Josephine Schneider-Foerstl
Die Liebe des Geigerkönigs Radanyi
Josephine Schneider-Foerstl

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Unschlüssig sah er sich um. Der ganze Raum war in ein eigentümliches Grün getaucht, das durch die beiden hohen Fenster rann. Das Gold der Rahmen funkelte auf, das tiefe Rot des Teppichs schien eine einzige Lache Blutes zu sein. Noch nie hatte der Sohn der Pußta solch eigenartiges Spiel der Farben gesehen. Er ging nach einem der Fenster und schob die hauchdünnen Gardinen etwas zur Seite. Draußen dehnte sich ein Park mit alten Baumbeständen, die Wege waren tadellos bekiest, von irgendwoher kam das Plätschern eines Brunnens und der Ruf eines Vogels, den er nicht kannte. Er fühlte, wie sein Herz sich auftat, wie eine große, süße Freude ihn durchströmte. Es war doch schön hier, wie Eva Mi gesagt hatte. – Und er würde bleiben.

Jawohl, er würde bleiben.

Hinter ihm räusperte sich jemand. Er wandte sich ohne Eile nach rückwärts.

»Kann ich dem gnädigen Herrn beim Umkleiden behilflich sein?«

Elemer sah ihn verständnislos an. Was wollte der? – Ihm behilflich sein? – Wozu? – Er nickte, ohne eigentlich zu wissen warum.

Der Diener trat an einen eingebauten Schrank und schob die Türen zurück. Elemer wandte keinen Blick von ihm und staunte. Gehörte das alles ihm, was da drinnen verstaut war? Es schien so. Das war also das Resultat von dem Besuche jenes Fremden, der vor vierzehn Tagen in der Schänke erschienen war, die Maße seiner Länge und Breite zu nehmen. Mutter und Großvater hatten nicht viele Worte darüber verloren und ihn hatte es so gar nicht interessiert.

Wozu man nur all das viele Zeug brauchte?

»Es ist nur Abendtisch im Familienkreise. Der gnädige Herr können im Jakettanzug kommen!« sagte der Bediente höflich.

Elemer nickte. Das schien ihm das Beste, was er tun konnte. Er kam sich so hilflos vor, wie ein Kind. Heiliger Gott, was würde es da noch alles geben bis es Nacht war! Willenlos ließ er sich umkleiden. Wie eine Puppe hielt er still und schämte sich doch unsagbar, daß ihm dies widerfuhr. Seit seinem sechsten Jahre war ihm niemand mehr bei seiner Toilette behilflich gewesen, auch Mutter nicht. Und jetzt!

Wenn der Csikos das sähe, der würde lachen, daß die ganze Pußta widerhallte. Komisch! Was in Wien hier alles der Brauch war.

»Wollen der gnädige Herr das Haar nach rückwärts gelegt, oder einen Scheitel?«

»Einen Scheitel!« sagte Elemer gequält.

Nun war die ganze Prozedur glücklich vorüber. Er war wieder allein. Der große Ankleidespiegel warf sein Bild zurück. Aber das war nicht mehr Elemer Radanyi. Das war ein Fremder. Verzweifelt glitten seine Augen an sich hinauf und hinunter. Wie konnte Mutter solch' unsinniges Zeug in Auftrag geben. Schade um all' das Geld. Der Stärkekragen zwickte und kratzte ihn. Die Hemdbrust drückte ihn wie ein Panzer. Er wagte sich kaum zu rühren, denn sie krachte, so oft er sich nach abwärts bog. Das Beinkleid zeigte an jedem Fuße eine scharfe Falte. Er erinnerte sich, daß er das auch schon bei Warren beanstandet hatte. Mußte das so sein? Es war sicher ein Versehen. Er begann es mit der Hand zu glätten.

»Elemer!«

Eva Marias Gesichtchen erschien neben ihm im Spiegel. Ganz geräuschlos war sie hereingehüpft gekommen und staunte ihn an.

