Josephine Schneider-Foerstl
Die Liebe des Geigerkönigs Radanyi
Josephine Schneider-Foerstl

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Er steckte den Browning zu sich, bezahlte und trat wieder in die Nachmittagssonne. Er ging wie im Traum die Ringstraße hinunter, sah die Menschen und sah sie nicht. So also entpuppte sich das Ende. Das war wenigstens der Mühe wert gewesen, herüber zu kommen. Harald würde lange warten müssen auf ein Lebenszeichen. Es war gut, daß er nicht an seiner Seite ging. Der überredete ihn gewiß auch diesesmal wieder, mit irgendwohin zu kommen, wo man eventuell vergaß. Er dachte an Haller. Solle er ihn begrüßen? Dann war es zugleich ein Abschiednehmen. Er fühlte nicht die Kraft dazu. Aber das Sehnen nach dem gütigen, grauen Augenpaar ließ sich nicht so rasch zur Seite schieben. Jedoch er durfte nicht. Wenn er erst wieder mit ihm und Stefan beisammen war, fand er vielleicht nicht mehr den Mut, das zu tun, war er zu tun im Begriffe war. Aber schreiben! Ein paar kurze, unverfängliche Zeilen, aus denen er nichts und doch alles lesen konnte.

Er trat in eines der Postämter an der Straßenkreuzung. Mit Tintenstift schrieb er an einem der Pulte auf ein Blatt seines Notizbuches sein letztes Grüßen. Gleich darauf fiel der Brief mit den wenigen inhaltsschweren Zeilen in die Öffnung neben dem Schalter.

»Vorbei!« sagte er aufatmend. Nun gab es nichts mehr zu erledigen. »Mutter!« sagte er leise vor sich hin. Sollte er? – Nein! Es war besser, sie wußte nicht, daß er ihr so nahe gewesen. Sie würde warten, bis er kam, jeden Tag, jede Nacht und mit ihr der Großvater. Und doch würde all ihr Sehnen und Harren vergeblich sein. Karin! – Wenig Sonne! Schatten, nichts als Schatten! hatte sie ihm damals zur Antwort gegeben.

Er fühlte sich mit einem Male müde und abgeschlagen. Die lange Fahrt, die gehabte Aufregung und die letzten Spuren der Grippe machten sich fühlbar. Er winkte einem Kraftwagen.

»An den Außenring, in die Anlagen!« sagte er und sank erschöpft in die Kissen. – Sein Kopf fing zu hämmern an. Feine schwarze Pünktchen tanzten an den Augen vorüber. Er schloß sie und öffnete sie in der nächsten Sekunde, vom Lärm der Straße stets von neuem aufgeschreckt. – Seine Nerven begannen zu fibrieren. In einer Stunde ist alles vorbei – alles vorbei – beruhigte er sich selbst.

Zwanzig Minuten später stoppte der Führer. Man war am Ziel.

Radanyi bezahlte weit über die Taxe. Zweimal riß der Chauffeur die Mütze vom Kopfe und sah ihm nach, wie er den Gangsteig hinunter schritt, die Geige in der Rechten.

»Komisch!« sagte der Führer laut vor sich hin. »Was macht der da draußen? Geld hat er scheinbar genug. Den drückt irgend etwas. Wenn man's oft wüßte, wär gar manchem leicht zu helfen.«

In den Anlagen herrschte geheimnisvolles Dämmern und weltentrückte Stille. Sonnenfunken spielten im Gras. Ab und zu schwankte ein Zweig, wenn ein Vogel sich aus dem Buschwerk in die freie Luft schwang. Träge, zeitverschwendend kroch eine Käferkarawane den schattigen Weg entlang. Die schillernden Augen einer Eidechse folgten ihr. Die Halme und Gräser standen reglos, kein Windhauch machte sie schwanken. Müde lehnten sie sich gegeneinander und warteten auf den Tau der Nacht, der ihren Durst stillte.

Radanyi ging langsam, wie einer, der nichts mehr zu versäumen hat. Der Ausdruck seines Gesichtes war friedlich und ausgeglichen. Er hatte ausgerungen mit seinem Lebenswillen. Nun würde er endlich die große Ruhe bekommen! Nach all dem Jammer und der Not der letzten Jahre der tiefe, lange Schlaf, aus dem keiner mehr ihn wecken konnte.

Eine breite Straße schnitt die Anlage mit einem Male in zwei Hälften. Einige Arbeiter kamen des Weges. Sie trugen blaue Kittel und Drahtrollen in den Händen. Lachend sahen sie, wie Elemer sich eiligst tiefer in das Dämmer drückte. Kopfschüttelnd sahen sie ihm nach. Der hatte zweifelsohne einen Sporn zu viel. Wahrscheinlich geigte der den Vögeln etwas vor. Sie riefen einem, der hinter ihnen nachkam, etwas zu. Gleichgültig schickte dieser die Augen in die Runde. Dann blitzten sie auf. – Ohne daß die anderen darauf achteten, blieb er zurück.

Radanyi bemerkte von dem allen nichts. Mit gesenktem Kopf ging er seines Weges. Eine Bank lugte versteckt aus dem Grünen. Er hielt vor ihr still, legte die Geige darauf, nahm sein Notizbuch und schrieb Hallers Adresse auf ein Blatt. Das klebte er am Kasten der Geige fest. Ein gleiches legte er in das Innere, dazu die Bemerkung, daß der Überbringer tausend Dollar Finderlohn zu beanspruchen habe. Das würde sicher seinen Zweck nicht verfehlen. Haller kam ohne jeden Zweifel auf diese Weise in Besitz seines Instrumentes.

Hinter ihm knackte es im Holze. Er sah sich um. Aber es blieb alles ruhig. Es mochte ein Wild gewesen sein, das hier einen Schlupfwinkel gefunden hatte.

Er nahm Eva Marias Bild aus der Brusttasche, betrachtete es und öffnete den Kasten, um es hineinzulegen. Besann sich, und steckte es wieder zu sich. Unbemerkt glitt es daneben und blieb im Grase liegen.

Ohne Hast schritt er weiter. Sein Gesicht wurde immer friedlicher. Er war nun vollständig mit sich im Reinen und konnte nicht begreifen, wie dieser eine kurze Moment, der noch vor ihm lag, so vielen den Mut zum Scheiden nahm.

Der kleine See in den Anlagen glitzerte im Strahle der untergehenden Sonne. Ein leiser Wind kräuselte die Oberfläche und machte sie schillern. Die Weiden, die ihr Gezweige tief ins Wasser senkten, erschauerten leise vom Wellenschlag. Kein Ton durchbrach die Stille. Tiefster Friede ringsum. Traumverloren sah Radanyi über die schimmernde Fläche. Ja, hier würde gut ruhen sein. Wie er sich sehnte nach der Ruhe und dem alles Vergessen, das ihm noch das einzig Begehrenswerte erschien. Über ihm begannen die Wipfel zu rauschen. Es wurde ihm ganz feierlich zumute. Alles in ihm war Andacht. Er faltete beide Hände. Dann lief ein Zittern durch seinen Leib – vergib uns unsere Schuld. –

Ein Schuß krachte in die Stille.

Verängstigt schrak ein Vogelpaar in das Dickicht. Ein Echo kam irgendwoher aus der Ferne. Weiße, durchsichtige Schleier krochen aus dem Wasser und lullten die Erde ein. – Die Erde, – die Radanyis Blut trank.

