Josephine Schneider-Foerstl
Die Liebe des Geigerkönigs Radanyi
Josephine Schneider-Foerstl

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Der 19. Oktober war als strahlend schöner Spätsommertag über die Wälder heraufgezogen. Wien lag in Licht und Sonne gebadet. In Hallers Garten glänzte der Tau in tausend und abertausend funkelnden Demanttropfen auf Gras und Blumen. Haller saß schon in aller Morgenfrühe am Flügel und spielte Brückner. Stefan schlürfte den Flur hin und zurück, treppauf und ab, er machte beinahe Lärm, klappte die Türen kräftig ins Schloß und fuhr mit einem huuuuu Gschschsch unter das Spatzenvolk, das in den Trauben saß. Und alles das nur wegen Elemer. Der schlief noch und hatte scheinbar ganz vergessen, daß er heute sein erstes Konzert im Beethovensaale geben mußte.

Als er dann endlich kam, entwickelte er beim Frühstück einen Appetit wie nie zuvor. Zwei Tassen Tee, zwei belegte Brote und dann frug er den verblüfften Stefan, was es zum Mittagessen gebe und als Abendbrot.

Von seinem Konzert nicht einen Ton.

»Willst du noch einmal proben?« sagte Haller und nahm Brückner vom Flügel um Beethoven aufzulegen.

Radanyi sah ihn gequält an. »Wenn Sie es für nötig halten, Meister!«

»Nein! Ich dachte nur –, wenn es dir lieb wäre, Elemer!«

Radanyi schüttelte den Kopf, nahm die Morgenzeitung und ging nach dem kleinen Wäldchen hinter der Wiese. Dort traf ihn Stefan, wie er im Grase lag, die Hände unterm Kopf verschränkt, geradewegs in den Himmel träumend.

Der junge Herr war ihm noch nie ein solches Rätsel gewesen, wie heute. Er war entschieden aufgeregter, obwohl er gar nichts dabei zu tun hatte.

Völlig aus dem Geleise geworfen aber wurde er, als Elemer ihm am Nachmittag die Mitteilung machte, daß einer der ersten Plätze für ihn reserviert sei.

Zwei Stunden kam er nicht mehr aus seinem Zimmer. Und als er dann heraustrat, hätte Haller ihn beinahe nicht mehr gekannt, so schön hatte er sich gemacht. Der junge Herr sollte sich seiner nicht zu schämen brauchen.

»Ich glaube, es wird voll,« sagte Radanyi lächelnd, als er die endlose Wagenreihe vor der Auffahrt sah. »Mir wird Angst, Meister.«

Haller sah an seinem vergnügten Gesichte, daß er scherzte. Er hatte noch nie einen solchen Schüler gehabt, der mit solcher Ruhe in sein erstes Konzert ging. Es würde alles klappen.

Aber es klappte nicht nur – es wurde ein Triumph. Man hatte sich Großes von dem jungen Talent versprochen, das da in Hallers Schütz und Pflege herangereift war. Aber alle Erwartungen wurden weit übertroffen. Technik und Seele vereinigten sich im Spiele, strömten gleich einer allesbezwingenden, geheimnisvollen Macht aus Radanyis Geige auf seine Zuhörer über und rissen diese mit sich. Solchen Beifall hatte der Beethovensaal nur selten erlebt. Ein wahrer Hügel von Kränzen und Blumen wölbte sich zu Radanyis Füßen. Er sah Alice Ballins Augen strahlend auf sich gerichtet, und neben ihr Warren und den Bankier und etwas weiter nach rechts den alten Stefan. Die Tränen kollerten ihm über die runzeligen Wangen herab auf den Strauß von Astern, der für Elemer bestimmt war und den er ganz zu geben vergaß.

Die gesamte Kritik fand am anderen Morgen ein einziges vollkommen uneingeschränktes Wort des Lobes. Schon das erste Konzert hatte ihn zu einer Größe gemacht. Die Salons der ersten Wiener Kreise öffneten sich dem neuen Stern. Eine Flut von Einladungen ergoß sich über ihn. Glänzende Angebote liefen ein. Er konzertierte in den folgenden Wochen in den größten Städten Deutsch-Oesterreichs. Haller begleitete den Schüler getreulich. Im Laufe des Jahres unternahmen sie zusammen eine Tournee durch ganz Europa. Es war ein einziger Triumph und Presse und Publikum waren sich überall, wohin sie auch kamen, in der Begeisterung und im Lobe einig.

Zu seinem sechsundzwanzigsten Wiegenfeste lief eine Karte aus Schottland ein. Fein säuberlich geschrieben.

»Die besten Wünsche zum Geburtstage sendet dir, lieber Elemer, deine Eva Maria Warren.«

Sonst nichts.

Radanyis ganze Festesfreude verblaßte. Verärgert warf er das Kärtchen zur Seite.

»Was hast du dir erwartet?« frug Haller amüsiert.

»Zum mindesten einen Brief.«

»Du großer, dummer Junge! Aus einem Kloster, unter den Augen einer Aebtissin, was hätte sie dir da schreiben sollen? Wenn man seine Liebe an eine kaum Sechzehnjährige schenkt, darf man nicht mit ihr rechten, wie mit einem reifen Weibe!«

Elemer sah ein, daß der Meister recht hatte. Er nahm die mißhandelte Karte und glättete sie sorgsam. Jeder Buchstabe erschien ihm nun als ein Liebesbeweis. Vorsichtig steckte er sie in die Brieftasche. Sie hatte an ihn gedacht. Es stimmte ihn froh. Er sandte ein Telegramm als Dank und eine Riesenbonbonniere, an der sie drei Wochen zu knabbern haben würde.

Den zweiten Winter gastierte er in Rußland. Haller kam diesmal nicht mit. Das rauhe Klima sagte ihm nicht zu, aber er hatte für seinen Schüler einen erstrangigen Begleiter gesucht, der auch im Charakter und Fühlen mit ihm übereinstimmte. Im Frühjahr kam er wieder und gab einige Konzerte im Inlande. Den Sommer verbrachte er mit dem Meister in der geliebten Steppe. Radanyi sonnte sich im Glücke, den Enkel wenigstens für Wochen wieder zu haben.

Dann kam mit den ersten Schneeflocken die Reise nach dem Süden, an der auch Haller wieder teilnahm, sich von der strahlenden Sonne Italiens und Spaniens seine vertrockneten Knochen, wie er sich ausdrückte, wieder neu besäftigen zu lassen.

Drei Jahre sind eine Ewigkeit, wenn man sie vor sich sieht, wie eine Gegend, die vor unseren Augen stehend doch erst nach endlos langem Wandern zu erreichen ist. Sind sie vorüber, gleichen die Wochen einem Flügelschlag, der einmal im halben Träumen über uns hinwegrauschte.

Radanyi konzertierte in Stockholm, als ein Telegramm Hallers ihn erreichte.

»Sie ist zurückgekommen ... Wann kehrst du heim? – Dein Meister.«

Elemer fieberte. Noch einen Abend, den er unmöglich absagen konnte, dann wollte er reisen. Noch nie war ein Tag und eine Nacht so schleppend lang gewesen. Er quälte sich und suchte sich vorzustellen, wie sie sich entwickelt hatte, wie sie sich gab, sie war nun achtzehn. Ob sie gewachsen war, ob sie wohl wußte, was Liebe ist, er erschrak, wenn er das dachte. Wenn sie schon einen anderen im Herzen trug? Die Fahrt im Schnellzug wurde zur Marter. Für ein paar Stunden verkürzte der Schlaf die Qual der Erwartung und der Ungewißheit.

Und nun stand er nach fünfundzwanzig Stunden Fahrt am Gartentore vor Hallers Landhaus und drückte sachte die Klinke ins Schloß. Stefan kniete jätend zwischen seinen Bäumen. Das Bücken ging nicht mehr. Der Rücken war allzu steif und ungelenk geworden. Nur sein Gehör ließ immer noch nichts zu wünschen übrig. Er horchte auf, als jemand hinter ihm den bekiesten Weg entlang kam.

»Unser junger Herr!«

Er wäre um ein Haar vornüber zwischen all seine Bumenkinder gefallen.

Elemer drückte die alten, treuen Hände, die noch so unentwegt ihre Pflicht erfüllten. Sie gingen zusammen ins Haus und wie dazumal, meldete Stefan seinem Direktor.