»Wie ein Prinz siehst du aus! Genau wie ein Prinz!«

»Ja? – Eva Maria?!«

»Ja!« bekräftigte sie. »Aber du darfst nicht so über dein Beinkleid fahren! Du verdirbst sonst die Bügelfalten.

Also, Bügelfalten waren das!

»Muß das so sein?« Er zeigte deprimiert die Linie entlang.

Sie nickte ernsthaft. Ja, das muß! Und wenn es nicht mehr schön ist, macht man es wieder.

Das auch noch! – Er erfuhr immer wieder etwas Neues. – Die Kleine zog ihn zu sich auf das Ruhebett mit dem mächtigen Eisbär-Fell. Wenn seine Finger hindurchglitten, knisterte es genau so, wie das des schwarzen Kolosses in der Halle.

»Gibt es solche Tiere hier in Wien? Eva Maria?«

»Ja?« machte er erschrocken. »Ich dächte, die würden die Leute fressen, wenn sie so auf der Straße herumlaufen.«

»Sie laufen auch nicht, Elemer. Sie sind eingesperrt im Zoo!«

Er nickte verlegen und sah sie hilflos an. »Was ist ein Zoo?« bat er verschüchtert. Er schämte sich.

Das Kind rückte auf seine Knie und zog die dunkle Seidenkravatte zurecht, die sich etwas verschoben hatte, dazwischen erklärte es ihm den fehlenden Begriff.

»Also ein Garten, in dem man alle Tiere sehen kann!« sagte er befriedigt. Warum nannte man das Ding dann nicht gleich beim rechten Namen.

Wahrend er mit ihr durch den langen Korridor nach dem Speisezimmer ging, kam wieder dieses Gefühl des Verlassenseins, der Unsicherheit über ihn. Wenn er nur fort dürfte. Nur laufen immerzu, bis er nichts mehr sah von dieser Stadt, bis die Steppe sich wieder vor ihm auftat, die Steppe, die so gar kein Rätselhaftes an sich trug.

Warren plauderte mit seinem Gaste, während man speiste. Sie saßen nur zu dreien. Elemers Augen verloren allmählich das Suchende, Angstvolle. Er wurde zutraulich, frug und begann ebenfalls zu erzählen. Es wurde gemütlich. Beinahe wie zu Hause. Warren sprach von seiner Studentenzeit, von seinen Knabenstreichen. Elemers und Eva Marias Lachen klang ineinander. Zwölf helle, volle Glockenschläge schickte die Mahagonistanduhr des Speisezimmers mahnend zwischen die Unterhaltung.

Der Graf erhob sich. »Morgen wollen wir zu Meister Haller, lieber Radanyi. Schlafen Sie recht gesund die erste Nacht in Wien!«

An dem großen Kronleuchter in Elemers Zimmer brannten alle Flammen. Ganz in sprühende, frohe Helle war alles getaucht. Er trat noch einmal vor den Spiegel und musterte seine Gestalt. Eine dunkle, heiße Blutwelle strömte sein Gesicht hinauf. Er glich in seinen Gefühlen einem jungen Mädchen, das sich zum ersten Male seines Reizes, seiner Schönheit bewußt wird.

»Wie ein Prinz,« hatte Eva Maria gesagt.

Er entkleidete sich hastig, legte die Bügelfalten Bug auf Bug und warf Rock und Weste achtlos über einen der Stühle. Er hätte so gerne noch ein Glas Wasser gehabt, aber er wagte keinen der Hähne zu öffnen, die über einem Marmorbecken glänzten, das in die Wände eingebaut war. Vielleicht vermochte er sie nicht mehr zu schließen. Das Unheil wäre ganz entsetzlich gewesen.

In den Kissen liegend, drückte er das brennende Gesicht tief in die weiche, weiße Seide der Bezüge. Die Decke glänzte und rauschte, wenn er darüberfuhr. Vom Park herein kam durch die offenen Fenster die kühle Nachtluft und schäkerte mit den Tüllgardinen, daß sie wiegend hin und wiederschwebten.