»Sie sollten reisen, verehrte Baronin!« sagte Eva Marias Hausarzt, der schon seit ihrer Krankheit kam, nach ihr zu sehen. »Sie sehen furchtbar angegriffen aus. Die Fremde wird Ihnen gut tun.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wo soll ich denn hin? – Ich habe niemand mehr. Es ist überall dasselbe!«

»Sie müssen sich aufraffen, liebe Baronin. Jeder erfährt einmal etwas Schreckliches im Leben. Da muß man dann eben nach allem greifen, was einem Zerstreuung bringt und die Gedanken ablenkt. Haben Sie nicht auch einen Besitz irgendwo da unten in der Pußta? – Da würde ich hingehen. Wir haben jetzt September. Da ist es noch schön in der Steppe, nicht mehr so heiß, auch noch nicht zu kühl, wollen Sie?«

»Nein!«

»Weshalb nicht?«

»Ich will hier bleiben!«

Der alte Herr seufzte auf. Resigniert empfahl er sich.

Und Eve Maria blieb und schleppte sich durch ihre Tage und weinte sich durch ihre Nächte.

Wenn der Herbstwind durch den Park fuhr und das rotfarbene Laub zu ihren Füßen raschelte, schrak sie zusammen und hüllte sich fröstelnd in ihren schweren Seidenschal. Sie hätte am liebsten einen halben Erdteil zwischen sich und Wien gelegt, und getraute sich doch nicht wegzugehen, aus Angst, ihn zu verfehlen. Nur wissen, wo er war, dieser eine Wunsch stand über allem anderen. Aber niemand wußte es. Ballins waren ohne jede Nachricht. Und zu Haller zu gehen, hielten Scham und Furcht sie zurück.

Sie hatte auf weit über ein Dutzend große Tageszeitungen abonniert, in denen sie seit Wochen vergeblich nach seinem Namen suchte, nach einer Ankündigung seiner Konzerte. – Nichts! – Niemals war von ihm die Rede. Auch ausländische Blätter kamen ins Haus. Vielleicht war er wieder nach Amerika gegangen oder Spanien oder England. – Seine Name wurde nie genannt.

Sie war müde und apathisch geworden. Stundenlang saß sie auf der Terrasse oder im Park, ohne eine Hand zu rühren. Ab und zu kam eine brennende Scham über sie, daß es Tage gab, wo sie ihres toten Mannes nicht eine Minute des Gedenkens schenkte. Alles konzentrierte sich um Radanyi. Sie mied die Gesellschaft. Nur keinen Menschen sehen! Was wollte sie bei den Leuten? Und was wollten die Leute bei ihr? Es brachte doch keiner Kunde von ihm.

Ueber den bekiesten Vorplatz kamen Schritte. Sie wollte sich eilig ins Haus zurückziehen. Aber es war zu spät. Frau von Ballins Stimme rief ihr bereits ein »Grüß Gott!« zu. Sie war nicht allein. Harald Anderson und Ellen van der Veldt stiegen gleichzeitig mit ihr die Stufen der Terrasse herauf.

Eva Maria ging dem Besuche einige Schritte entgegen. Forschend ruhten die Augen der beiden Frauen ineinander, als Alice von Ballin die Vorstellung übernahm. Von solch eigenartigem Liebreiz hatte Eva Maria sich die Tochter van der Veldts nie gedacht. Ellen aber strömte über vor Mitleid für diese blonde, blasse Witwe, die einmal Radanyis köstlichster Besitz gewesen war.

»Mein Bruder ist erst seit drei Wochen verheiratet!« sagte Frau von Ballin so nebenbei. Da Elemer sein intimster Freund ist, ist er gekommen, ihn zu besuchen. Aber er ist nicht aufzufinden!«

Eine zitternde Röte schlich über die Wangen Eva Marias. Daß er alles wußte, von allem Kenntnis hatte, erwähnte Elemer bei seinem damaligen Besuche. Vor Anderson brauchte sie sich also keinerlei Verstellung aufzuerlegen. Es war ihr darum zu tun, ein paar Minuten mit ihm allein sprechen zu können. Frau von Ballin schien es zu ahnen, denn sobald man den Tee auf der Terrasse eingenommen hatte, erkundigte sie sich, ab sie ihrer jungen Schwägerin nicht den herrlichen, alten Park zeigen dürfe. Ein dankbarer Blick aus den Augen der Baronin Gellern traf sie. Sie konnte es kaum erwarten, bis die beiden Frauen die Stufen der Terrasse hinabgestiegen waren. Mit hochroten Wangen beugte sie sich zu Anderson, der ihr gegenübersaß.

»Haben Sie keinerlei Nachricht von Herrn Radanyi?«

»Nein, gnädige Frau! Seit er von Newyork abgereist ist, bin ich ohne jedes Lebenszeichen von ihm. Meine sämtlichen Briefe an ihn sind als unbestellbar an mich zurückgekommen. Nun sind meine Frau und ich herübergefahren, nach ihm zu suchen, wenn er noch am Leben ist.«

Ihre Röte wechselte zu einer tödlichen Blässe um. »Weshalb glauben Sie, daß er tot sein soll, Herr Anderson?«

»Es hat seinen guten Grund, Gnädigste. Ehe er sich einschiffte, nahm ich ihm das Versprechen ab, zu schreiben. Er sagte mir zu: ich sollte immer Nachricht von ihm haben. Wenn er schweige, sei er tot.«

Sie drückte beide Hände gegen die scharfe Kante des Tisches. »Ich brauche Ihnen nichts zu erklären, Herr Anderson?«

»Nein, nichts, Baronin! Nur um die eine Auskunft muß ich Sie bitten: wie haben Sie ihn empfangen, als er damals zu Ihnen zurückkam?«

Sie schwieg und mied seinen Blick, der forschend auf ihr ruhte. »Ich kann Ihnen die Antwort nicht ersparen, Gnädigste,« sagte er bittend. »Sie ist ja zur Klärung des Ganzen unbedingt nötig. Aus ihr kann ich auf alles andere schließen! – Sie haben ihn abgewiesen?«

»Ja!«

Er zuckte zusammen. Eva Maria sah, daß er sich leicht verfärbte. Beide Hände ineinanderklammernd, bat sie ihn, ihr nach ihm suchen zu helfen. Ich gehe sonst an meiner Reue zugrunde!« gestand sie und würgte gewaltsam die Tränen hinab.

Er empfand Mitleid mit ihr. War es nicht immer so im Leben, daß man das größte Leid sich stets selber auf die Schultern lud?

»Sie lieben ihn noch, Baronin?«

»Ja!«

»Warum ließen Sie dann Ihr Herz nicht sprechen? – Er hätte es verdient!«

Eve Maria sah schweigend in die Nachmittagshelle des Parkes. Wie die fallenden Blätter der Blutbuchen tanzten die Gedanken in ihr durcheinander.

»Ich will morgen zu Haller gehen!« sagte sie aus all ihrem Sinnen heraus. Der Meister weiß vielleicht, was es mit ihm ist. Und wenn er mir keine Auskunft geben kann, werde ich nach der Csarda fahren. Seiner Mutter wird Elemer doch jedenfalls von irgendwoher ein Lebenszeichen senden!«

Sie sah Harald Andersons rätselhaften Blick und knickte fröstelnd zusammen. – Er mußte ja noch am Leben sein – er mußte ja! Wie sollte sie sonst das ihre ertragen? – Es war ja ganz undenkbar, daß er gegangen und sie allein zurückgelassen hatte.

Sie atmete auf, als ihre Gäste sich verabschiedet hatten. Sie konnte niemand mehr neben sich ertragen, selbst die Freunde nicht, die es gut mit ihr meinten. Sie mußte allein sein mit sich und ihren Gedanken, wenn sie auch nichts als Vorwürfe für sie ans Licht zerrten.

