sturm und den Schnee gerochen, da wollte sie es zu Fuß probieren! Herrgott, solch ein Einfall! Ein Weib und zu Fuß! Sechs Stunden, wenn es gut geht und schön Wetter hat. Da hab ich ihr neben mir Platz gemacht. – Die hat dich gern, was Elemer? Hast sie wohl schon gut aufgehoben in deiner Stube?«

Mitten im breiten Lachen verzog sich der Mund des Pferdehändlers in jähem Schrecken. Elemer stand vor ihm, die beiden Hände auf die weißgescheuerte Tischplatte gestützt. Bella fürchtete sich vor diesen unheimlich weit geöffneten Augen und diesem flackernden Blick.

»Bist du nicht gut zu sprechen auf sie? – Das konnt ich doch nicht wissen!«

»Wann!« schrie Elemer ihn an. – »Wann?«

»Sag's deutlicher. – Meinst du, wann ich sie aufgeladen habe? So gegen ein Uhr bin ich weggefahren. – Um vier hab ich sie abgesetzt, da draußen, wo die Pappelkrüppel stehen, die drei Stück, – du weißt es schon. – Ich hab ihr die Richtung gezeigt, wo die Schenke liegt. Sie konnte gar nicht fehl gehen. Und weit war es auch nicht mehr. Zwei Stunden. das hat sie ganz leicht machen können!«

»Bella? – –«

»So frag doch!« brummte der Händler. »Sie hat's ja auch getan und hat sich nicht geniert und wollte wissen, ob du daheim bist und was du treibst und ob du gesund bist. – Ich hab freilich wenig genug gewußt von dir, aber sie war's schon zufrieden. Sie ist wohl nicht gekommen, was?«

Elemer war nicht mehr in der Stube. Der alte Radanyi sprang ihm nach. Mit beiden Händen riß er ihn an der Haustüre zurück.

»Großvater, laß mich!«

»Sei doch vernünftig, Junge. – Sei vernünftig!«

Luise Radanyi kam gelaufen.

»Vater, was ist es?«

»Sie ist in Debrezin gewesen!« schrie Elemer. »Ich habe sie sehen, du hast mir's nicht geglaubt! Und nun irrt sie draußen durch die Steppe, jetzt – in Sturm und Schnee. – Mutter, sie ist ja längst tot – erfroren, erstickt in den Wehen, ertrunken im Hortobagy!«

Der alte Radanyi faßte den Enkel mit unbezwingbarem Griff seiner knochigen, muskulösen Hände.

»Du bleibst!« gebot er. »Was willst du draußen, so wie du bist, ohne Laterne, in Hausschuhen, ohne einen Stecken und ohne Sterne über dir, da kämst du weit!«

Ein Pfiff gellte durch die Csarda. Die beiden Wolfshunde schnellten auf und stellten sich sprungbereit. Aus der Schenke kam ein Knecht und rieb sich die Augen.

»Was soll es, Herr?«

»Die beiden Wallache!« befahl Radanyi. – Die Laternen blank! – Rasch! – Zieh dich um, wenn du mitkommen willst. Elemer!« er schob ihn nach der Türe seines Zimmers. »Schau, daß er sich ordentlich warm macht und winddicht!« sagte er zu Luise, die mit ihm verschwand.

Fünf Minuten später trat die kleine Karawane aus dem Hause. Bella, der Pferdemakler, knurrte etwas Unverständliches, aber er war trotzdem nicht zu bewegen, zurückzubleiben. Er schalt über die Weiber, den Wind, den Schnee, das schlechte Geschäft, die dummen Gäule, die verkürzte Nachtruhe und hörte nicht auf zu maulen, bis der alte Radanyi ihn zornig anschrie:

»Wärst du in der Schenke geblieben bei deiner Schöpfenkeule und deinem Roten. Kein Mensch hat dich geheißen mitzukommen. Mach kehrt oder laß dein Räsonnieren bleiben!«

Da schwieg er eine Weile und polterte bloß, wenn ein Windstoß ihm den feinen Pulverschnee zwischen die Zähne trieb.

Man hatte die Hunde erst an der Leine geführt. Dann ließ man sie los. Ohne einen Laut von sich zu geben, jagten sie dahin, die Nasen schnubbernd zu Boden haltend.

Der Knecht und Elemer saßen auf dem Rücken der beiden Wallache. Sie nahmen die Richtung linker Hand. Der alte Radanyi und Bella stapften rechts ab, den Pappelkrüppeln zu, von denen aber in dem undurchdringlichen Dunkel so viel wie nichts zu sehen war.