Er empfand nun so eigentlich keinen Heimwehschmerz mehr. Nur Neugier auf das, was noch alles kommen würde. Er freute sich auf den Morgen, sogar auf die vielen Menschen in den Straßen. Auf den Zoo, in den zu führen ihm Warren versprochen hatte. Auf Meister Haller, der seinen Vater gekannt hatte und dem er zeigen durfte, was er konnte. Die Augen wurden ihm schwer. So sehr er sich auch bemühte, wach zu bleiben, die Lider sanken immer wieder und brannten und schlossen sich endlich ganz.

Ein breiter Lichtstrom fiel über den dunklen Korridor. Er hatte die Türe nur angelehnt und die Nachtluft dehnte sie lautlos in den Angeln. Der Bediente kam, trat ein und sah lächelnd nach dem Schlafenden. Er hing Rock und Weste über ein Kleiderholz, nahm die Schuhe unter dem Bett zu sich und schaltete die Deckenbeleuchtung aus. Das weiche, blaue Licht der Nachtampel floß durch den Raum, dunkelte die Ecken ab und machte die Gegenstände unklar.

Der Diener beugte sich betrachtend über Elemer. Ein schöner Mensch. Und gut und unverdorben. Wie das wohltat. So war er einstmals auch nach Wien gekommen. Voll Hoffen und Erwarten. Er verspürte ein leises Heimweh nach seinem Dorfe und dem Mädchen, das er dort zurückgelassen hatte und das nun auf ihn wartete in Sehnsucht und Treue. Nun würde er doch einmal Ernst machen und sie heiraten. Konnte er hier nicht in Stellung bleiben, würde sich gewiß noch etwas anderes finden, das so viel eintrug, um Weib und Kind zu ernähren. Er schob die Decke zurecht, die im Herabgleiten war und rüttelte Elemer leise an den Schultern. Der fuhr auf und sah ihn mit großen Augen an: »Was willst du, Csikos?«

Der Diener lächelte: »Wenn der gnädige Herr Licht wünscht, bei Nacht – hier ist der Schalter!«

Er zeigte auf den Elfenbeinknopf der Nachtlampe. Elemer nickte verschlafen.

Mit lautlosen Füßen ging der Bediente über den Teppich nach der Türe. Ein Griff nach dem Lichtschalter versetzte den Raum in ein dämmeriges Dunkel. Draußen im Parke rauschten die Bäume, der Brunnen raunte. Ein Streifen hellen Mondlichtes lag quer über dem Ruhebett und ließ das Fell des weißen Bären silbern glänzen. Die Rahmen der Bilder spielten ins Kupferfarbene, und die Hähne am Waschtische funkelten.

Elemer hatte ein sonniges Lachen um den Mund und reckte im Traume beide Arme. »Csikos, bring dem Großvater die Braunen nicht. Bring ihm die Schimmel!« Dann wurden seine Züge ernst: »Karin, was liegt in meinem Leben?«

Der Mond schob sich hinter ein Wolkengebirge. Das Zimmer lag ganz in Stille und Dunkel.

Weit draußen, außerhalb dem Burgfrieden der Stadt, gerade weit genug, um von ihrem Lärm und Getöse kaum mehr einen schwachen Widerhall zu hören, lag das Landhaus des Musikdirektors Haller, den die Wiener kurzweg »Meister Haller« zu nennen pflegten. Wie ein Zipfelchen vom Paradiese zwängte es sich zwischen das Gepränge der vornehmen Villen, welche die Straße säumten. Der über manneshohe Naturzaun gestattete keinerlei ungewollten Einblick. Die Zweige schossen lustig in die Höhe und drängten links und rechts und ließen kaum den Eingang frei. Ein paar Stufen führten zu dem eisernen Gittertore mit den kunstvollen Schnörkeln, hinter dem ein peinlich sauberer Kiesweg zum Hause lief.