Zweimal mußte der Diener melden, daß gedeckt sei. Zweimal kam gegen elf Uhr die Zofe, zu fragen, ob sie nicht ausgekleidet zu werden wünsche. Vollständig zerschlagen lag sie eine halbe Stunde vor Mitternacht in den Kissen. Sie fand nun auch keine Träne mehr für das Leid ihres Lebens. Daß es selbstverschuldet war, das war noch das Entsetzlichste von allem. Manchmal schien es ihr, als sei sie schon eine ganz alte Frau. Wenn sie dann in den Spiegel sah, schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Wie konnte man noch blondes Haar tragen, wenn man so namenlos gelitten hatte?

Sie fürchtete die Nächte mit ihren endlos langen Stunden, wo die Gedanken wie Hämmer auf sie einschlugen, wo die Bilder des Erinnerns aus der Versenkung stiegen und lockend und anklagend zugleich an ihr vorüberzogen.

Wenn sie die Augen schloß, sah sie ihn vor sich knien, den Kopf in ihren Schoß gelegt. Sie fühlte das Zittern seines Körpers; hörte ihn sagen: »Eve Mi, wiederhole dein Nein! – Dann will ich gehen.«

Und sie – sie hatte es fertig gebracht, sein und ihr eigenes Todesurteil zu sprechen.

Die Lippen biß sie wund, bis sie bluteten und brannten, als trügen diese die Schuld an all dem Jammer und waren doch nur das Werkzeug ihres Stolzes gewesen.

Am anderen Vormittag ging sie durch Stefans Blumenwildnis in Hallers Empfangszimmer.

Sie sah, wie der Meister erschrak.

»Sie sind noch immer nicht ganz auf dem Damm, liebe Baronin!« sagte er liebevoll, geleitete sie nach einem kleinen Sofa in der Ecke und drückte sie hinein. »Aber es kommt alles wieder. Nur Geduld haben. Ihre Jugend wird Sie wieder hoch bringen. Und ein bißchen guter Wille noch dazu, dann geht es rasch wleder vorwärts!«

Sie schüttelte den Kopf. – Ihr Blick fiel auf Radanyis großes Bild, das er dem Meister zu dessen letzten Geburtstag geschenkt hatte. – War das Elemer? – Diese Augen! – Diese Linie um den Mund. »– Eve Mi, nimm alles dagegen, was ich gelitten habe!« klangen seine Worte in ihr auf.

Ihre Selbstbeherrschung war zu Ende. Die Tropfen rannen ihr unaufhaltsam die Wangen herab.

Haller setzte sich neben sie und nahm ihre Hände in die seinen.

»Ich glaube zu wissen, liebe Baronin, was Sie zu mir führt und was der Grund all ihres Leides ist und Sie nicht gesunden läßt. Und ich würde Ihnen so gerne etwas Liebes, Tröstendes sagen, aber ich kann nicht. Ich ahne nicht einmal, wo er sein könnte. Er gibt keine Nachricht mehr von sich. Im Juli habe ich ein paar Zeilen von ihm erhalten. Aber sie waren so rätselhaft, daß ich heute noch nicht klug daraus geworden bin. – Er muß um diese Zeit hier gewesen sein!«

Eva Maria nickte.

»War er bei Ihnen, liebe Baronin?«

»Ja!«

»Sehen Sie, Sie gelten mehr, wie ich. Bei seinem alten Meister ist er vorübergegangen.«

Er trat an seinen Schreibtisch und entnahm ihm ein Blatt. Der kleine Bogen war an der einen Außenseite gefranst, als sei er irgendwo herausgerissen worden.

Eve Maria streckte die Hand darnach und ließ ihre Augen darüberfliegen.

»Verehrter Meister!

Ich hätte Sie so sehr gerne noch einmal gesehen, aber das Abschiednehmen wird mir dann zu schwer. Wenn Ihnen in den nächsten Tagen jemand meine Geige bringt, dann lassen Sie, bitte, dieselbe in die Hände der Baronin Gellern gelangen. Sie wird Verständnis haben für das Instrument und wissen, was es zu bedeuten hat.

Sie aber, verehrter Meister, bittet um ein liebes Gedenken und Verzeihen

Ihr dankbar getreuer Schüler Elemer Radanyi.«

Der Brief entfiel ihren Händen. Weiß bis tief in die Lippen starrte sie auf das kleine Blatt, das der Meister eben wieder behutsam vom Boden aufhob.

»Wissen Sie die Zeilen zu deuten, Baronin!«

»Er ist tot!«

»Tot?« Haller taumelte rücklings gegen den Flügel. Eve Maria bewegte keine Hand. Sie saß wie gelähmt. Nun sie Gewißheit hatte, brach sie vollständig zusammen. Sie hörte Hallers Stimme aus weiter Entfernung.

»Eine Erklärung, Baronin! – Ich bitte Sie – eine Erklärung! – Was ist es mit ihm gewesen! – Wann ist er zu Ihnen gekommen – und wann ist er gegangen und warum – warum denn nur! – Was hat ihn denn dazu getrieben!?«

»Ich habe ihn abgewiesen, als er um meine Liebe bat!«

»Baronin! Das haben Sie wirklich getan! – Das haben Sie zuwege gebracht? – Ein Nein konnten Sie ihm geben? – Armer Elemer! – Baronin, dieses »Nein« von Ihnen war ein Mord!«

Sie saß mit vorgeneigtem Oberkörper, als warte sie, ob nicht jemand mit der Peitsche nach ihr schlug.

»Wie war ich stolz auf diesen Schüler und wie habe ich ihn geliebt!« klagte Haller, und konnte es nicht hindern, daß ihm die Augen überrannen. Er mußte sich abwenden und starrte in die Helle des Gartens.

»Meister!«

Ohne sich nach seinem Gaste umzuwenden, nickte er.

»Meister, warum haben Sie mir seine Geige nicht geschickt. Vielleicht wäre er noch zu retten gewesen, vielleicht hätte ich ihn noch gefunden, wenn ich ganz Wien nach ihm abgesucht hätte. – Jeden Winkel wäre ich abgekrochen. – Jede ...«

Haller hob abwehrend beide Hände. »Die Geige hat mir bis heute niemand gebracht. Die wandert wohl längst um einen Spottpreis von einem Tändlerladen in den andern.«

Ein unterdrückter Laut kam vom Sofa herüber, wo Eva Maria gesessen hatte. Ihr Gesicht zeigte eine gelbe Leichenfarbe. Halter legte hastig den einen Arm um sie. Es erging ihm wie Harald Anderson. Er empfand Mitleid mit ihr. Was sie auch gefehlt haben mochte, die Strafe war fürchterlich.

Er suchte nach einer Aufmunterung, nach einem Worte des Trostes.

»Haben Sie schon Erkundigung auf der Polizei eingezogen?« fragte er liebevoll.

Sie verneinte und schwankte an seinem Arme.

»Wollen wir nicht hingehen?« schlug er vor. »Sie brauchen nicht allein zu gehen, liebe Baronin. Ich komme mit!«

»Bitte!« brachte sie mühsam hervor.

Stefan ging, einen Wagen zu holen. Zu Fuß konnte Eva Maria den Weg nicht zurücklegen. Behutsam half der Meister ihr über das Trittbrett. Er hatte Sorge, daß sie in der nächsten Minute zusammenbrach. Alles hatte seine Grenze und über manches half selbst der stärkste Wille nicht hinweg. Während der Fahrt wechselten sie kein Wort. Sie schien ruhiger zu werden. Nur, als das Auto vor dem Polizeipräsidium hielt und er ihr über die Treppe hinauf den Arm bot, begann sie derart zu zittern, daß er einige Minuten mit ihr Rast machte.