Der Schein der Laterne leuchtete kaum zehn Meter nach vorwärts. Es war ein armseliges, schmalspuriges Lichtbündel, das die Dunkelheit gierig in sich aufsog.

Elemer drückte die Zähne gegeneinander und tätschelte mit der freien Hand den Hals seines Pferdes, das absolut nicht gegen den Wind wollte, der meterhohe Schneewehen auftürmte. Es schien, als ritten und schritten diese Männer in einen gähnend aufgerissenen Schlund, aus dem es kein Zurück gab.

Die Haare und Bärte gefroren zu Eis. Nur Elemer tropfte das heiße Wasser von der Stirne über die Wangen in den Mund. Wie Blutgerinsel rann ihm der Schweiß den Rücken hinab, so warm und klebend.

»Dein Enkel ist ein Narr!« murrte Bella aufs neue. Jetzt bei Nacht was finden wollen. So ein Weib, das sucht sich schon einen Unterschlupf und erfriert nicht gleich!«

»Er wollte schon einmal sterben um sie!« warf der alte Radanyi kurzweg hin.

»Soo!«

Dann schwiegen sie wieder.

Von ferneher kam Hundegekläff und Pferdewiehern. Elemer trieb seinen Gaul immer wieder an und drängte nach vorwärts.

»Der Csikos!« durchfuhr es ihn. Der kannte die Steppe wie seinen Mantel. Dem focht es nichts an, ob sie grün, verkohlt, oder weiß war, er fand seinen Weg. Der mußte mitkommen und wenn die ganze Pferdekoppel das Weite suchte. Was lag an hundert Gäulen, wo es ihr Leben galt.

Schnauben und Stampfen von Pferdehufen klang ihm entgegen. Eine Gestalt löste sich aus dem Windfang und trat in das Licht der Laterne.

»Elemer! – Bei allen Geistern der Steppe, was treibt dich in das Hundewetter?«

»Csikos –« eine Flut von Worten stürmte auf den Roßhirten ein.

Der schüttelte sich, daß die Metallstücke, Münzen und allerlei Seltenheiten, die an seinem Leibriemen hingen, aneinanderklirrten.

»Langsamer, Elemer. – Ich kann dich nicht verstehen.«

»Mein halbes Leben will ich für dich geigen, wenn du sie findest!«

»Aaaah!«

Jetzt verstand der Csikos. »Sie ist unterwegs zu dir gewesen, Elemer?«

»Ja!«

»Und die Csarda verfehlt bei dem Teufelswetter!«

»Ja!«

»Das blonde Mädchen, das du einmal geliebt hast?«

»Ich hab sie noch nie so geliebt, wie in dieser Stunde!«

»Ich bring sie dir!«

»Csikos!«

»Ich bring sie dir – Bleib bei den Pferden!«

»Ich kann nicht bleiben – während sie umherirrt – vielleicht ist sie schon tot!«

»So schnell geht's nicht!« sagte der Hirte seelenruhig.

Diese übergroße Besorgnis schien ihm beinahe lächerlich. Sein Blut war bei zwanzig Grad Kälte noch ebenso flüssig und munter wie bei dem freundlichsten Frühlingswetter. Seine Muskeln und Nerven waren so elastisch, als käme er eben aus der Gaststube der Csarda von einer Flasche Roten. Seine Lammfellmütze war in den Nacken geschoben. Sie war ihm scheinbar zu heiß geworden.

»Also du bleibst, Elemer, oder ein anderer. Die Pferde laß ich nicht allein.«

Elemer rief nach dem Knecht, der ihn begleitet hatte, der war froh, wenigstens einigen Schutz zwischen den hohen, schweren Eichenbohlen zu finden. Er versprach hoch und heilig, daß nichts fehlen werde.

»Bis zu den Pappelkrüppeln hat der Bella sie gebracht!« legte Radanyi dem Csikos klar. »Von dort weg muß sie den Weg verfehlt haben!«

»Ich find sie schon,« kam es beruhigend.

»Du brauchst dein ganzes Leben keine Hand mehr zu rühren, wenn du sie mir bringst!« sagte Elemer in höchster Erregung.