Der Garten, der sich breit und behäbig dehnte, war bunt wie die Palette eines Malers. Alles stand hier in reizvollem, erfreuendem Durcheinander. Levkojen und Sonnenblumen mit dicken, fetten Stielen und Häuptern von schwerster Last gebeugt. Zwischen Reseden und brennendem Mohn nickte geschämig das »Gretl unter der Staude« mit seinen feinen, zarten Rispen, daneben braunroter Goldlack. Malven standen wie Grenadiere und beschatteten großsteinige Astern. Hier gab es so gar keinen Zwang künstlerisch abgezirkelter Beete, alles stand und verlief zwanglos in einer grünen, lustigen Wiese, die sich hinter dem Hause hinstreckte. Von dem einstöckigen Bau war kaum ein Fleckchen der weißen Wand zu sehen. Bis hoch zum Giebel sprang großblättriger Efeu und ließ kaum die Blüten der hunderte von Hängegeranien zu ihrem Rechte kommen.

Elemer blieb stehen und sah um sich: »Hier ist es wunderschön, Herr Graf.«

Der lachte vergnügt. Ja, das glaubte er aufs Wort, daß dem Steppensohne diese blühende Wildnis Hallers gefiel. Es sah beinahe aus, als habe man den Garten der Csarda hierher versetzt.

Warren zog an dem Glockengriff vor der eichengeschnitzten Haustüre. Ein Schritt kam schlürfend über klappernde Pflästerchen. Dann lag der dämmerige Flur offen. Das alte Faktotum Hallers stand auf der Schwelle, hochaufgerichtet, mit grauem Haupt- und ebensolchem Barthaar.

»Guten Morgen Stefan!« sagte Warren freundlich.

Der Alte dankte gönnerhaft.

»Der Herr Graf werden erwartet. – Aber wir haben noch Besuch. – Wir bitten noch um ein wenig Geduld.«

Er führte die beiden Gäste in ein großes Zimmer im Erdgeschoß, mit alten, geschnitzten Möbeln und Bildern, die an dicken, schweren, roten Seidenschnüren hingen, was sehr gut zu den breiten, schwarzen Rahmen paßte. Ganz im hellen Licht des einen großen Fensters stand ein schwarzer Flügel, von schwerem, grünem Sammet halb verdeckt.

Eine Tür schlug ins Schloß, ein rascher Schritt kam von der Treppe herab über den Flur, eine helle, feste Stimme nahm vor der Türe von irgend jemand Abschied, dann trat Haller ein.

»Willkommen, Graf Warren. – Grüß Sie Gott, lieber Radanyi. Mein Stefan hat mir gesagt, daß »Wir« Besuch haben, da dachte ich mir, ich möchte Sie nicht lange warten lassen. Irre gehen kann man bei Ihnen nicht, Herr Radanyi. Sie sehen ihrem Vater auf das Tüpfelchen ähnlich. Ich habe ihn gekannt. Er war ein Genie. Schade, daß er der Kunst so früh verloren ging. Wenn Sie nur ein bißchen etwas von seinem Talent geerbt haben, läßt sich sicher etwas aus Ihnen machen.

Er erkundigte sich in seiner frischen munteren Art nach Warrens und Eva Marias Befinden. Elemer sah ihn neugierig von der Seite an. Er hatte sich den Meister anders gedacht. Stattlich und stolz, von schlanken Formen. Er war aber nur von mittlerer Große, mit dichtem, grauem, zurückgekämmtem Haar und einer gewinnenden Liebenswürdigkeit, die sofort für ihn einnahm. Ein echter Wiener.

Wahrend er sprach, schlug er den Flügel zurück und schob die Gardinen zur Seite.