Haller kannte den Polizeipräsidenten, hatte ihn schon bei sich als Gast gesehen, er ersuchte deshalb gleich um eine persönliche Rücksprache mit ihm. So kam man am raschesten zum Ziel. Jede weitere Stunde des Wartens bedeutete eine ungeheure Folter.

Und dann wurden sie nach wenigen Minuten in dessen Arbeitsraum geführt.

Eine imponierende, stattliche Gestalt erhob sich aus dem Stuhl am Schreibtische. Zwei scharfe, hellgraue Augen blitzten aus einem randlosen Kneifer. Er reichte der Baronin die Rechte. Nun erst entsann sich Eva Maria, daß er auch in der Herrenstraße kein Fremder gewesen war und später auch in der Cottage bei ihnen aus- und einging.

Haller begrüßte er mit einem festen Druck der Hand und schob zwei bequeme Sessel für seinen Besuch näher zu seinem Schreibtisch.

»Womit kann ich dienen, lieber Meister! – Hat man Sie bestohlen? – Oder ist einer der Bankiers mit Ihrem Gelde durch? – Das ist jetzt keine Seltenheit!« setzte er lachend hinzu. Dabei sah er aus seinen Brillengläsern forschend zu Eva Maria hinüber.

»Deswegen würde ich Sie sehr wahrscheinlich nicht belästigt haben, Herr Präsident,« warf Haller ein. »Es handelt sich um etwas anderes. Der Name meines Schülers – des Geigers Radanyi – ist sicher noch in Ihrer Erinnerung!«

»Gewiß, gewiß!« unterbrach ihn der Polizeigewaltige. »Was ist es mit ihm?«

Er reckte sich etwas in seinem Stuhle auf und bog sich zu Haller vor.

»Er ist seit August verschwunden, das heißt verschollen!« gab Haller zur Antwort.

»Sie wollen damit sagen, lieber Meister, daß Sie keine Nachricht mehr von ihm bekamen!«

»Ja!«

»Das spricht deswegen noch nicht dafür, daß er verschollen ist. – Es kann auch Absicht sein, er will vielleicht nicht wissen lassen, wo er ist.«

Der Präsident lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück. »Glauben Sie Grund zur Sorge um ihn zu haben? – Weshalb? Es muß doch irgend etwas vorausgegangen sein, was Anlaß dazu gibt!«

Haller entnahm seiner Brieftasche Elemers kurze Zeilen, und reichte sie dem Chef der Polizei hinüber.

»Das ist allerdings etwas vielsagend,« meinte dieser, als er sie aufmerksam zu wiederholtem Male gelesen hatte. – »Aber immerhin ein strikter Beweis ist es nicht. Ich denke dasselbe wie Sie – nämlich an einen Selbstmord. Aber ein Großteil aller Selbstmörderkandidaten besinnt sich noch im letzten Augenblick, daß das Leben trotz alledem noch etwas vom Allerbesten und Begehrenswertesten ist. Das bewirkt bei neunzig von hundert, daß sie es noch einmal versuchen, sich durchzuringen, ehe sie es wegwerfen. – Eine weitere Nachricht ist nicht mehr bei ihnen eingelaufen, Meister?«

»Nein!«

»Hm – es kann ja möglich sein. –« Er drückte auf einen Knopf und befahl dem eintretenden Amtsdiener, ihm aus dem Zimmer nebenan das in Frage kommende Aktenstück herbeizuholen. »So viel ich weiß,« sagte er, »ist Radanyi ein Neffe des Bankiers Ballin. Ist auch dort nichts eingetroffen? – Nein! – Sonderbar. – Hat er sonst noch irgendwo Angehörige oder Verwandte?«

»Die Mutter und der Großvater leben in der Pußta!«, gab Haller Auskunft.

»Dort müßte man natürlich zuerst Erkundigungen einziehen.« Der Präsident griff nach dem dünnen Akt, den ihm der Amtsdiener soeben überreichte. »Er enthält die Namen sämtlicher Selbstmörder vom Januar bis zum heutigen Tage, das heißt derjenigen, die eben für den gesamten Stadtbezirk in Betracht kommen,« erklärte er.

Eva Maria und Hallers Blicke hingen unverwandt an seinem Gesichte.

Kopfschüttelnd klappte er den Akt wieder zusammen. »Sein Name ist nicht darunter. – Das hätten Sie natürlich auch sofort durch die Presse erfahren. Radanyi ist doch eine Persönlichkeit, an der die halbe Welt Interesse hat!«

Eva Maria atmete auf. Ihre Nerven begannen sich zu beruhigen. Dankbar sah sie den Präsidenten an.

Er fuhr glättend über einen Stoß von Schriftstücken, der vor ihm lag, und schien über etwas nachzudenken. »Seine Geige – was ist es mit der, lieber Meister? – Man hat sie Ihnen nicht gebracht. – Hm – Sie kennen das Stück selbstverständlich genau! – Hier müßte man eventuell anknüpfen, das heißt zu erfahren suchen, ob sie in irgendwelchem Besitze ist. – Der Besitzer muß sich ausweisen, woher er sie hat, auf diese Weise greifen die Haken dann ineinander. Allzuschwer ist das nicht herauszukriegen. – Es hat nicht jeder zweite ein Instrument, wie Radanyi es gehabt haben dürfte.«

Haller war bereits wieder voll Hoffens. »Nachdem mein Schüler nicht unter den Selbstmördern verzeichnet ist, atme ich wieder ordentlich auf!« gestand er dem Präsidenten.

Dieser sah ihn forschend an. »Damit soll aber noch nicht gesagt sein, daß er noch am Leben ist!« mahnte er, Hallers Hoffnungsfreude eindämmend. »Es könnte auch sein, daß er noch nicht gefunden wurde. Leichen kommen oft erst nach Jahren und durch Zufälle zum Vorschein. – Er kann auch geradesogut außerhalb Oesterreich Hand an sich gelegt haben Das sind lauter Faktoren, die alle in Betracht gezogen werden müssen. – Immerhin will ich mein Möglichstes tun, Ihnen Gewißheit zu verschaffen.«

Eve Maria saß zusammengesunken auf ihrem Platze und sah ins Leere. Ihre Augen brannten und trugen dunkle Ränder. Das bestärkte den Präsidenten in seiner Annahme, daß es sich hier um eine Liebesaffäre Radanyis und der Baronin Gellern handle. Warum nicht?

Das Leben hatte mehr als ein Rätsel.

»Wir wollen die Sache ohne Umschweife in die Hand nehmen!« sagte er ermunternd. »Das Richtigste ist, man gibt einen Aufruf in die großen Tagesblätter. Das verspricht für den Augenblick den unzweifelhaftesten Erfolg. Natürlich darf er nicht von der Polizei ausgehen. Wir sind zu sehr gefürchtete Leute. Die Mehrzahl auch der besseren Elemente will nichts mit ihr zu tun haben. Wir müssen also eine Chiffre setzen oder einen Namen.«

»Einen Namen!« warf Haller ein. »Ich meine, der Aufruf geht am besten von Harald Anderson aus. Er ist der Bruder der Frau von Ballin und der intimste Freund Elemers gewesen, auch ist seine Persönlichkeit niemandem so eigentlich bekannt: keiner wird aus dem Namen Folgerungen ziehen. – Würden Sie das besorgen, Herr Präsident?«

Er nickte, nahm seinen Silberstift und schrieb einige Zeilen auf ein Blatt Papier, das er erst Haller und nach ihm Eva Maria reichte.