Zu dreien saßen sie in dem gemütlichen Verandazimmer, das heißt, der Alte war stehengeblieben und wollte sich hinausschleichen, um einen Imbiß herzurichten, aber Radanyi drückte ihn neben sich in einen Stuhl. »Wir gehören nun doch einmal zusammen, Meister, nicht?« Und Haller nickte mit einem gütigen Lächeln seine Zustimmung.

In seinem Zimmer, das stets für ihn bereit stand, fand Elemer eine Karte vor, die auffällig in der Mitte des Schreibtisches lag.

Mein lieber Radanyi!

Es würde mich recht herzlich freuen, wenn Sie an dem heutigen Gesellschaftsabend, den ich zu Ehren meiner zurückgekehrten Tochter gebe, teilnehmen könnten. Von Ihrem Meister habe ich erfahren, daß Sie sehr wahrscheinlich aus Stockholm retour sein werden.

Ihr erg. Warren.

Radanyi drehte die Karte zwischen seinen gepflegten Händen, kniff erst den rechten Rand und dann den linken, hierauf auch noch die Ecken ein, strich darüber hin, und kniff von neuem, bis das Geschriebene kaum mehr leserlich war und wunderte sich zum Schluß, wie er das zuwege gebracht hatte. So sehr war er mit seinen Gedanken abwesend gewesen. Immer quälte er sich mit dem Bilde der Geliebten, aber es zerrann immer wieder wie ein Schemen.

»Bist du neugierig, mein Junge?« neckte Haller, als er aus seinem Zimmer in das des Meisters trat.

Radanyi nickte. »Haben Sie Eva Maria schon gesehen?«

»Ja!«

»Ja?« Radanyi empfand es kaum, daß er dies schrie. »Ist sie noch so, wie damals, Meister?«

Haller hörte die Angst aus der Stimme seines Schülers; er musterte die schlanke, ebenmäßige Gestalt mit einem wohlgefälligen Blick und schüttelte dabei den Kopf.

»Nicht!« sagte Elemer resigniert.

»Das kannst du dir auch nicht erwartet haben, mein Lieber. Sie hat sich natürlich verändert und nicht wenig. Drei Jahre bei einem Mädchen, das will etwas heißen. Ein Kind darfst du dir selbstverständlich nicht mehr vorstellen. Sie ist eine junge Dame – und zwar eine sehr schöne, junge Dame, die Anbeter in Menge haben wird. Du darfst dich auf die Füße stellen!«, schloß er lachend.

»Hat sie nach mir gefragt?«

»Nein!«

Radanni wurde blaß und blickte von dem Meister weg nach den aufgeschlagenen Noten am Flügel. »Ich werde nicht hingehen heute abend!«

Haller betrachtete ihn amüsiert ... »Schade. Es wird ihr sicher leid tun.«

»Wenn sie etwas von mir wissen wollte, hätte sie nach mir gefragt,« erregte sich Elemer. »Daß sie es nicht getan hat, ist ein Beweis, daß sie sich nicht mehr für mich interessiert.«

»Möglich!« sagte Haller mit aller Ruhe. »Aber sehr wahrscheinlich nicht. Denn heute morgen, während ich nicht zu Hause war, war sie da und hat den Stefan gefragt, wann du kommst und den Strauß von Rosen für dich zum Willkommgruß dagelassen, – er steht in deinem Zimmer.«

»Meister! – Meister! – Meister!«

»Um Gotteswillen, erdrück mich nicht.« Haller wandte sich mit einem Schmerzenslaut unter Radanyis Umarmung. »Erst fährst du im Expreß von Stockholm nach Wien, dann willst du aus lauter gekränkter Eitelkeit nicht hingehen, weil ein kleines Mädchen nicht nach Serenissimus gefragt hat, und nun machen ein paar Rosen dich überschnappen. – Solche Sachen hast du nicht einmal geliefert, als du frisch aus der Pußta kamst!«

Elemer strahlte. »Wann wollen wir nach der Herrenstraße fahren?«

»Etwas vor acht Uhr!«

»Ich habe so ein komisches Gefühl!« gestand Radanni. »Ich liefe am besten soweit meine Füße mich trügen!«

»So lauf doch!« riet Haller vergnügt.

Aber Elemer blieb.

Als ihr Wagen vor dem Palais Warren hielt, strahlte bereits heller Glanz aus der Halle und den hohen Fenstern des ersten Stockwertes. Auto und Equipagen kamen angefahren. Unter kostbaren Pelzen und Abendmänteln knisterte und rauschte Atlas und weiche, schmiegsame Seide. Fiel im Vestibül die Hülle, leuchteten zartweiße Nacken und Schultern von hauchdünnem Spitzengeriesel kaum verdeckt. Namen schwirrten, begehrende und bewundernde Männerblicke glitten den Frauengestalten nach, die da wie Elfen über die Treppe aufwärts huschten. Kaum eine Uniform, die von dem Schwarz der Fracke der Herrenwelt abstach. Es war nicht mehr das Wien der Kaiserzeit. Nur hin und wieder zeigte sich an dieser oder jener Brust ein Ordens- oder Ehrenzeichen. Aber vor Warrens Haus machte trotz allem die Talmigesellschaft der Emporkömmlinge Halt. Für sie war in der Herrenstraße kein Raum. Mochte die alte Aristokratie und das Edelbürgertum zu Hause auch hungern und mit Apfelschalentee als einzige Mahlzeit den Tag beschließen, das Schild der Ehre von allen denen, die heute Gast bei dem Grafen waren, blitzte rein und unbeschmutzt. So hatten die Warren es immer gehalten.

Radanyis Gesicht war blaß vor Erregung. Er nestelte aufgeregt an den dunklen Lederhandschuhen. Wie lange war er nun nicht mehr hier gewesen. Wenn er die Augen schloß, glaubte er trotzdem, er käme eben erst herauf aus der Steppe und stiege mit der kleinen Eve Mi die breite Treppe empor. Solch unwissender Knabe war er damals gewesen, und nun gab es nichts mehr im gesellschaftlichen Leben, das ihm nicht geläufig war.

Jemand rief seinen Namen und dann winkte ein kleines, seidenes Tüchlein vom obersten Stiegenabsatze. Er bahnte sich den Weg empor und ließ sich von Alice Ballin küssen und von dem Onkel die Hände drücken. Er mußte versprechen, zum Mittag morgen in die Cottage zu kommen und seine Geige mitzubringen. Die Tante sah Elemers suchenden Blick und konnte nicht entdecken, wonach er fahndete.

»Liebst du eines der kleinen Wienermädchen?« forschte sie schelmisch.

Er fühlte, daß er rot wurde, und wandte den Kopf. Zwei Hände hielten ihn an den Schultern fest. »Herzlich willkommen, lieber Radanyi.«

Warren stand breitschultrig vor ihm, mit ein paar weißen Strichen in dem dunklen Vollbart. »Das heiße ich Freundschaft, daß Sie gekommen sind. Die Eve Mi war schon in Sorge, Sie könnten etwa nicht eintreffen, oder der Expreß entgleisen.«

»Ich bin überglücklich, Herr Graf, daß ich hier sein kann!« Elemer suchte über Warrens Kopf hinweg durch den Raum. Er konnte nichts finden. Immer waren es wieder andere Gesichter, die an ihm vorübergingen, als das, das er zu sehen begehrte. Neben seinem Onkel tauchte die imposante Figur des Herrenreiters Gellern auf, der grüßend beide Hände streckte, als er Radanyi erblickte. Quer nach der rechten Ecke, dicht neben einem der Marmorpfeiler, welche die schwere Stukkatur des Saales trugen, sah er Haller in angeregtem Gespräch mit einer jungen Dame, die ihm den Rücken wandte. Ein flimmernder, blonder Haarknoten lag ihr tief im Nacken. Weiße Spitzen rieselten über den schlanken Körper. Man konnte den Ansatz der Schultern und des Nackens nur ahnen, denn eben solche Spitzen wieder verwehrten jeden indiskreten Blick. Elemer blickte interessiert nach ihr hinüber. Waren die Töchter des Grafen Hirschberg schon so weit entwickelt? Sie hatten schon als Backfische dieses wundervolle Ebenmaß der Formen gezeigt. Aber er suchte sich vergeblich zu entsinnen, ob sie blond oder braun gewesen waren. Jedenfalls hatten sie schon damals, jede in ihrer Art, eine erstklassige Schönheit zu werden versprochen. Es hatte doch keine andere Stadt des Kontinents so viele herrliche Mädchen und Frauen als Wien.