»Das könnt ich nicht brauchen,« wehrte der Roßhirt. »Es kommt für jeden seine Zeit. Ich habe dir einmal gesagt, daß du auf mich rechnen kannst, zu jeder Stunde, und daß ich dir nie vergesse, was du alles für mich getan hast – die Decke und die guten Bissen für die Großmutter, den Wein und die Blumen für die Raja und daß du immer gut zu mir warst!«

»Csikos!«

»Laß nur – ich weiß schon, was du sagen willst. Halt dich auf die Csarda zu. Allzuwelt wird sie nicht sein!«

Dann verschwand er in der Nacht und zwischen den tanzenden Flocken.

Bei den Pappelkrüppeln hatte Elemer gesagt. Der Roßhirt fand die Richtung, wie ein Hund seinen Herrn, wie die Pferde ihren Stall.

Es war nichts zu erkennen. Ein paar Sterne und ein bißchen Mond, das hätte man ganz gut brauchen können. Aber es ging auch so. Er stapfte unbekümmert weiter, bis das Licht der Schenke mit einem dünnen Strahl in seine Augen fiel. »Teufel!« Er hatte versprochen, sie ihm zu bringen, das mußte also sein. Sie war ganz sicher ins Blinde gelaufen, wie die Spatzen ins Garn.

Der Wind flaute etwas ab. Auf dem weißen Schnee, keine zehn Meter von der Schenke weg, lag ein schwarzer Klumpen. Ein Wolf? Ein Mensch?

Mit ein paar langen Schritten nahm er die kurze Entfernung und beugte sich gegen das dunkle Etwas, das vor ihm hingestreckt war.

Sie war's!

Leblos, den Kopf zur Seite hängend, kniete sie in dem meterhohen Schnee. Bis hierher hatte sie sich durchgearbeitet und dann so kurz am Ziel, mochte sie die Kraft verlassen haben.

Behutsam nahm er sie auf und neigte sein Gesicht über ihr weißes, starres. Es war wohl höchste Zeit gewesen. So ein Weib hielt doch gar nichts aus.

Luise Radanyi fuhr erschrocken auf, als jemand gegen die Scheiben schlug. Sie sprang nach dem Flur und öffnete die Türe. Der Csikos, die leblose Last auf den Armen, stand verlegen vor ihr.

»Ich hab sie gefunden. – Gleich da draußen. – Ein bißchen steif sie ist – aber sonst glaube ich nicht, daß ihr etwas fehlt,« sagte er und tappte ihr nach, als sie, ohne ein Wort hervorzubringen, Elemers Zimmer vor ihm auftat.

Sorglich von seinen und Luisens Händen gehoben, legte man sie auf das schmale Sofa.

»Soll ich heißen Wein machen?« fragte der Roßhirt.

»Ja – ruf eine der Mägde, daß sie dir behilflich ist – aber macht schnell!«

Er hatte die Stube bereits verlassen.

Die Hände waren Luise Radanyi steif und ungeschickt vor Schrecken. Die nassen Kleider mußte man Eva Maria herunternehmen und ihr trockene überstreifen, heiße Flaschen mußten bereit sein, wenn man sie erst glücklich ins Bett gebracht hatte.

Der Csikos kam wieder und half ohne viel Worte zu machen.

Der Glühwein, den er brachte, war zwecklos, es glückte nicht, ihr welchen einzuflößen. Die Lippen waren fest geschlossen.

Alles was die Csarda an Decken besaß, schleppte Luise herbei. Der Roßhirt nickte Beifall.

»Wenn sie erst schwitzt, wird alles gut!« lobte er.

Draußen ging die Haustüre in den Angeln.

»Sie ist schon da!«

Der Csikos zeigte Elemer, der keuchend vor ihm stand, mit den Augen nach dessen Zimmertüre.

Luise Radanyi trat eben heraus.

»Mein Bub!«

Er lehnte sich mit geschlossenen Lidern gegen die Wand. Unter den Wimpern kollerten ihm die Tränen auf die hohlen Wangen.

»Komm!« bat sie und wollte ihn mit sich in das Zimmer ziehen.

»Nimm erst dein nasses Zeug ab!« erinnerte der Csikos. »Du machst mir sonst alles wieder voll Wasser!«

Ohne Elemers Zustimmung abzuwarten, schälte er ihn aus dem Mantel, der in der Wärme bereits zu tropfen begann. Er nahm ihm die Pelzmütze ab und schob ihm einen Stuhl zu, den er rasch aus der Schänke holte, und drückte ihn darauf.

Mit kundigen Händen half er dem Willenlosen aus den hohen Stiefeln. »Sind meine Pferde doch versorgt?« fragte er zwischenhinein.