»Finden Sie es so gut, Meister?«

»Ja, ja – ganz gut.« Wenn man zu den Leidtragenden gehört, ist man dankbar für jedes Wort, das einem von anderen abgenommen wird.

»Und wann, Herr Präsident, glauben Sie, daß die erste Nachricht eintreffen wird?« Es war das erstemal, daß Eva Maria ihre Stimme hören ließ.

»Nachricht? – eintreffen? – Verehrte Baronin, Sie haben mich nicht voll verstanden. – Garantie kann ich nicht geben. Es ist ja sehr wahrscheinlich, aber mit Gewißheit dürfen Sie natürlich nicht darauf rechnen. – Es ist auch möglich, daß Sie vergeblich warten. – Nun heißt es eben, sich gedulden. Gewöhnlich ist dieser Weg ja sehr bald von Erfolg begleitet. – So – oder so. – Die Hauptsache in diesem Falle ist ja die Gewißheit, ob er tot oder noch am Leben ist. Nur die Ungewißheit lähmt. Ich wünsche nur, daß es sich bald entscheidet, auch für Sie, lieber Meister! – Sie werden mich jedenfalls auf dem laufenden halten. – Ich wäre Ihnen sehr verbunden!«

Er begleitete seinen Besuch bis zur Türe und trat dann an seinen Schreibtisch. – »Wieder ein Drama!« sagte er vor sich hin, während er auf die Klingel drückte. »Das Ende stand ja nur zu deutlich in Radanyis Brief geschrieben. – Schade um den Künstler. Die Baronin mochte wohl nicht wenig von Gewissensbissen gefoltert sein. – Nun liegt auch die so streng vertuschte Duellaffäre Gellern mit Roden klar. – Die Zeit zerrt eben alles an das Licht, ohne jegliche Rücksicht auf die Person zu nehmen.«

Haller und Eva Maria fuhren vom Polizeipräsidium weg sofort zu Harald Anderson, der mit seiner jungen Frau im Palasthotel eine Zimmerflucht gemietet hatte. Er wollte ganz frei für sich leben und hatte es abgelehnt, der Gast seiner Schwester zu sein. Man würde sich auch so jeden Tag treffen. Er war mit dem Vorschlage des Polizeichefs vollkommen einverstanden. Mit Haller und Eva Maria vereinbarte er sofortige Benachrichtigung, wenn etwas von Belang eintreffen sollte. Er versprach außerdem, sobald der Aufruf erschiene, innerhalb der folgenden Tage sich nicht außerhalb Wiens zu begeben, so daß er jederzeit erreichbar war. Mehr ließ sich für den Augenblick nicht tun.

Eva Maria aber litt es nicht in der Cottage. Sie bat Anderson, ihr ein Zimmer im Palast-Hotel reservieren zu lassen, so daß sie jederzeit dort bleiben konnte, wenn die Unruhe und die Unrast in ihr nicht mehr zu ertragen wäre. Sie wollte immer da sein, so daß man ihr nicht erst zu telephonieren, oder sie zu holen brauchte.

Aber die ersten Tage verliefen, ohne daß irgendwelche Nachricht eingelaufen wäre. Es blieb alles wie zuvor. Eve Maria erschrak bei jedem Anruf, der an Anderson erging. Aber es war immer nichts. Haller und Anderson versprachen sich keinerlei Erfolg mehr, nur Eve Maria zuliebe hielten sie den Schein aufrecht, als warteten auch sie mit jeder neuen Stunde auf das Eintreffen einer Botschaft, die Kunde von Elemer gab.

»Wäre ich nur mit herübergekommen!« sagte Harald wohl schon das hundertstemal unter den bittersten Selbstvorwürfen. Aber nun war an allem nichts mehr zu ändern.

In einem der kleinen, aber liebevoll gepflegten Gärtchen weit draußen vor den Toren Wiens stand Konstantin Rinker und war damit beschäftigt, seine Rosenstämmchen für den Winter einzuhüllen. Sorgfältig band er eine Lage Stroh mit Bast an dem glatten, dünnen Körper derselben fest. Sie mußten sehr in Acht genommen werden, denn er hatte sie erst vor kurzem hierher verpflanzt und ihnen edle Reiser aufgepfropft. Von Zeit zu Zeit sah er nach einem der offenen Fenster des Hauses, das dem Garten als Hintergrund diente. Der wilde Wein, der es an der Vorderseite überwucherte, war fast entblättert. Wo er noch nicht entlaubt war, spielte er in tiefem Rot und sattem Gelb. Spatzen schaukelten sich auf dem schwankenden Gezweig. Sie pfiffen und lärmten und piepsten, als sei Katzenvolk ihnen auf den Fersen. Aber es war nichts als Uebermut und eitel Wichtigtuerei. Niemand kümmerte sich um sie. Nicht einmal eine Katze.

Rinker zog das blaugestreifte Hemd unter dem Ledergürtel, der das Beinkleid hielt, etwas lockerer und hielt derzeit den Bast mit den weißen, großen Zähnen fest.

Ein etwa fünfjähriges Mädchen kam auf ihn zugelaufen, den Vater etwas zu fragen. Er konnte nur nicken, da ihm sonst der Bast entfiel. Sie schlüpfte gewandt an ihm vorbei und holte sich ihren Ball aus einem der Beete, das noch nicht völlig abgeerntet war.

Mit lautem, vergnügtem Kreischen schleuderte sie ihn dem etwa drei Jahre älteren Bruder zu, der damit beschäftigt war, das abgefallene Laub auf einen kleinen Haufen zu türmen. Der grub ihn dann tief in das raschelnde Blattwerk und sie suchten beide darnach und bewarfen sich mit den farbigen Blättern. Rinker umfaßte seine Kinder mit einem Blick von Stolz und Zärtlichkeit. Seine Augen hafteten zuerst an dem blonden Lockenkopf des Mädchens und blieben dann auf dem glühenden Gesichte des dunkelhaarigen Jungen haften.

Schön und gesund waren sie und machten keine Sorge, und so lange er lebte, sollten sie auch keine Not kennen lernen.

Im selben Augenblick trat eine junge, hübsche Frau unter die offene Türe des Hauses, in einfachem, aber sauberem Kleide, eine helle Schürze vorgebunden.

Aufgeregt schwenkte sie ein Zeitungsblatt in den Händen. Ihr Blondhaar leuchtete in der Sonne und die Augen des Mannes glänzten, als sein Weib auf ihn zuging.

»Hat es solche Eile?« scherzte er, »Jetzt hab ich keine Zeit, am Abend dann!«

Sie nahm ihm ohne weiteres den Bast aus den Händen, schob das Blatt statt desselben in seine Finger und deutete auf eine in dicken Buchstaben eingerückte Notiz.

»Hast du das übersehen?« meinte sie vorwurfsvoll. »Die Zeitung ist von vorgestern!«

Er zuckte die Achseln und begann zu lesen:

»Höchste Belohnung demjenigen, der die Adresse des Geigers Elemer Radanyi anzugeben vermag. Mitteilung erbeten an

Harald Anderson, Palast-Hotel.«

Er pfiff durch die Zähne, las noch einmal und wieder, dann sah er seine Frau an.

»Was sagst du dazu, Emma?«

Sie sah ihm angstvoll ins Gesicht. Ihre Hand legte sich zitternd auf seinen Arm. »Konstantin, könntest du das tun und hingehen und ihn um den Judaslohn verraten. – Dann – dann bist du ein Schurke, Konstantin!«

»Nein, nein, beruhige dich – ich tu es ja nicht – ich tu es ja nicht – um Geld schon gar nicht!«

Er strich ihr liebevoll über die Wangen. Sie schien ihm nicht zu glauben. Forschend hielt sie seinen Blick in dem ihren fest.