Nun sah er, wie Haller herzlich auflachte. Er schien sich äußerst gut zu amüsieren. Dann trafen ihre Blicke auf einander. Der Meister schien die Dame auf ihn aufmerksam zu machen, denn sie wandte sich eiligst um.

Das Blut sprang Radanyi in jähem Schuß zum Herzen, dann in die Wangen, bis tief an die Schläfen fühlte er es kreisen.

»Eva Maria!«

Beinahe rücksichtslos gegen alles, was ihm im Wege stand, bahnte er sich einen Weg hinüber zu ihr. Sie kam ihm einige Schritte entgegen mit einem verklärten Leuchten in den Augen.

»Elemer – Herr Radanyi,« sagte sie verlegen.

Er küßte ihr die Hände. Sie zitterten, als er sie fest umschloß. Er fühlte, sie wußte nun was Liebe war. Ihre Wangen schienen in eine einzige, glühende Flut getaucht.

»Ich habe mich so unsagbar auf dich – auf Sie gefreut. Komtesse!«

Sie schob die Lippen übereinander, wie sie es schon als Kind immer getan hatte, was ihrem Gesichte so etwas rührend Hilfloses gab.

»Sie sind so ganz anders geworden!« – sagte sie und mußte ihn immerfort ansehen. »Das heißt, ich – ich hatte dich anders im Gedächtnis, Elemer! Ich bring's nicht fertig, Herr Radanyi zu sagen, wie die anderen.«

Es hingen ihr ein paar schwere Tropfen an den Wangen, die sie erschrocken fortwischte. Er faßte nach ihrer Hand.

»Es tut mir unendlich leid, Eva Maria, daß ich – daß ich dich enttäuscht habe!«

»Enttäuscht?« Sie verstand ihn nicht. »Ich kann gar nicht begreifen,« sie blickte dabei errötend in sein mattweißes Gesicht, »daß ich vor drei Jahren noch auf deinen – auf Ihren Knien saß und – und dich mit tausend Kinderdingen quälte. Jetzt würde ich das nicht mehr wagen. Ich bin ganz Ehrfurcht und Bewunderung.«

»Wieso, Eva Maria?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich würde mir's nun eben nicht mehr getrauen, auch wenn ich fünfzehn Jahre alt wäre. Ich bin so selig gewesen, daß ich Ihr – dein Bild hatte und habe es alle Tage geküßt!«

Sie biß sich verlegen auf die Lippen.

»Eva Maria!«

Die schmale, weiße Hand zuckte zwischen der seinen. Sie sah verwirrt von ihm weg und wollte ihre Finger lösen. Er hielt sie nur noch fester umklammert. »Willst du mich nicht ansehen, Eva Maria?«

Ihre Augen tauchten für eine kurze Sekunde in die seinen. Aber es genügte, daß er im Innersten aufjauchzte vor Wonne und Beseligtsein. Sie liebte ihn! Es war nicht mehr die Liebe, die das Kind von einst für ihn gefühlt hatte, es war die andere, die Mann und Weib verbindet, die Jubel oder Verzweiflung in sich trägt, die Generationen erstehen läßt oder sich dem Tod in die Arme wirft.

Seine Hände zitterten nun gleich den ihren in maßloser Erregung. Er haßte beinahe all diese Menschen, welche um ihn waren und wie es ihm schien, die Heiligkeit des Augenblickes entweihten. Er wollte sprechen, aber es drückte ihm etwas die Kehle zu, hier vor den vielen konnte er ihr nicht sagen, was er im Innern trug, die ganze Qual der letzten Jahre, bis sie wiederkam.

Mit einem Male war er weggedrängt von ihr. Sie wurde umkreist von einem Kranz von Herren, die sie begrüßten oder ihr vorgestellt sein wollten. Und er stand mitten eingeschlossen von einem halben Dutzend schöner, lebenslustiger Wienerinnen. Das lachte, frug und schäkerte; er sah sich bewundert, umworben, umschmeichelt, verwöhnt. Im Vollempfinden sicheren Besitzes zeigte er sich in sprühend-köstlicher Laune. Aus Petersburg, Rom und Madrid, aus London, der Slowakei und Stockholm hatte er Grüße zu überbringen. Bis er sich's versah, hatte er sein Wort für unzählige Tees und Abendgesellschaften und Nachmittagsausflüge gegeben. Was blieb da noch für Eva Maria übrig?

Er blickte zu ihr hinüber und sah, wie ihre Augen an ihm hingen. Er las die Angst aus denselben. Was fürchtete sie? Diese plaudernden, flirtenden Puppen, die ihn da umdrängten? »Süße, kleine Evi Mi.« Sie waren ihm alle nichts. Ein Zeitvertreib des Augenblicks, aber seine Seele, sein Herz, wußte nichts von ihnen.

Sie war die erste, die er geliebt hatte, – sie würde die letzte sein. Es war keine vor und würde keine nach ihr kommen. Niemals!

Von einem der Nebenräume her klang die Stimme Hartungs, des Heldenbaritons des Burgtheaters. Er sang seinen begeisterten Freunden Eduard Griegs »Ich liebe dich!«

»Du mein Gedanke, du mein Sein und Werden, du meines Herzens höchste Seligkeit. Ich liebe dich wie nichts auf dieser Erden. Ich liebe dich für Zeit und Ewigkeit.«

Radanyi hörte und sah nichts mehr um sich. Er hörte kaum die Töne, nur die Worte, die der andere sang. Er fühlte die Berührung durch eine Hand, leis und zitternd, als habe ein Blütenzweig ihn im Vorübergehen gestreift. Unauffällig wandte er sich etwas nach rückwärts. Eva Maria stand hinter ihm. Er durfte sie nicht ansehen, er verriet sich sonst. Die große Menge sollte keinen Teil haben an dem Glücke dieser Stunde.

Er saß bei Tisch an ihrer Seite. Dann glitt er nach dem Rhythmus der Musik mit ihr durch den weiten Saal. Sie fühlten sich eins. Ihre Seelen waren es schon und ihr Körper sollte es werden, wenn sie als Mann und Weib sich angehörten.

Morgen wollte er kommen und Warren fragen, ob er ihm sein einziges Kind als Weggenossin durchs Leben gab.

»Darf ich kommen, liebe, kleine Eve Mi?« fragte er sie ganz in Gedanken heraus.

»Ja, immer, – immer, Elemer!«

Verstand sie ihn? Wußte sie, was er meinte?

»Liebst du mich?« wollte er sagen, verschwieg es aber, denn der Herrenreiter Gellern bat um die nächste Walzertour.

Dann holte er sie noch einmal zu einer wiegenden, tändelnden Runde.

»Ich habe eine Bitte, Eve Mi!«

»Wenn es möglich ist, will ich dir alles gewähren, um was du zu mir kommst!«

»Ich bringe an einem der nächsten Tage meine Geige mit. Möchtest du mich am Flügel begleiten?«

Er strich über ihre weichen, warmen Hände. Ihre Augen strahlten ihn an. Aber es leuchtete ein Kobold zwischen der Liebe, die aus ihnen sprach.

»O, gerne, herzlich gerne, Elemer. Nur – ich fürchte nämlich, daß ich nicht genügend Temperament besitze für Zigeunermusik!«

Sie erschrak bis ins Innerste über die Wirkung, die ihre Worte bei Radanyi hervorrief. Aus seinem Gesichte war jeder Tropfen Blut gewichen. Die Lippen zu schmalen Linien aufeinandergepreßt, stand er hochaufgerichtet vor ihr. Sie empfand, daß sie ihn ungewollt aufs tiefste beleidigt hatte. Mit einer kühlen Verbeugung gab er ihren Arm frei.

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Komtesse. Ich begreife, daß Sie rechtzeitig eine Grenze zu ziehen wünschen, zwischen sich und dem – Zigeuner!«

Eine nochmalige förmliche, kurze Verneigung, dann ging er hochaufgerichtet durch den Saal zu einer Gruppe von Herren, die plaudernd in einer Ecke standen.