Elemer nickte und ließ sich trockene Socken und Hausschuhe überstreifen.

»Ich mache jetzt, daß ich weiterkomme!« sagte der Csikos. »Laß sie schlafen, jetzt, Elemer, und mach ihr keine Vorwürfe mehr. Wenn sie liegen geblieben wäre, hättest du sie morgen tot gefunden bei deinem Fenster. An das mußt du denken, wenn du dich mit ihr aussprichst.«

Ehe Radanyi noch ein Wort erwidern konnte, war er verschwunden.

Zusammen mit der Mutter trat er an Eva Marias Bett. Beide Hände vor das Gesicht schlagend, sank er davor nieder.

Schweigend entfernte sich Luise. Der Sohn konnte in dieser Minute niemanden brauchen. Selbst die eigene Mutter nicht.

Als sie nach einer halben Stunde zurückkam, kniete er immer noch in der gleichen Stellung.

»Geh schlafen, mein Bub,« bat sie. »Ich bleibe bei ihr, kein Auge will ich zutun und wenn sie aufwacht, rufe ich dich!«

Er verneinte, ohne aufzustehen.

»Ich habe ihr so vieles abzubitten, Mutter!«

»Du, Elemer?«

Er nickte.

»Dann morgen!« drängte sie in ihn. »Laß es gut sein für heute!«

Er erhob sich und beugte sich über das blasse Antlitz in den Kissen.

»Mutter!«

Ihre Lippen bewegten sich leise. Sie fing die Tränen, die sich nicht mehr zurückdämmen ließen, damit auf.

»Mutter!«

»Ja, mein Bub!«

»Glaubst du, daß sie mich lieb hat?«

»Elemer!« klagte sie vorwurfsvoll.

Eva Marias Mund öffnete sich lallend.

Radanyi schob seinen Arm unter ihren Rücken und lehnte sein Gesicht gegen das ihre.

»Eve Mi! – –«

Ihre Augen öffnete sich weit. Ein Schrecken ließ ihren Körper zusammenzucken.

»Vater, ich will betteln gehen für dich, nur verkauf mich nicht.«

Elemers Kopf fiel auf ihre Brust herab.

»Was wird aus mir, wenn du mich vergißt!« klang es dicht an seinem Ohr.

Luise Radanyi sah, wie seine Schultern geschüttelt wurden. Das ganze Drama begann sich vor ihr zu entrollen.

Eva Marias Fieberausbrüche enthüllten alles. Ihre und seine ganze, schwere Schuld. Wog eine so viel wie die andere.

Gegen Morgen wurde Eva Maria ruhiger. Ihre Hände lagen regungslos zwischen denen Radanyis. Ein Lächeln glitt, wie ein huschender Sonnenfunke über ihr Gesicht.

Erst gegen Mittag, als eine matte, schwache Helle sich über die Steppe legte, erwachte sie, sah ihn an ihrem Bette sitzen und schloß mit einem Erschauern die Augen wieder.

Er rief ihren Namen.

Ein angstvoller Blick traf ihn.

»Vergib mir! – –«

Ihre kraftlosen Hände fielen im vergeblichen Bemühen, sie zu falten, übereinander. Er legte sein Gesicht darauf und küßte sie.

Wortlos liebkoste er ihre Wangen, die nun frei von Fieberröte in tödlicher Blässe lagen.

Sie bemerkte seinen suchend forschenden Blick.

»Du bist es nicht mehr, Eve Mi!«

»Nein, ich bin eine andere!« sagte sie leise.

»Wer hat das aus dir gemacht, mein Mädchen?« klagte er.

»Du, Elemer!«

Er sprach nichts mehr. Schwer fiel sein Oberkörper über ihre Decke.

»Liebst du mich noch?« hörte er sie sagen.

»Elemer!« schrie sie auf, als ihr keine Antwort wurde.

Da hob er den Kopf und zwang den Blick ihrer Augen in die seinen.

»Was fragst du mich, Eve Mi?« – Kann man ein Weib mehr lieben, als bis zum Wahnsinn?«

Ein Erschauern ging durch ihren Körper. »Elemer!« Ihre beiden Arme hoben sich nach ihm.

Er schloß die seinen um sie und bettete ihr Gesicht an seine Brust.

Leise hatte Luise Radanyi die Türe geöffnet. Ebenso geräuschlos schloß sich diese wieder.

Nichts sollte diese beiden heißgeliebten Menschen stören in der Stunde, in der endlich das Glück für sie gekommen war.

Ende


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