»Haben Sie ihre Geige mitgebracht, Herr Radanyi? – So? Das ist hübsch. Sie hätten auch die meine haben können. Herr Graf, wollen Sie sich nicht zu mir hier in die Ecke setzen? Eine echte Havanna, bitte.« Er rückte das kleine Rauchtischchen herbei und zwei von den bequemen Brokatstühlen.

»Wir beide wollen gleich die Probe machen, Herr Radanyi. Ich möchte Sie nicht lange auf die Folter spannen. – Was wünschen Sie mir zu spielen?«

»Was Sie befehlen,« kam es höflich.

»Schön! – Spielen Sie mir, – ja – spielen Sie mir, wie es bei Ihnen zu Hause in der Pußta aussieht. – Können Sie das?«

»Ja!«

»Also!«

Elemer stimmte die Geige, ohne jede Hilfe von Tönen.

»Ein feines Gehör hat er«, sagte Haller zu Warren gewandt, »das ist immerhin etwas wert!«

Elemer stand gegen den Flügel gelehnt, das helle Licht, das durch die Fenster kam, strömte voll auf sein Gesicht. Haller mußte ihn immerfort betrachten, so sehr glich er seinem toten Vater – Zug um Zug. Er hielt die Augen geschlossen. – Was sollte er spielen? Es war so vieles daheim in der Pußta, das er liebte. Als er die Lider hob, sah er draußen vor dem Hause die blühende, buntfarbige Wildnis. Ein Leuchten und Lachen trat in seine Augen.

Er setzte den Bogen an.

Schon bei den ersten Tönen bog sich Haller weit nach vorne und kreuzte die Knie. Er wurde unruhig und rieb sich die Hände. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte den Jungen in die Arme geschlossen.

Ja, das war die Pußta in jedem Ton, in jedem Strich. Von brennender Wärme satt durchdrängt, ruhte die Steppe, tiefblauer Himmel wölbte sich hoch darüber, Lerchen schossen darunter hin. Kein plauderndes Wasser rann, nur der Hortobagy zog träge schleppend und neben ihm rauschte in eintöniger Melancholie das Schilf. Nun flinker Schlag von Pferdehufen. Die Heide des Csikos jagte über die Steppe – heija, ihr Braunen! Hallo, ihr Schimmel! Jagt zu, ihr Schwarzen! – seht, wie die Augen der Wölfe funkeln! – Das hetzte dahin und raste atemlos hinein in das Dunkel der Nacht! Schwerfällig kamen die Rinder getrottet in gemächlichem Trab; der Brunnenschwengel bewegte sich rastlos auf und nieder, mit Schmatzen und Gurgeln tranken sie. Und drinnen in der Csarda lachten die Bauern und taten sich gemütlich am roten Wein, dieweilen der Primas in der Schenke spielte. Ein Lied von Lust und Verzweiflung und Haß und Liebe, jäh schrillte ein Ton dazwischen. – Was liegt in meinem Leben, Karin? – Ich will nicht gehen, – Großvater! ich will nicht! – Und dann ein Weinen. Ich dachte, du liebtest mich, aber es war nicht Liebe – nur Mitleid.

Haller preßte beide Hände ineinander. – Was war das? Was wußte der Junge von Haß und Leid?

Ein weiches Singen und Klingen floß aus den Saiten jetzt. Elemer lag wieder im Garten der Csarda unter Feuerbohnen und brennender Liebe und Adonis. Er streckte in wonnigem Seligsein die Arme. »Sieh', Mutter, wie die Scholle sich dehnt und wie die Risse springen. Leg' deine Hände dagegen, wie heiß das ist.« Und dann ein Einschlafen in feierlicher Stille und geruhsamem Geborgensein. Nur mehr wie ein leiser Hauch zogen die Geigentöne durch den Raum, verschwammen, verflossen ineinander wie Nebelfaden, die über ein nachtschlafendes Gelände ziehen.

Die Pußta schlief.

Elemer sah um sich, sah nach Warren, nach Haller. Die beiden hatten ihm zugehört, und er hatte doch nur für sich allein gespielt, für keinen anderen sonst. – Er schämte sich.