Die Tränen schossen ihr in die Augen und brannten, weil sie nicht rinnen durften. Sie starrte ihm nach – ungläubig-erschrocken, noch immer nicht begreifend, daß dieses eine, einzige, unbedachte Wort ihn so verletzen konnte. Und sie hatte nichts gewollt, als ihn an die Tage der Pußta erinnern, wenn er neben ihr auf der heißen Erde der Steppe saß und ihr die wirbelnden Weisen vorspielte, welche er dem Primas abgelauscht hatte. Wußte er nichts mehr um all die Küsse, die sie ihm dafür geschenkt? Nichts mehr um all die Tränen, die sie dabei geweint hatte, wenn seine Geige klagte und schluchzte. Alles hatte er vergessen und wollte kein Erinnern, hatte kein Gedenken für die Jahre, die ihr bis heute ein einziger Himmel gedünkt hatten.

Sie sah nach ihm hinüber. Aber er wandte keinen Blick zu ihr. Wenn er käme, würde sie ihn bitten, daß er vergab. Sie legte, als tue sie dies jetzt schon, die beiden Hände ineinander.

»Was grübeln Sie, Komtesse?« sagte die Stimme des Herrenreiters Gellern neben ihr. »Und so ernst, ganz erfüllt von der Verantwortung Ihrer achtzehn Jahre. Darf ich Sie etwas auf die Terrasse führen? Sie scheinen sehr ermüdet zu sein?«

Willenlos legte sie ihre Hand auf den dargebotenen Arm. Radanyis Blick folgte den beiden. Alles in ihm war noch in Wallung. Er war ein Narr gewesen. Er hatte nach einem Stern gegriffen, der niemals für ihn leuchten würde. Aber diese Erkenntnis war fürchterlich.

Haller kam aus dem Musikzimmer auf ihn zugesteuert, er war zu Hartungs Begleitung arrangiert gewesen. Kopfschüttelnd legte er Elemer die Rechte auf die Schulter. »Du siehst ja miserabel aus, mein Junge. Was ist es denn mit dir? Nicht wohl? –«

Radanyi nickte, ohne ein Wort zu sagen.

»Erklärlich ist es!« meinte Haller gutmütig. »Erst die endlose Fahrt und dann der Trubel hier und all die Begrüßerei und dann das Wiedersehen mit ihr, du bist eben auch nicht mehr achtzehn Jahre, sondern in Bälde an die dreißig. Ja, man wird alt, mein Lieber. Viel rascher, als man sichs versieht. Willst du heim?«

»Ja, je eher, desto lieber!«

Der Direktor sah besorgt in das bleiche, erregte Gesicht seines Schülers, in welchem die Augen so unnatürlich groß und fiebernd glänzten.

»Machst du mir Geschichten? – Wie? – Nur gut, daß du zu Hause bist und nicht in Stockholm. Ich geh mit dir dann heim.– Der Stefan kocht dir Münzentee, dann schläfst du ordentlich und die Sache ist wieder erledigt!«

Elemer wehrte. »Nein, Meister, Sie dürfen auf keinen Fall mit mir kommen. Sie müssen bleiben. Ich finde meinen Weg allein!«

»Glaube ich schon! Aber wir gehen zusammen. Ich bin auch froh, wenn ich zur Ruhe komme. Man ist nicht mehr wie früher. So in deinem Alter, da war ich immer einer der letzten, die nach Haus gewandert sind. Wollen wir gehen? Oder willst du einen Wagen haben?«

»Ja, einen Wagen!« brachte Radanyi hervor. »Aber lassen Sie mich allein fahren, Meister – ich muß allein sein, – es erdrückt mich sonst!«

»Was erdrückt dich, Elemer?« Haller erschrak nun ernstlich. »Kommt es vom Herzen oder vom Gehirn? Das verdammte Reisen. Du hast ja auch kein Maß und Ziel. Und nötig hättest du es auch nicht. – Warte einen Augenblick, ich sehe nach einem Wagen!«

Gellern kam mit Eve Maria von der Terrasse zurück. Die Nachtluft hatte ein feines Rot auf ihre Wangen gezeichnet. Als sie Radanyi ansah, vertiefte es sich.

»Lieber Baron Gellern« sprach Haller auf ihn zutretend, »haben Sie wohl Ihr Auto unten stehen? – Ja? – Herr Radanyi ist nicht ganz wohl. Könnten Sie uns nach Hause bringen lassen? – Es dauert sonst vielleicht etwas zu lange!«

»Sofort!« erbot sich Gellern und ging, den Befehl zum Vorfahren zu geben.

Er verbeugte sich vor Eva Maria, bat zu entschuldigen und verließ den Saal. Das junge Mädchen war nun so bleich wie Elemer. Es hob die Hände und ließ sie wieder sinken. War er krank? Krank um sie? Wenn er daran starb? Was glaubt man nicht alles mit achtzehn Jahren? Ratlos sah sie erst auf Haller, dann wieder nach Radanyi. »Ich will einen Arzt holen!« sagte sie verschüchtert.

Ein kühler Blick traf sie. Erschrocken wandte sie den ihren ab. Sie hörte nur wie durch einen dichten Nebel die Stimme des geliebten Mannes, des Freundes ihrer Kindertage.

»Bemühen Sie sich nicht, Komtesse. Ich verderbe nicht so rasch. Zigeuner sind eine zähe Rasse.«

Halter blickte ihn verwundert an. Warum zuckte Eve Maria dabei so jäh zusammen? War da schon am ersten Tage ein Mißklang in das Wiedersehen gekommen? Wer war der Schuldige? Radanyis rasches, schnelles, flüssiges Blut oder die Unerfahrenheit und allzu große Ehrlichkeit der Tochter Warrens? Nun, die Sache würde sich wohl wieder klären. Menschen, die sich liebten, quälten sich für die Regel auch am meisten. Das gehörte mit dazu. Sonst müßte man sich ja gegenseitig vor lauter Lust erdrücken.

Gellern kam und meldete, daß der Wagen angekurbelt sei. Eva Maria ging an Halters Seite noch bis hinab ins Vestibül. Mit Elemer konnte sie kein einziges versöhnendes Wort mehr wechseln. Er küßte ihr flüchtig die Fingerspitzen der rechten Hand und ließ sie sofort wieder fallen.

»Elemer!« flüsterte sie leise.

Er hatte es wohl gehört. Aber er dachte in all seiner Erregung nur an sich und nicht an die Not, die er in ihren Augen las.

So gingen sie auseinander. Und hätte doch ein einziges liebes Wort von seiner Seite der ganzen Qual ein Ende gemacht.

Aber so sind die Menschen, sie denken niemals, daß über kurz oder lang eine Stunde kommt, in der sie ihren ganzen Reichtum an Liebe geben würden, wenn der andere noch einmal die Augen öffnen und ihre Bitte hören könnte.

Auf der Heimfahrt sprachen Haller und Radanyi kaum einige Worte. Der Direktor wollte nicht fragen. Wenn der Junge fertig war mit sich selbst, dann kam er und würde sprechen, wie er es immer noch getan hatte, all die Zeit zurück, so weit er dachte.

»Gute Nacht, Meister,« sagte Elemer, und dieser sah den Kampf im Gesichte seines Schülers. Aber er sollte erst ruhig werden und dann reden. Morgen, bei Tageshelle, war das Ganze jedenfalls anders, als er es heute auffaßte.

»Schlaf dich gesund, mein Junge!«, mit diesem Gruß trat er in sein Schlafzimmer und hörte Elemer nach dem seinen gehen. So viel war sicher: mit Münzentee konnte Stefan diesmal keine Erfolge erzielen.

Haller lag schon seit Stunden in den Kissen, aber es war nur ein halbes Hinüberträumen. Ueber ihm ging Elemers Schritt hin und zurück und auf und ab und wieder hin und wieder zurück. Dann klirrte ein Fenster. Schloß er es oder riß er es auf? Haller wußte es nicht. Dann knarrte die Treppe und der gleiche ruhelose Schritt machte draußen zwischen den Beeten den Kies knirschen. Erst gegen vier Uhr früh klappte die Haustüre ins Schloß. Ein Riegel wurde vorgeschoben.

Das Haus lag ganz in Totenstille. Uebermüdet fielen dem Meister die Lider zu.

... Am nächsten Morgen kam Radanyi verspätet zum Frühstück. Mit tiefliegenden Augen, die rot umrandet waren, und einem fremden Zug im Gesichte.

»Bist du über Nacht ein anderer geworden?« frug Haller halb im Scherz.