»Du kannst ganz ruhig sein!« versicherte er. »Von mir erfährt keiner etwas – keiner – obwohl –«

»Konstantin, sprich doch aus, was du sagen wolltest. – Obwohl?« –

»Dieser – dieser Anderson wäre nicht zu fürchten!« warf er langsam ein.

»Nicht zu fürchten!« erregte sie sich. »So weit bist du also schon, Konstantin!« Sie streifte seine Hand von ihrem Arme ab, wohin er sie gelegt hatte. »Wenn du das Geringste über ihn verlauten läßt, dann will ich nichts mehr mit dir gemein haben. Ich nehme die Kinder und gehe meiner Wege und du kannst es auch ... und«

»Oho!« sagte er halb ärgerlich, halb in Lachen. »Nimm doch Vernunft an, du Närrchen, wenn ich dir doch sage, daß ich nichts plaudere, dann ist es auch so. Wenn ich den Aufruf nicht gelesen hätte, wüßte ich ja auch nicht, daß man ihn sucht. Mich wundert, daß sie so lange gewartet haben. –« Er küßte sie auf die kleine Wange und schob sie dann von sich. »Nun sei aber auch zufrieden, Emma. – Ich halte meinen Mund und damit basta!«

Nachdenklich ging sie ins Haus. Aber sie hatte keine Ruhe mehr. Immer wieder trat sie an das Fenster und blickte insgeheim nach der Stelle, wo ihr Mann arbeitete.

Er band nach wie vor seine Rosenstöcke, aber sie glaubte zu bemerken, wie er oftmals vor sich hinsah und darüber vergaß, den Bast zu knüpfen.

Daraus entnahm sie, daß ihr vorhergehendes Gespräch ihn stark beschäftigte. Sie wurde ihrer Sorge nicht ledig.

Hastig begann sie den Tisch in der hellen Wohnküche zu decken. Bei jedem Stück, das sie aus dem weißen Schranke in der Ecke nahm, dachte sie an Radanyi. Von dem Gelde, das er damals mit seiner Geige für sie verdient hatte, war alles gekauft worden. Und von dem anderen, das er ihnen geschenkt hatte, konnte ihr Mann seine Spielschulden bezahlen und die Kinder bekamen das erste warme Mittagbrot seit langer, langer Zeit.

Sie hob beide Hände zum Dank, dabei liefen ihr die Tränen über die Wangen. Gab es denn keinen Herrgott mehr im Himmel, der den Menschen vergalt, was sie dem Nächsten Gutes taten? – Womit hatte er denn nur all das Schwere verdient, das sein Leben zu einem so leidvollen und unglücklichen machte?

Rinker trat in das Zimmer und sah die verweinten Augen seiner Frau. Er sprach kein Wort, setzte sich an den Tisch, schnitt den beiden Kindern, die hereingehüpft kamen, das Brot und begann schweigend seine Abendsuppe zu essen.

Aber schon nach den ersten Löffeln schob er den Teller beiseite. »Ich habe keinen Appetit,« sagte er kurz und griff wieder nach der Zeitung.

»Wenn ich nur wüßte! –«

»Was möchtest du denn wissen, Konstantin?« Die junge Frau legte ebenfalls den Löffel zur Seite.

»Warum Anderson ihn sucht!«

»Das ist doch nebensächlich!« ereiferte sie sich. »Das kann uns doch ganz gleichgültig sein. – Nicht, Konstantin?« –

Er seufzte auf, erhob sich mit schweren Füßen und ging wieder nach dem Garten. Unablässig lief er die schmalen Kieswege auf und ab und zermarterte sich das Gehirn. Sollte er? – Sollte er nicht? Warum suchte ihn Anderson? – Sorgte er sich, um Radanyi? Oder zog er Erkundigungen für jemand anderen ein? – Wenn man das wüßte! –

Rinker setzte sich draußen auf die schmale Bank vor dem Hause. Untätig starrte er ins Leere.

Die beiden Kinder spielten Fangen und blinde Kuh. Sonst hatte er immer einen aufmunternden Zuruf oder ein verstecktes Blinzeln für sie gehabt, heute rührte er sich nicht, als seien sie gar nicht für ihn da.

»Konstantin!«

»Ja!« sagte er zusammenfahrend und blickte sich nach seiner Frau um, die unter dem offenen Fenster stand.

»Bist du noch immer nicht mit dir fertig!« frug sie und strich ihm, sich etwas herunterbeugend, das dunkle Haar zurecht.

Er schüttelte den Kopf. »Es geht mir einfach nicht aus dem Sinn – vielleicht ...«

Sie zog ihre Hand, die er festhalten wollte, rasch zurück. »Zweimal hat er uns aus der Not geholfen, obwohl wir ihm ganz fremde Leute gewesen sind. Und du, du brächtest das fertig, schändlich wäre es von dir!«

»Ich tu's ja nicht!« sagte er ganz gedrückt. »Daran denken werde ich ja doch wohl dürfen!«

Die halbe Nacht lagen sie beide schlaflos. Als die junge Frau gegen Morgen etwas eingeschlummert war, weckte Rinker sie wieder.

»Glaubst du, daß ich es nicht doch tun soll?«

Sie richtete sich noch halb schlaftrunken auf und strich das blonde, etwas verwirrte Haar zurück. »Ich hab dir's schon gesagt, was du dann bist!«

Er stützte im Bette sitzend beide Knie auf und legte den Kopf darein. Sie sah, wie er sich quälte und zu keinem Ende kam. »Wenn ich nur wüßte!« Immer ging es wieder von vorne an! »Und dann – mir ist es ja nicht ums Geld – du darfst mir's glauben! – Keinen roten Heller nehme ich, das schwör ich dir. Aber immer muß ich denken, daß er noch eine Mutter hat. Vielleicht sucht die nach ihm. –«

Sie wollte ihn unterbrechen, aber er duldete es nicht und fuhr rasch weiter: »Denk doch, wenn eins von unseren Kindern einmal nicht mehr zu finden wäre und du ließest es in deiner Angst in allen möglichen Zeitungen ausschreiben und einer, der wüßte drum und käme nicht und würde dir's nicht sagen, wo du es finden kannst, wär das nicht ein Verbrechen?«

Sie weinte auf und lehnte sich gegen ihn. Mit beiden Armen griff er nach ihr und zog sie zu sich heran.

»Überleg dir's, Emma! – Sagst du nein, dann schweig ich. Kein Mensch soll was von dem erfahren, was du und ich wissen. Sagst du ja, dann geh ich morgen ins Palast-Hotel zu Anderson und horch ihn erst aus, ehe ich ihm alles erzähle. Aber ich weiß es ja so, daß der nicht zu fürchten ist. Der ist ja immer mit ihm beisammengewesen und ist auch mit ihm fortgereist damals, als es mit ihm so auf Spitz und Knopf stand. Der hat es immer gut mit ihm gemeint!«

Sie wurde schwankend. »Versuch es halt, Konstantin. – Alles mußt du ja nicht sagen!«

»Nein, nein, alles muß ich nicht gleich sagen!« stimmte er ihr zu. »Und vor morgen Abend geh ich ja auch nicht hin. Da können wir es uns auch noch anders überlegen.«

Aber es blieb dabei.