Da stand Haller schon neben ihm und legte beide Hände auf seine Schultern. »Sei mir willkommen als Schüler, und laß mich dich »Du« nennen. Ich will dich lieb haben und was Rechtes aus dir machen. Bist du einverstanden?«

»Ja. Meister!«

»Topp!« sagte dieser und preßte die schlanke Knabenhand zwischen den seinen. »Herr Graf, überlassen Sie mir Ihren Schützling auf Leib und Leben. Ich will ihn behüten wie einen Sohn, – falls ich einen solchen hätte. – Und der Stefan – na, mit dem Stefan, wirst du bald fertig sein, Elemer. Du brauchst jetzt nur zu ihm hinaus zu gehen und ihm zu sagen, wie schön seine Blumen sind und wie sehr du seine Wildnis liebst und welchen Abscheu du vor dem Spatzenvolk empfindest, die immer die besten der Trauben wegnaschen, die an der Südwand hängen, dann hast du's schon gewonnen.«

Radanyi lachte und drückte die Türe hinter sich in's Schloß.

Gleich darauf ging er an der Seite des Alten nach der Wiese. Elemer hatte eine Resede im Knopfloch und eine sattfarbene, brennende Mohnblume in den Händen.

»Das will etwas heißen!« erklärte Haller. »Der Stefan ist ein komischer Kauz. Wenn einer seine Blumen nicht liebt, der ist erledigt, der darf ihm die beste Zigarre schenken, er kommt nicht wieder in Ehren bei ihm, außer er holt es nach. Aber wir vertragen uns vorzüglich – das heißt – ein Lächeln spielte dabei um Hallers Lippen, – er pfeift und ich tanze. Aber ich habe es gut gelernt dabei, aus dem Grunde, weil mir absolut nichts abgeht. Er ist besorgt bis zum Hemdknopf. Ich hatte noch keinen zu beanstanden, der abgerissen oder nicht an seinem Platze war. Er wird auch den Elemer noch unter seine Fittiche nehmen, oder besser gesagt, unter sein Regiment. Denn nicht wahr, Herr Graf, den Jungen, den darf ich behalten!«

»Als Schüler! Gewiß, lieber Direktor! Aber sonst habe ich die Verantwortung für ihn übernommen und ehrlich gesagt, ich habe es gerne getan. Ich habe Freude an ihm und gebe ihn nicht gerne aus den Händen. Und meine kleine Tochter wäre totunglücklich, wenn ich ihn nicht wieder brächte!«

»Sie kann ihn haben so oft sie will, die kleine Eva Maria. Aber ich meine, es wäre richtiger, wenn er zu mir käme. Erlauben Sie mir nur einige Gründe anzuführen. Wenn einmal die Hochflut der Saison einsetzt, werden Sie nichts mehr mit ihm anzufangen wissen. Er würde sehr viel sich selbst überlassen sein und das ist nicht gut für einen jungen Menschen, dem die Großstadt ein noch ganz unbekanntes Pflaster ist. Immer mitnehmen können Sie ihn nicht, einmal ist er noch zu jung und dann ist er noch ganz ein Naturkind. Er wird zwar sehr rasch begreifen und lernen – alles lernen – leider – aber es wäre schade, wenn das knabenhafte, das ihn so liebenswert macht, so rasch verloren ginge. Und dann wäre es auch vom Standpunkte des Lehrers und Schülers nur wünschenswert, wenn wir immer miteinander Fühlung hätten.«

Warren strich gedankenvoll durch seinen schwarzen Vollbart, Haller hatte nicht so ganz unrecht. Aber er hing nun selbst einmal mit ganzer Seele an dem Jungen. »Ich will mir's überlegen, lieber Meister. Ich bin nur neugierig, ob die andere Partei auch noch irgendwelche Ansprüche auf den jungen Radanyi erhebt, dann bleibt mir zum Schlusse kein Tüpfelchen mehr von meinen ursprünglichen Rechten übrig!« Haller sah ihn verständnislos an.