»Ja. Meister.«

»Was hat dich aus dem Gleichgewicht geworfen, Elemer?«

Radanyi goß die feine Meißener Tasse bis oben an den Rand mit schwarzem Kaffee und stürzte ihn auf einen Zug hinunter. »Ich möchte gerne noch vor dem Herbst die geplante Tournee nach Amerika antreten. Kommen Sie mit?«

»Nein,« sagte Haller. »Ich würde gerne mit dir gehen, aber ich kann mich nicht frei machen den Winter, sonst setzt mir die Akademie den Stuhl vor die Türe. Aber abgesehen davon, das war keine Antwort auf meine Frage!«

»Ich kann sie nicht geben, Meister!«

»Das heißt, du hast kein Vertrauen mehr zu mir und wünschest keinerlei Einmischung meinerseits in deine Angelegenheiten mehr!«

»Nein, so ist es nicht. Erinnern Sie sich nicht, was ich damals fürchtete, daß ich nichts bin, als ein Dutzendgeiger, wie sie in jeder Stadt herumlaufen. Und ich kann Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, Meister, daß Sie mir nicht vor Augen führten, daß ich einfach nicht in diese Sphäre hereinpasse, daß ich nur geduldet bin, daß man mein bißchen Geigenspiel als Mäntelchen benutzt, um eben einen Vorwand zu haben, daß man mich duldet. Im Grunde genommen ist alles Heuchelei. Ob mit, ob ohne Geige, ich bleibe ewig der – Zigeuner!«

Haller sprang auf und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, daß die Tassen klirrten und die Brote sprangen. Ein Silberlöffel hüpfte klirrend zu Boden. Keiner bückte sich darum, weil keiner es gehört, noch gesehen hatte. Der Direktor bog sich über den Tisch hinüber, wo sein Schüler stand. »Du – Du –«

»Meister – –«

»Laß mich reden. Wer hat dir diese verrückte Idee eingeimpft? Und wann? Bist du etwa – –?«

»Meister!« Elemer hob unterbrechend beide Hände. »Sie können sagen, was Sie wollen, es ist doch so. – Ein Zigeuner! – Sehen Sie mich doch nur an, Meister? – Sie brauchen mich ja nur anzusehen – –«

Radanyis Stimme schluchzte förmlich.

»Herrgott Donnerwetter! ja, ich brauche dich nur anzusehen.« Der Direktor wischte ganz erregt mit dem blaugerandeten Taschentuch über Stirne und Haupthaar, –»Du dummer Junge – du dummer Junge –. Und dabei laufen dir die Weiber nach, zu Dutzenden, in ganzen Haufen, wie – ich mags ja gar nicht sagen, wie man sich in Wien darüber ausdrückt bei dem Viehzeug. Und alles wahrscheinlich deswegen, weil sie wissen, daß du ein Zigeuner bist.«

»Stefan!«

Haller riß die Türe auf und wollte nochmals rufen, aber es war unnötig. Der Alte kam bereits herbeigeschlürft. Zank, das hatte es noch nie gegeben, so lang der junge Herr im Hause war. Wer hätte so etwas gedacht.

»Also, Stefan!« Haller machte eine Bewegung, die um sein Nähertreten bat. »Wo sind alle die Sträuße und die Blumen, die das Jahr über für den jungen Herrn abgegeben worden sind und all das Geschreibsel, das für ihn einlief, wenn es den Zeitungen einmal einfiel, zu schreiben, er käme auf seiner Tournee durch Wien und mache hier ein paar Tage Rast. – Also, wo ist das alles? – Verbrannt und weggeworfen? Schade! – Aber es wäre ein schöner Haufen gewesen miteinander. Und man hätte dir's eigentlich alles aufheben sollen zur Strafe, Elemer. Dann wärst du jedem weiblichen Wesen dein Leben lang sechs Meter vom Leibe geblieben – Sie können schon wieder gehen, Stefan, sonst brennt der Schöpsrücken an und die weißen Rüben! – Aber das sag ich dir, mein Lieber, wenn du mir nochmal mit dem »Zigeuner« kommst, dann setz ich dich vor die Türe, so wahr ich dein Meister bin.« Er faßte seinen Schüler an beiden Schultern und rüttelte ihn kräftig. »Dank deinem Herrgott für das, was du von deinem Vater geerbt hast. Wer weiß, was sonst aus dir geworden wäre! Irgendein Pfenniggeiger in so einer Spelunke, oder einer wie der alte Werner, der in Kinos und Kabaretts herumspielt und ewig hungrig zu Bett geht. So – und jetzt Schluß! – Du hast mich ordentlich in Harnisch gebracht. Das erstemal in den neun Jahren und hoffentlich auch das letztemal. – Wenn du noch etwas zu sagen hast, dann rede du jetzt.«

Radanyi saß vorneübergebeugt. Er sah, wie die Sonnenfünkchen leichtfüßig über den Teppich rückten. Immer mehr der Türe zu.

»Sie wissen ja nicht, um was es sich handelt, Meister!«

»Da hast du recht! Wenn du mir das So und Wie erklären wolltest, würde ich mich besser auskennen.«

Elemer sah wieder nach den Fünkchen, die kletterten nun in einer lichten Kette die Füße des Flügels hinauf. Er berichtete, was Eva Maria zu ihm gesagt hatte.

»Also deswegen!« Haller steckte sich erleichtert seine Morgenzigarre in Brand. »Gott, Elemer, wie kannst du nur so kleinlich sein. Das arme Mädel hat sich gar nichts dabei gedacht. – Absolut nichts. Das so aufzufassen und gleich derart aus dem Konzept zu fahren, ist wirklich lächerlich. Übrigens, das kann ich dir sagen, damals, als du aus der Steppe herauf kamst, war alles in dich verliebt: Warren und die Ballins – beide – und der Stefan – und ich – ich bin's heute noch – lach nur, du änderst nichts daran, es ist schon so, und die Eve Mi, das arme Ding, ist's auch, noch viel mehr als vor drei Jahren. Sie hat's nur damals nicht gewußt, warum sie dich geküßt hat und sich auf deine Knie flüchtete in ihrem und deinem Abschiedsjammer.«

Radanyi sagte kein Wort mehr. Der Meister meinte es gut und hatte im Grunde genommen recht. Er ließ sich eine Morgenzigarre geben und steckte sie an der Hallers in Brand.

»Geh noch ein wenig in den Garten,« rief dieser, »und laß dir die Morgenluft um die Haare wehen. Und wenn du wieder vernünftig denken kannst, dann möchte ich dich bitten, mit mir Mozart zu spielen.«

»Beethoven?«, neckte Radanyi, als er schon unter der offenen Türe stand.

»Mozart, habe ich gesagt. – Der macht uns beiden das Blut wieder etwas leichter. So und nun geh – und komm bald wieder ...«

Eine große, dunkle Aster flog gleich darauf vor Hallers Füße durch das offene Fenster. Der Meister sah seinem Schüler nach, wie er rückwärts zu dem Wäldchen ging. Solch edler, seelenguter Mensch und doch so rasches, heißes Blut! Manch einer hatte sich schon damit das Grab seines Glückes geschaufelt. Vielleicht war es ihm möglich, die Sache wieder einzurenken.

Seit jenem Abend war Radanyi nicht mehr in die Herrenstraße gegangen. Auch keine Zeile traf von ihm dort ein. Die Einladungen, die er zu absolvieren hatte, schlugen wie eine brausende Welle über ihm zusammen. Er kam kaum mehr zu sich selbst. Haller schalt über all den Unsinn. Er sah seinen Schüler fast nur mehr beim Frühstück, die andere Zeit des Tages war er Gast bei fremden Leuten. Kein Abend war mehr frei.

»Hast du sie nie wieder gesehen?« fragte der Direktor, als er wieder einmal Abschied nahm, um zu einem Gartenfest zu gehen.

»Nein –.« Ein leises Gefühl der Schuld und des Verlegenseins schwang sich in dem Tone mit. »Ich werde morgen fragen, wie es ihr geht!«

»Das ist brav von dir, mein Junge.«

Warren sorgte sich um seine Tochter. Sie war durchsichtig blaß geworden und ohne Appetit und Lebensfreude.