Gegen sechs Uhr nachmittags trat Rinker in das Vestibül des Palasthotels. Sein langjähriger Aufenthalt zuerst in der Herrenstraße und dann drüben in Newyork im Astor-Hotel hatte ihm eine unbedingte Sicherheit im Auftreten gegeben. Er machte in seinem dunklen Mantel mit dem schweren Pelz aus Oppossum ganz den Eindruck eines erstrangigen Gastes. Die Verbeugung, mit der er empfangen wurde, war dementsprechend.

Ein flüchtiges Lächeln glitt um seinen Mund, als er nach der Halle schritt, an welche die Haupttreppe sich anschloß.

Jetzt zur Zeit des Fünfuhrtees durchpulste diese regstes Leben. Der weite Raum faßte kaum die Zahl der Gäste. Ein buntes Bild. An den Tischen der Halle auf der Estrade kleine geschlossene Kreise, zwischen denen doch tausenderlei Berührungspunkte bestanden, vorherrschend Jugend, mit würdigen Müttern dazwischen. Junge Frauen, junge Männer, ab und zu eine Uniform. Ein leises Raunen, ein verstecktes Kichern, viel – sehr viel Flirt. Dazu die prickelnden Klänge der Hauskapelle.

Rinker trat zu einem der Oberkellner und fragte nach Mister Harald Anderson.

Eine tiefe Verbeugung: »1. Stock. Das Appartement rechter Hand, mein Herr!«

Er dankte und stieg langsam die breite Treppe empor. Jetzt mit einem Male verspürte er ein Gefühl des Unbehagens. Er hatte beinahe das Empfinden, als tue er etwas Unrechtes. Am letzten Treppenabsatz blieb er unschlüssig stehen.

Ein betreßter Diener lief mit eiligem Schritt über den teppichbelegten Vorplatz. Er sah Rinkers Zögern und kam auf ihn zu.

»Kann ich irgendwie dienlich sein, mein Herr?«

»Ja! – Ich möchte gern Mister Anderson sprechen. Können Sie mich bei ihm melden?«

»Gewiß!«

Der Bediente schritt voran und öffnete eine Türe, die auf den kleinen Korridor rechter Hand mündete. Er ließ Rinker eintreten und klappte die Türe geräuschlos hinter sich zu.

Eine mächtige Stehlampe warf ein blaßrotes Licht durch den hohen, mittelgroßen Raum. In den Madrasvorhängen schillerten buntfarbige Vogelgruppen auf und schienen jeden Augenblick emporfliegen zu wollen. Die breiten Goldrahmen der Bilder funkelten diskret, von der Malerei war soviel wie nichts zu sehen. Sie lag in dem Dämmerlicht der Lampe völlig abgedunkelt.

Hinter Rinker schob sich eine weiße Schiebetüre auseinander. Die schwere Samtportiere wurde vom Luftzuge leicht gehoben.

Harald Anderson war eingetreten und faßte den Fremden fest ins Auge. »Mit wem habe ich die Ehre?«

Rinker vergaß zu antworten. Blaß, mit halbgeöffnetem Munde sah er nach der Frauengestalt, die unmittelbar hinter Anderson das Zimmer betreten hatte.

»Die Baronin Gellern! Gerechter Gott! – Nein, nein, nie – nie würde er Radanyi an diese Frau verraten. – Nur fort. – Wie stellte er das an, um nicht Verdacht zu erregen?

»Mit wem habe ich die Ehre?« hörte er die Stimme Andersons befehlend klingen.

»Ich – Mister Anderson – verzeihen Sie, ich hatte im Sinne, Ihnen eine Nachricht zu bringen. – Ich habe mich anders entschlossen. Gestatten Sie, daß ich mich empfehle.«

Der Blick, mit dem er nach Eva Maria sah, war hart, beinahe grausam. Sie trug die Schuld an allem. Was half jetzt womöglich ihre Reue? Mochte sie tragen, was sie sich selbst geschaffen hatte. Er fühlte keinerlei Mitleid, eher Haß und Befriedigung, daß die Stunde der Vergeltung über sie gekommen war.

Anderson beobachtete ihn scharf. Ein jäher Verdacht blitzte in ihm auf. Der Mann wußte um Radanyi.

Ehe Rinker noch einen Schritt gegen die Türe gemacht hatte, legte er die Hand um dessen Arm.

»Die Nachricht, die Sie mir bringen wollten, betrifft Elemer Radanyi.«

Anderson fühlte deutlich ein Zusammenzucken des Fremden. Rinker versuchte die Hand auf seinem Arme abzustreifen, aber sie hatte sich bereits um sein Gelenk gelegt.

»Antworten Sie in Ihrem eigenen Interesse, mein Herr!« Scharf, drohend wurden diese Worte von Anderson herausgeschleudert.

In Rinker erwachte der Trotz. Sein Wille, nichts zu verraten, verstärkte sich noch. Nein und nochmals nein. Sie sollten nichts herausbekommen. Es war nur von Vorteil für ihn, daß der Amerikaner ihn nicht mehr erkannte. Er wollte den sehen, der ihn zum Sprechen zwingen wollte.

Mit einem Ruck machte er sein Gelenk frei.

»Ich weiß nichts von dem Geiger Radanyi!« sagte er so gleichgültig als möglich.

Anderson verstellte ihm den Weg zur Türe.

»Und seine Geige? – Wo ist die hingekommen? – Können Sie vielleicht darüber Auskunft geben?«

Rinker stand für den Moment wie gelähmt. – Seine Geige! O Gott!

Mit beiden Händen griff er nach der Lehne des Stuhles, der vor ihm stand.

»Also doch! – Also doch!« stöhnte er auf. »Es ist also alles umsonst gewesen. Aber ich hätte mir's ja denken können, daß es so kommt. Daß es nicht bei der einen Kugel bleibt und ihr eine zweite folgt. – Haben Sie ihm doch ein ehrliches Grab gegeben? – Sonst scharre ich ihn aus mit meinen eigenen Händen und trag ihn heim zu mir. Auf meinem Grund und Boden soll er ruhen, wenn sich sonst niemand seiner mehr erbarmt!«

Die Füße versagten Rinker. Anderson drückte ihn eiligst in einen der Gobelinsessel. Die Arme auf die Knie gestützt, preßte er die Fäuste gegen die Augen.

Eva Maria sah mit erloschenem Blick nach ihm. Es regte sich nichts mehr in ihr. Das war das Letzte, das sie über den Geliebten erfuhr. Ein Schüttelfrost ließ ihren Körper hin und her schwanken. Sie hielt sich mühsam an der Portiere der Schiebetüre fest.

Anderson allein verlor die Ruhe und das klare Ueberlegen nicht. Er wußte nun, daß dieser Fremde Aufklärung zu geben vermochte. Jede Gewißheit aber war besser als dieses furchtbare Hin und Her der letzten Tage.

Bittend legte er Rinker die Hand auf die eine Schulter. »Sagen Sie uns alles, was Sie wissen. – Was es mit Radanyi gewesen ist – und wer seine Geige im Besitze hat – und!«

Rinker schüttelte resigniert den Kopf.

»Wer die Geige hat, das weiß ich-nicht! – Nur seinen Revolver, den habe ich mit mir genommen!«

Er entnahm seiner Tasche einen kleinen Browning und legte ihn vor Anderson auf den Tisch. Niemand sah, wie Eva Marias weitoffene Augen an der Waffe hängen blieben. Kein Laut kam aus ihrem Munde. Den Körper weit nach vorne gebeugt, stand sie völlig reglos.