Warren streifte seine Zigarre ab und sah durch das Fenster nach Elemer, der eben an Stefans Seite nach den Blumenbeeten zurückkam. »Ich weiß nicht, lieber Meister, – aber Sie sind ja ein eingesessener Wiener und haben sicher schon gehört, daß Elemers Vater durch seine Heirat der Schwiegersohn des Bankiers von Ballin wurde.«

Haller nickte. »Die Sache war damals Salongespräch in allen Kreisen!«

»Ja! – Und da nun die Eltern tot sind, und der junge Ballin gesellschaftlich in meinem Hause verkehrt, bin ich doch wohl oder übel gezwungen, ihm zu sagen, wen ich da als Gast unter mein Dach genommen habe. Kennen lernen würde er ihn für alle Fälle, und da ist es besser, ihm gleich vorweg mitzuteilen, daß der junge Radanyi sein Neffe ist. Will er dann nichts mit ihm zu tun haben und die Verwandtschaft ignorieren, so kann er es ruhig sein lassen. Elemer steht unter meinem Schutz. Ich werde schon Sorge tragen, daß er nicht darunter leidet. Ich glaube übrigens, daß er gar nichts weiß, daß Ballin der Bruder seiner Mutter ist. Jedenfalls werde ich ihm vorläufig nichts davon sagen, bis ich sehe, wie der Bankier sich zu der Sache verhält!«

Haller stimmte dem Grafen vollständig zu. »Ich fürchte nur, meinte er überlegend, daß wir beide dann das Nachsehen haben. Zu guter Letzt – ich möchte sagen mit Bestimmtheit – nimmt er den Neffen zu sich ins Haus, steckt ihn in irgendeine erstrangige Stellung ins Geschäft und macht einen Geldmenschen aus ihm, und der Junge ist ein für allemal für die Kunst verloren!«

»Ausgeschlossen, lieber Meister! Elemer bleibt bei der Geige. Der will schon selbst nicht anders. Und ich hab's auch mit dem alten Radanyi so vereinbart. Ich fahre jetzt in die Cottage und spreche bei Ballins vor. Auf dem Rückwege sage ich Ihnen dann, wie er die Angelegenheit aufgenommen hat.«

Eine Stunde später hielt Warrens Auto wieder vor dem Landhaus »Haller«. Der Graf stieg heraus und half einer jungen Dame aus dem Fonds. Sie hüpfte leichtfüßig über den Bürgersteig und drückte auf die Klinke des Gartentores. Ohne auf Warren zu warten, der an der Seite eines großen, schlanken Mannes ihr folgte, lief sie den Weg zum Hause hinauf, zu Haller, der eben unter die Türe trat.

»Meister, wo ist er denn?«

»Wer, gnädige Frau?«

Er küßte ihr mit einem versteckten Lachen die Fingerspitzen.

»Der kleine Radanyi!«

»Klein? – Gnädige Frau, Sie dürfen fürchterlich enttäuscht sein. Er ist ...

Eben kam Elemer quer über die Wiese, an die sich im rückwärtigen Teil des Gartens ein kleines Wäldchen schloß, das ebenfalls Stefans Schöpfung war. Er trug einen Arm voll Kiefernzweige und Buchengrün. Das roch beides so herrlich und er hatte noch nie dergleichen gesehen. Solche Bäume gab es in der Pußta nicht.

»Du plünderst mir ja meinen ganzen Wald!« scherzte Haller, als Radanyi näher kam. »Hast du mir doch noch ein paar Zweige übrig gelassen für die ärgste Sonne?«

Dabei sah er vergnügt nach Frau von Ballin, was sie zu dem Neffen sagen würde.

»Hätte ich das nicht sollen, Meister?« frug Elemer erschrocken. »Ich wußte das nicht – und Stefan hat es mir erlaubt!«

»Wenn es der Stefan erlaubt hat, dann kannst du ganz beruhigt sein!« lachte der Direktor.