»Das macht der Klimawechsel,« sagte der alte Hausarzt, »das gibt sich wieder.« Aber es schien sich nicht zu geben. Eva Maria schlief bei Tag, aber ihre Nächte waren ohne jeden Schlaf. Sie kam nicht los von dem Gedanken, warum mußte ich sagen, was ihn so fürchterlich gekränkt hat. Wäre er gekommen, hätte sie ihn ohne Zögern um Verzeihung gebeten. Aber er kam nicht.

Wenn sie ihn bei Bankier Ballin treffen könnte, nur einmal, um der Qual ein Ende zu machen. Ganz müde und zerschlagen kam sie draußen an. Er war nicht da. Seit Tagen nicht mehr, sagte die junge Frau. Haller zankte vor kurzem, er sei nur mehr Schlafgast bei ihm.

Wieder nichts!

Sie fühlte sich so müde und verzweifelt und mußte bei Frau von Ballin Tee trinken und erzählen und plaudern und auf Fragen antworten, die sie nur halb gehört hatte, weil ihre Seele ganz wo anders weilte. Sie atmete auf, als die Sonne hinter den Bäumen des Parkes sank. Nun konnte sie gehen. Nur allein sein, es durfte niemand wissen, wie es um sie stand.

Es dämmerte rasch. Weiße Nebel kamen irgendwo aus den Gärten geschlichen und krochen die Eisengitter der Parks entlang. Sie ging wie in erdwärts ziehenden Wolken. Kein Ton durchschnitt die Stille der breiten, vornehmen Straße, kein Wagen glitt über den Asphalt, keine Autohupe bellte in das Schweigen. Es war keine Furcht in ihr, kein Verlassensein, Eva Maria empfand es als eine Wohltat.

Wie hatte sie sich vor kaum drei Wochen die Heimkehr gedacht! Voll Seligkeit und jauchzender Wiedersehensfreude, und wie hatte sie gewartet, bis er kam. Blumen hatte sie ihm als Willkommgruß selbst ins Haus gebracht und ihm gezeigt, was er ihr war, und alles um ein Nichts.

Eine Bank leuchtete weiß aus einer schmalen Einfriedung. Sie war so grenzenlos müde. Niemand würde sich zu Hause sorgen, wenn sie eine halbe Stunde später kam. Man wußte, daß sie zu Ballins gegangen war. Es fror sie in dem weißen, dünnen Leinenkleide, aber sie wollte hernach laufen, bis sie wieder warm wurde. Eine Lampe blitzte auf. Ein Schatten glitt auf der anderen Seite die Gärten entlang. Kein Schritt wurde dabei laut. Atembeklemmend, furchterregend wirkte diese Stille. Sie erhob sich und hastete nach rückwärts, wieder zu Ballins wollte sie und bitten, daß man ihr einen Wagen lieh.

Und neben ihr, nun auch zurück, lief der Schatten, dunkel, geheimnisvoll wie ein Mephisto. Zwischen fahlem Grün schimmerte weißes Mauerwerk. Ein glitzernder Knopf blitzte an der schweren, eisernen Gartentüre. Sie drückte ohne Besinnen darauf. Eine Dogge sprang im selben Augenblick dagegen, daß Eva Maria erschrocken wegtrat, um sie nicht zu reizen.

»Wer da?« frug eine Männerstimme hinter dem Gitterwerk.

Sie fuhr zusammen. Wo hatte sie diese Stimme nur schon gehört? »Wer da?« kam es noch einmal.

»Eva Maria Warren!«

»Einen Augenblick, Komtesse. Ich bringe nur die Hunde in Sicherheit.« Sie lehnte sich wortlos gegen die Stäbe. Nun wußte sie, wem die Stimme gehörte. Sie hatte bei dem Herrenreiter Gellern geläutet. Neben ihr knirschte ein Schlüssel, dann fühlte sie zwei warme, feste Hände, welche die ihren umfaßten und ein paar Lippen, die sich daraufdrückten. »Nicht wahr, es ist unheimlich so bei Nacht und zumal hier heraußen,« half er ihr über den ersten peinlichen Moment des Verlegenseins hinweg. »Darf ich Sie ins Haus bitten, zu meiner Mutter? Sie würde sich ungemein freuen, wenn ich ihr einen solchen Gast brächte. Sie ist gelähmt, seit zwanzig Jahren schon, sonst würde ich gehen, sie herbeizuholen!«

Ohne zu antworten, schritt Eva Maria an seiner Seite nach dem weißen Hause, dessen Umrisse unklar verschwammen. Letzte Rosen mochten irgendwo in den Beeten ihren Duft verströmen. Eva Maria sog ihn gierig ein. Die große, in die Tiefe gehende Diele, in die sie traten, war matt erleuchtet. Ein Druck von Gellerns Finger machte die Deckenbeleuchtung aufflammen. Riesige Fächerpalmen streiften im Vorübergehen an Eva Marias Schultern. Sie nickten weit über das schwarze, von Bronze durchflochtene Treppengeländer.

Gellern klopfte an einer der Türen im Obergeschoß, er ließ seinem Gaste den Vortritt und ging nach dem runden Einbau, der ganz in dem blauen Lichte einer mächtigen Stehlampe lag.

»Mutter, ich habe eine Freude für dich – ein seltener Gast.«

Seine Augen baten Eva Maria um ihr Nähertreten. Ein stilles, unendlich gütiges Frauenantlitz sah ihr entgegen. Leid und Krankheit hatten dieses noch immer dichte Haar vollständig gebleicht, das sich über die hohe Stirne legte, von der linken unterstützt hob sich die rechte Hand zum Gruße.

Eva Maria wußte nicht, was es war, das sie niederknien hieß, ehrfürchtig drückte sie die Lippen auf die steifen, kühlen Finger der Mutter Gellerns. Sie spürte, wie all der Jammer ihrer achtzehn Jahre verblaßte vor dem erschütternden Leid dieser stillen, Unsagbares duldenden Frau.

»So unerwartet schenkt das Leben uns eine frohe Stunde!« sagte die Baronin Gellern. »Willst du die Hausfrau machen, mein Sohn? Die Schwester ist nach dem Park gegangen. –«

Sie blickte dabei in Eva Marias zartes, blasses Gesicht. »Sie frieren, liebes Kind. – Und meine steifen Hände können Ihnen nichts Liebes tun. – Elmar, du findest alles« – sie zeigte nach dem kleinen, rollbaren Tischchen, das in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers stand. – »Du brauchst den Tee nur anzugießen.«

Gellern schien Übung zu haben, und die alte Dame verstand so freundlich zu plaudern. Es schienen nur ein paar Minuten zu sein, bis er den heißen Trank in ihr Glas goß und dann das seine und das der alten Dame füllte. Es war ein so friedlich-seliges Sein hier, daß Eva Maria das eigene Leid vergaß. Immer mußte sie wieder in das milde Dulderantlitz ihr gegenüber blicken, das jetzt einen beinahe heiteren Ausdruck zeigte.

Durch die halbgeöffneten Fenster zog wieder jener Rosenduft und kaum hörbar rauschten die Bäume vom Park herauf. Gellern hatte Eva Maria ein weiches Tuch um die Schultern gelegt. Eine angenehme, mollige Wärme durchströmte sie. Ihre Wangen begannen sich zu röten. Sie plauderte so vertraut mit der Baronin, als sei sie immer schon hier zu Gast gewesen. Sie achtete es nicht, wie die Stunden rückten.

Und in der Herrenstraße saß Warren und sorgte sich und horchte mit Radanyi in die Stille der Nacht, ob seine Tochter noch nicht käme. Elemer hielt, was er dem Meister versprochen hatte. Er war gekommen, sich und der Geliebten Ruhe zu bringen.

Ein Wagen hielt vor der Auffahrt. »Endlich!«

Der Chauffeur kam mit einem Achselzucken. Er war bei Ballins gewesen und hatte den Bescheid erhalten, daß die Komtesse schon vor zwei Stunden weggegangen war.

»Zu Fuß?« rief Warren ungläubig.