»Ich bitte Sie!« sagte Harald, nun selbst mühsam seine Ruhe bewahrend. »Sagen Sie, wie alles zusammenhängt. – Erzählen Sie, so gut Sie es vermögen, ich bin Radanyis bester Freund. – Die Dame war vor Jahren seine Braut. Wir haben ihn beide über alles geliebt. Sie dürfen ruhig vor uns sprechen. Wenn Sie es wünschen, soll niemand etwas davon erfahren, selbst, wenn Sie sich dabei irgendwie schuldig gemacht hätten!«

»Ich habe mich in nichts schuldig gemacht!« sagte Rinker mit einer abwehrenden Handbewegung. Mit zusammengesunkenem Oberkörper blieb er in seinem Stuhle sitzen.

»Was soll ich Ihnen denn erzählen? – Und warum denn? – Es weckt ihn ja alles nicht mehr auf. Jetzt ist es zu spät. Im Juli wäre er noch zu retten gewesen.« –

Er blickte auf Eva Maria hinüber, die man ruhig für eine stehende Leiche ansehen konnte. Aber er verspürte kein Mitleid. In seinen Augen war sie die allein Schuldige, die kein Erbarmen verdiente.

»Ich will es ganz kurz machen!« sagte er, erfüllt von dem Verlangen, möglichst rasch hier wegzukommen. »Das erstemal sah ich Herrn Radanyi, als ich Diener im Hause des Grafen Warren in der Herrenstraße war!«

Eine Hand hob sich schwer am Körper hoch. »Konstantin.« sagte Eva Maria und ließ die Rechte wieder sinken.

Der Schrecken über das Erkennen jagte eine jähe Röte über ihre Wangen.

Rinker nickte, ohne aufzusehen. »In Amerika!«, fuhr er fort, »war ich Etagenkellner im Hotel Astor, wo Radanyi wohnte.«

Anderson beugte sich gegen ihn. »Dann bin ich Ihnen kein Fremder?«

»Nein, Mister Anderson. –«

»Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie es, der mich damals rief, als die Vermählung Gellerns meinen Freund vollständig kopflos machte und für ihn das Schlimmste zu befürchten war!«

»Ja, Mister.«

»Weiter – weiter –« drängte Harald nun selbst nervös geworden.

»Auf der Überfahrt benützten wir zufällig dasselbe Schiff. Ein Dieb hatte mir, während ich an Bord ging, meine gesamte Ersparnis entwendet. Da geigte Herr Radanyi für mich. Ich brauchte nur die Hand aufzuhalten und war an diesem Abend zehnmal so reich, als ich es je gewesen bin. – Zwei Jahre vorher habe ich 2000 Dollar von Herrn Radanyi bekommen, damit ich meine Schulden begleichen und meiner Familie Brot bringen konnte. – Ich hatte hoch gespielt und alles verloren. –

Ich war kaum acht Tage hier, da sah ich ihn draußen vor dem Ring durch die Anlagen kommen. Er ging etwas gebückt und trug die Geige in der Hand, ganz unwillkürlich schlug ich mich etwas in das Gebüsch. Er gefiel mir nicht. Ich hatte den Eindruck, daß irgend etwas nicht stimmte, sonst wäre ich auf ihn zugegangen und hätte ihn begrüßt. Ein paar Arbeiter kamen vorbei, denen fiel er auch auf. »Der hat's nicht recht und will den Vögeln etwas geigen,« meinten sie. Ich ließ ihn an mir vorbeikommen und schlich ihm dann nach. So oft ein Ästchen unter oder neben ihm krachte, sah er sich um. Daraus erkannte ich schon, daß er irgend etwas vor hatte, wovon niemand wissen sollte.

Auf eine der Bänke stellte er seine Geige hin, nahm ein Bild heraus, besah und küßte es und steckte es wieder zu sich. Aber es fiel zu Boden, ohne daß er es merkte.

Als er weiterging, streckte ich rasch meine Hand darnach aus und hob es auf.

Es war die Baronin Gellern.« Anderson hatte Eva Maria in das kleine Sofa neben der Stehlampe gedrückt. Reglos kauerte sie in ihrer Ecke. Rinker sah mit keinem Blick zu ihr hinüber.

»Nun konnte ich mir das andere nicht mehr gar zu schwer zusammenreimen!« erzählte er weiter. »Ich mußte rasch machen, wenn ich ihm zuvorkommen wollte. Aber mit einem Male war er mir ganz aus den Augen verschwunden. Ich achtete nun nicht mehr auf das Knacken des Astwerkes und lief geradeaus durch das Buschwerk dahin. Da sah ich ihn neben dem kleinen See an eine Weide gelehnt. Ich sprang vorwärts, da mußte er mich erblickt haben. Ich war keine fünf Meter mehr von ihm entfernt. Ein Griff nach der Tasche. – Ich sah, wie er etwas Blitzendes hob, – ich konnt's nicht mehr ändern – es krachte, da brach er auch schon zusammen und fiel nach vorne über.«

Rinker hielt eine Sekunde inne und deckte die Hand über die Augen.

»Und kein Mensch war in der Nähe,« klagte er. »Gar niemand, der mir hätte helfen können. Ich mußte ihn liegen lassen, weil ich mir nicht getraute, ihm eine andere Lage zu geben. So bin ich in meinem Leben noch nie gelaufen, wie damals, zurück in die ersten Häuser. Vielleicht hat der Herrgott doch Mitleid mit ihm und mir gehabt, der erste, dem ich in die Hände rannte oder er mir, war ein Arzt. Der machte seine Besuche und hatte an der Straßenecke seinen Wagen stehen. Er kam sofort mit mir.

Herr Radanyi lag noch genau so, wie er gefallen war. Ringsum war alles voll Blut.

Aber er lebte.

Als er mich erblickte, mag er wohl ein bißchen erschrocken sein, vielleicht war seine Hand dadurch nicht mehr so sicher. Die Kugel ging knapp am Herzen vorbei.

Der Arzt frug mich, ob er ein Verwandter von mir sei und ich sagte ja, weil ich mir dachte, daß es am besten wäre, wenn niemand etwas von der Sache erfuhr. Ich gab ihn als den Bruder meiner Frau aus.

Man brachte ihn mit dem Sanitätswagen ins Krankenhaus, wo die Kugel entfernt wurde. Als er ein bißchen transportfähig war, ließ ich ihn sofort zu uns bringen.

Meine Frau und ich wichen nicht von seinem Bett. Es war ein schreckliches Machen mit ihm. Er wollte so gar nicht leben. Jeden Tag fing er von vorne an, warum man ihn nicht sterben hatte lassen. Manchesmal hieß er mich undankbar und herzlos, weil ich ihm das Morphium, das der Arzt für die Nacht verordnet hatte, nicht alles gleich auf einmal gab. Mit Geld wollte er mich bestechen, wenn ich ihm den Willen tue. Es war eine schwere Zeit das.

Jeden Bissen mußte man ihm abbetteln, er wäre sonst verhungert, jede Medizin mußte man ihm einschwätzen. Er wollte absolut nicht gesund werden.

Wenn ich selbst nichts mehr mit ihm machen konnte, schickte ich meine Frau zu ihm hinein. Der schlug er nie etwas ab, nahm die Arznei, trank seinen Wein und schlief, wenn sie es haben wollte.

Als er ein bißchen aus dem Gröbsten war, trug ich ihn in den Garten. – Es ist ja nicht viel damit: ein paar Rosenstöcke, ein bißchen Reseden, Flachs und so, aber er war doch gerne draußen. Die Kinder haben mit ihm geplaudert und wenn sie dann etwas Drolliges sagten, hab ich ihn ab und zu sogar lächeln sehen. Aber das tat mir weher, als wenn er geweint hätte.


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