»Jawohl, Herr Graf.«

Warren sah Radanyi an. »Können Sie sich das erklären? Jetzt, bei Nacht!? Das ist ja gar nicht denkbar. Und wenn auch, sie müßte längst zurück sein.«

»Ich habe zweimal ganz langsam die Runde durch mehr als ein Dutzend Straßen der Umgebung gemacht und das Hupensignal gegeben. Die Komtesse müßte es sofort am Ton erkannt haben. Aber es hat sich niemand gemeldet!« erklärte der Chauffeur. »Wenn der Herr Graf es wünschen, mache ich diesmal auch noch die andere Runde. Vielleicht hat Komtesse bei Nacht die Richtung verwechselt!«

»Ja! Fahren Sie! Am besten ist es, ich komme mit!«

Radanyi trat noch vor ihm unter die Türe. »Bleiben Sie, Herr Graf. Erlauben Sie mir, daß ich die Fahrt mitmache. Ich bringe die Komtesse sicher, wenn sie nicht schon vor uns zurückkehrt.«

Die Lichter der beiden Scheinwerfer glitten langsam die Häuserzeilen entlang. Ein Hupenton schrie in gleichen Abständen durch das Schweigen. Aus den Gärten des Villenviertels kamen glitzernde Lichter, die aus den Fenstern der Landhäuser rannen, die zwischen ihnen lagen. Ecke um Ecke nahm der Wagen. Fuhr durch die monderleuchteten Straßen der Cottage, glitt hinüber in die belebten Viertel der inneren Stadt. Radanyi saß neben dem Chauffeur und sog die Augen an jedem Gesichte fest, das ihnen entgegenkam. Und jedes war ein fremdes. Immer häufiger schrie das Signal die drei Molltöne in die Weite. Elemer war von einer Unruhe befallen, die ihm das ganze Blut nach dem Herzen drängte. Wo war sie? Zu Fuß war sie gegangen! – Jetzt bei Nacht! – Mit ihren achtzehn Jahren und ihrer blonden Schönheit! – Es brauchte nur einer seine Hand nach ihr zu strecken. – Wie konnte sie ihm das antun! – Und wieder hörte er das Pulsen seines eigenen Blutes bis an die Schläfen hinauf. – Was wollte sie bei Ballins? –

Wenn sie ihn gesucht hätte? – Wenn es ihr letzter Gang gewesen wäre? –

Wenn sie ihm begegnete, jetzt auf den Knien würde er vor ihr liegen und bitten, vergib mir, daß ich so zu dir gewesen bin, des einen Wortes halber. Laß mich »dein Zigeuner« sein und alles ist gut.

Er hörte das Surren eines Wagens, der aus einer Einfahrt auf die Straße bog. Dann hielt er. Der Chauffeur öffnete den Schlag und legte eine Decke zurecht. Das Verdeck klappte in die Höhe. Radanyi ließ halt machen und ging auf ihn zu.

Im selben Augenblick kam über den weißen Kies des Gartens ein Paar. Elemer hörte Gellerns Stimme und dann eine andere, die er aus tausenden heraus gekannt hätte. »Ja, ich werde wiederkommen, Herr Baron,« sagte Eva Maria. »Ich danke Ihnen für den wundervollen Abend! Es war so schön!«

Radanyi war es, als rinne kein Tropfen Blut mehr durch seinen Körper. Seine Füße glichen zwei Pfosten, die auf dem Bürgersteig festgerammt waren. Alles hatte er in den Bereich der Möglichkeit gezogen. Dieses eine nicht. Er hätte den erwürgt, der ihm das zu sagen gewagt hätte. – Bei Gellern war sie gewesen. – Bei einem Manne, der nicht einmal verheiratet war. – Bei einem Junggesellen! – Er drückte das Taschentuch zwischen die Zähne und lachte. Also so eine war sie. – Sie hatte viel gelernt in den drei Wochen, die sie in Wien weilte. – Und er, Narr, hatte noch nach keinem anderen Weibe die Arme gestreckt als nach ihr. – So blöde war er gewesen!

Gellern hob seinen Gast in den Fonds und breitete sorglich eine Decke über Eva Marias Knie. Dann stieg er zu ihr in den Wagen.

Ein breiter, blendend heller Lichtkegel lief die Straße entlang, bog um eine Ecke und verschwand ohne Spur. Radanyi stand gegen das Gitter gelehnt, welches Gellerns Park umfriedete. War das nun Wirklichkeit gewesen oder nicht. – Aber drüben wartete der Chauffeur. Er hatte nicht geträumt. Mit einer lässigen Gebärde winkte er ihn herbei. »Fahren Sie nach Hause. Graf Warren hat nicht nötig, sich zu sorgen. Die Komtesse wird jeden Augenblick eintreffen. Ich lasse mich dem Herrn Grafen empfehlen!«

»Herr Radanyi fahren nicht mit mir zurück in die Herrenstraße?«

»Nein!«

Er lüftete den Hut und ging vorwärts und wußte selbst nicht, wohin.

In dieser Nacht kam Elemer nicht nach Hause. Haller saß bis gegen ein Uhr wach, aber er war noch immer nicht zurückgekommen. Sein Ohr horchte auf jeden Ton, der von draußen hereindrang. Die Bäume in dem kleinen Wäldchen tauchten schon aus dem Dunkel, das Spatzenvolk pluderte das nebelfeuchte Federwerk und trank seinen Morgenwein aus den Beeren der zunächst hängenden Trauben. Schüchtern hoben sich die Kelche aus Stefans Blumenwildnis. Sie waren beinahe noch alle geschlossen und trunken von Schlaf und Blütentau.

Gegen fünf Uhr fiel die Gartentüre ins Schloß, ein taumelnder Schritt tastete sich das Haus entlang. Man hörte, wie eine unsichere Hand vergeblich die Oeffnung suchte, in die der Schlüssel gehörte. Haller ging auf leisen Füßen in Schlafrock und Pantoffeln nach dem Flur und schloß die Türe auf. Torkelnd kam Radanyi über die Schwelle, ein Lallen und ein unmotiviertes Lächeln als Begrüßung gebend. Er hielt sich mühsam auf den Füßen und suchte an der Türfüllung nach einer Stütze.

»Meister – Meister – Meister!« –

Es war das erstemal, daß der Direktor seinen Schüler betrunken sah.

Sorglich schob er den Arm unter den Radanyis und führte ihn nach seinem Zimmer.

»Was soll das, mein Junge?«

Ein verlegener Blick, ein ebensolches Lachen und ein kaum verständliches Durcheinander: »Die kleinen Mädchen, Meister – die kleinen Mädchen –«

»Was ist mit denen?« Haller tat das Herz weh.

»Haben mich so weit gebracht – immer wieder Wein – immer wieder Wein –«

»Wo, mein Junge?« Der Direktor drückte ihn befehlend in die Kissen.

»Im schwarzen Kater.«

Es war dies eine neuerrichtete Bar, in der Halb- und Lebewelt sich ein Stelldichein gab.

»Und Eva Maria – deine Eva Maria?« mahnte Haller und nahm ihm die Stiefel von den Füßen.

»Meine – Eva Maria –.« Radanyi lachte. »Meister – Meister – die – die – hab ich – dem Herrenreiter Gellern – abgetreten – jawohl abge-treten!«

Er fing zu weinen an, daß es ihn schüttelte.

»Komm, mein Junge, komm, mein Junge!« Haller setzte sich zu seinem Schüler an den Bettrand und nahm dessen Kopf fest gegen seine Brust. »Morgen ist alles anders – alles anders. Es ist ja nicht so, wie du sagst!«

»Alles so – –,« lallte Radanyi.

»War die Komtesse auch im schwarzen Kater, Elemer?«

»Nein – bei ihm – in der – Wohnung!«

»Du lügst!«

Haller griff mit der einen Hand nach der oberen Bettwand und hielt sich daran, so war er erregt vor Schrecken.

»Ich lüge nicht – ich – habe noch – nie ge-logen!«

Nein, er hatte noch nie gelogen.

Der Direktor legte den Kopf Elemers sorglich zurück.

»Ich komme gleich wieder, mein Junge.« Er lief in die Küche und machte mit ungeübten Händen Feuer. Den Stefan wecken, wollte er nicht. Der sollte nicht sehen, in welcher Verfassung sein »junger Herr« heute nach Hause gekommen war. Endlich konnte er die Tasse schwarzen Bohnenkaffee durch den Seiher gießen. Aber es brauchte viel Ermunterns und Zuredens, bis Radanyi sich dazu verstand, dieselbe zu leeren.

Dann ließ er sich erlöst zurücksinken und schlief fast augenblicklich ein.

Haller saß in dem breiten Lehnstuhl vor dem Bette und sah in das grünlichblasse Gesicht in den Kissen. Er suchte sich alles klar zu machen und es glückte ihm auch bis auf das eine, wie Elemer darauf kam, zu sagen, daß die Tochter Warrens bei dem Herrenreiter Gellern in der Wohnung gewesen war. Das konnte er nicht miteinander verfechten. Elemer mochte sie verwechselt haben. – Armer Junge! – Armer Junge! – Das einzig vernünftige war, er ging zu Eva Maria und ersuchte sie um eine Aussprache. Sie würde sicher das Mißverständnis am ersten klären können.

Gegen zehn Uhr machte er sich auf den Weg, in die Herrenstraße. Dem Stefan hatte er den Auftrag gegeben, den »jungen Herrn« so lange nicht zu stören, bis er ein Geräusch aus dessen Zimmer hörte, welches drauf schließen ließ, daß er wach sei. Dann sollte er ihm beim Ankleiden behilflich sein.

Stefan machte kein geistreiches Gesicht dazu. Irgend etwas mochte da schon nicht stimmen. Der junge Herr hatte ihn noch nie zu seiner Toilette benötigt. Man würde ja sehen. Er ging in Filzpantoffeln und stellte das Klingelwerk im Flur ab, sogar das Spatzenzeug konnte sich ungetrübt seiner Diebesbeute freuen. Keine Stange fuhr dazwischen. Das hätte den jungen Herrn geweckt.

Aber alle Fürsorge war umsonst. Vor der Gartentüre tutete eine Hupe, als ob das just an dieser Stelle hätte sein müssen. »Verdammtes Gebelfer« erzürnte sich Stefan. »Da schlaf einer, wenn er kann. Das hatte der junge Herr todsicher gehört.« In der Tat fuhr Radanyi aus seinen Kissen auf. Was gab's da heute schon? – Dann griff er nach seinem Kopf. Er vermochte ihn kaum aufrecht zu halten. Noch nie hatte er solch ein undefinierbares Gefühl gehabt. So gottverlassen jämmerlich war ihm zumute; er wußte selbst nicht wie, und solchen Ekel verspürte er, Ekel nicht nur vor allem Eßbaren, das ihm in den Sinn kam, sondern zumeist auch vor sich selbst. Das war noch das schlimmste. Alles kroch in seinem Gehirne neben- und durcheinander: Gellern, die kleinen Mädchen – das Weingelage im schwarzen Kater – der Heimweg. Er konnte sich nur dunkel noch an eine Bank in den Anlagen erinnern und an die Fahrt in die Cottage, wo er Eva Maria aus Gellerns Villa hatte kommen sehen.

»Mein Neffe ist noch nicht wach?« sagte Alice Ballin im Flur. »Aber Stefan, sagen Sie einmal, das gibt es ja gar nicht. Es ist ja gleich halb elf.«

Radanyi drückte sich erschrocken in die Kissen zurück, als müßten diese ihm Schutz gewähren. Also das war der Lärm gewesen, aber die Tante mochte wohl nicht allein gekommen sein, denn er hörte eine zweite und dann noch eine dritte und vierte Stimme aufklingen. Und dazwischen immer wieder die Stefans, daß der junge Herr wirklich und wahrhaftig noch nicht aufgestanden sei.

»Das macht nichts!« sagte Alice Ballins lachendes Organ. »Wir können ihm auch so einen »Guten Morgen« wünschen, wenn er solch ein ganz absonderlicher Faulpelz ist. Wo liegt er denn, der Schlafratze?«

Elemer drückte die Finger ineinander, daß die Knöchel aus den Gelenken sprangen. Gerechter Gott, nur das nicht. Sie durften nicht hereinkommen. Um keinen Preis. Er sah sein Eigenbild im Spiegel, so leichenhaft weiß und mit verzogenen Mundwinkeln. Wo konnte er sich nur hinflüchten, daß man ihn nicht entdeckte?

Da hörte er wieder den gemächlichen Tonfall Stefans. Ganz unmöglich könnte man dem jungen Herrn jetzt »Guten Morgen« sagen. Er sei gestern mit dem Meister zu Abend geladen gewesen und da sei es ein wenig spät geworden und da müßte er etwas nachschlafen. Ja, das müßte er, weil er sonst den ganzen Tag an Kopfschmerz leide. Aber bestellen wolle er alles, Wort für Wort, was die gnädige Frau ihm auftrage.

»Sie sind ein guter Mensch, Stefan!« lobte Alice Ballin. »Die Blumenwildnis, die Sie mir angelegt haben, ist das reinste Feld geworden. Es ist gottvoll schön. Kommen Sie einmal und schauen Sie sich's an. Und meinem Neffen sagen Sie bitte, ich hätte Besuch aus Amerika. Meinen Bruder Harald Anderson und meine Kusine Ellen von der Veldt. Er möchte kommen, sobald es ihm möglich wäre. Es wäre alles furchtbar neugierig auf ihn!«

Dann kehrte die Stille im Flur zurück.

Radanyi hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest. Wenn nur dieses gräßliche Elendsein sich endlich verlieren würde. Das war nicht mehr zu ertragen. Wenn doch Stefan käme. Vielleicht wüßte er, was sich dagegen machen ließ.

Der Kopf des Alten lugte durch die Türe, die sich lautlos geöffnet hatte.

»Stefan!«

»Kann ich helfen?«

Radanyi nickte. »Mir ist so fürchterlich.«

Stefan begriff sofort. Er hatte sich's ja gleich gedacht, daß etwas nicht in Ordnung war! Mein Gott ja, den wollte er kennen, dem das noch nie passiert war, wenn er einmal in die Dreißiger einbog. Das konnte man mitnehmen. Er kochte einen Mokka so dick wie Honig. Dazu stellte er einen echten Enzian und trug es an Elemers Bett.

»Ekeln tut dem jungen Herrn?« meinte er ungläubig. »Nein, nein. Das hat noch jedem geholfen. Erst den Kaffee und dann das Schnäpschen. Um zwölf Uhr ist alles weg, bis auf ein bißchen Kopfweh, das macht aber nichts. Das ist schon zum ertragen. – Und was die gnädige Frau Tante hinterlassen hat, das haben der junge Herr selbst gehört!«

Radanyi nickte. Er frug nicht weiter. Er mochte noch nichts wissen jetzt. Als Haller gegen zwölf Uhr zurückkam, saß sein Schüler schon hinten in dem kleinen Wäldchen auf der weißgestrichenen Bank und sah in das Kieferngrün. Sein Blick wurde verlegen, abbittend, als er den Direktor kommen sah.

Zögernd streckte er ihm die Hand entgegen. »Meister – es tut mir so leid, Meister, daß mir das passiert ist. – Ich schäme mich. Verzeihen Sie mir!«

Haller lachte belustigt. »Ja, meine Junge, es kommen dieweilen Dinge über uns, die wir tags zuvor noch gar nicht für möglich gehalten hätten. Es will alles probiert sein. Du hast jedenfalls satt für lange. Und die Komtesse Warren.«

»Ich habe nichts mehr zu schaffen mit der Komtesse Warren ...«

»Also,« wiederholte Haller, ohne die Einwendung zu beachten, »Eva Maria war nicht Gellerns Gast, sondern der seiner Mutter!«

Ein leichter Spott ging um Radanyis Mund. »Sie ist am Arm des Herrenreiters aus dem Garten gekommen!«

»Das stimmt!«, nickte der Direktor. »Er hat sie sogar in seinem Auto heimgebracht. Sie hat sich gefürchtet, als sie von Ballins wegging. Und darum ...«

Elemer machte eine erledigende Handgebärde. »Für mich ist das alles belanglos. Die Sache ist ein- für allemal abgetan!«

»Für dich vielleicht. Für sie nicht!«

Radanyi zuckte die Achseln. »Das kann die Komtesse Warren halten, wie es ihr beliebt!«

»Soll ich ihr das als endgültig bestellen, Elemer?«

»Ja!«

»Wenn es dich reuen sollte –!«

»Es wird mich nicht reuen.«

Es war Besuch für den Meister gekommen. Stefan rief nach dem Wäldchen, er möchte sich ins Haus begeben. Als Haller zurücksah, lehnte Radanyi gegen eine der harzigen Kiefernstamme, beide Hände vor das Gesicht gedrückt. Der Meister blickte nicht mehr nach rückwärts. Er konnte das nicht mehr mit ansehen. Hastend ging er ins Haus.


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