Ballin kam mit Warren auf Elemer zu. »Einen Augenblick, lieber Radanyi,« sagte der Graf, als er mit seinem Strauße ins Haus treten wollte. – »Hat Ihre Mutter Ihnen nie von Ihrer Familie gesprochen!«

Ueber Elemers Gesicht schoß eine glühende Röte. Alle Weichheit war aus dem Knabengesicht verschwunden. »Meine Mutter hat keine Familie!«

»Auch keinen Bruder?« Ballins Stimme schwankte etwas.

Die Zweige in Elemers Arm wippten auf und nieder.

»Doch«, sagte er hastig – »Sie hat mir von ihm erzählt – und mir davon gesprochen, daß sie ihn so sehr geliebt hat!«

»Auch jetzt noch?«

»Ja!«

»Dann wirft auch du mich lieben können, Elemer, denn ich bin dein Onkel! – Der Bruder deiner Mutter!« Ohne Weiteres nahm Ballin das Gesicht des Neffen zwischen beide Hände und küßte ihn auf Stirn und Mund. »Komm, Alice,« er zog die junge Frau zu sich heran. »Da ist noch jemand, Elemer, der auch zu uns gehört. – Meine Frau. – Du mußt sie mit in deine Liebe einschließen, willst du?«

»Ja!« kam es mit Ueberzeugung.

Unverwandt hing Elemers Blick an dem liebreizenden Frauengesicht. Seine Lippen zuckten. Hilfesuchend sah er zuerst zu Warren und dann nach Haller.

»Meister! – Was soll ich, Meister!«

»Mich lieb haben! Nicht wahr, Meister Haller,« sagte Alice Ballin mit feuchten Augen. Und dann machte sie es wie ihr Mann und nahm das glühende Knabengesicht zwischen ihre weichen, kühlen Finger und küßte es.

Elemers Augen glänzten fieberhaft. Es war alles zu überraschend für ihn gekommen. In seinem Kopfe begann es zu wirbeln.

»Die Zweige duften so stark!« entschuldigte er sich und trat ins Haus, um sie drinnen im Flur wegzulegen. Er mußte sich erst wieder fassen. Was würde der Großvater sagen und die Mutter. Die mußten es sofort erfahren.

Als er wieder ins Freie trat, stand Stefan mit Frau von Ballin vor der Blumenwildnis und hielt einen dicken Strauß von Blüten in der Hand. Immer wieder schnitt der Alte und drückte ihr zum Schlusse noch einen Büschel Münzenkraut zwischen die Finger. Er war glückselig. »Sein Garten wäre der schönste Gartens Wiens!« hatte sie ihm versichert und ihn gebeten, bei ihrem Hause auch einen Fleck eigens für sie anzulegen. Solche Menschen traf man selten. Die Mehrzahl derer, die zu dem Meister kamen, gingen dran vorbei und kannten kaum zwei oder drei der Namen seiner Blumenkinder. Frau von Ballin aber hätte keines der vielen mit einer anderen verwechselt. Er empfand eine unbegrenzte Hochachtung für sie.

Der Bankier hatte inzwischen mit Warren und Haller vereinbart, daß Elemer den Nachmittag in der Cottage verbringe. Er hatte auch das Angebot gemacht, den Neffen sofort in sein Haus zu nehmen, wenn es sich als wünschenswert erwies. Aber Haller hatte noch einmal seine Gegengründe vorgebracht. Ballin verstand. Der Direktor wollte den Schüler soweit als möglich in eigenste Obhut nehmen. Alice aber würde schon sorgen, daß er nicht allzuselten Gast bei ihnen war. Er kannte seine Frau.

Erst gegen neun Uhr abends brachte der Bankier und seine Gattin den Neffen im Kraftwagen zurück in das Palais Warren.

Elemer stand noch am Wagenschlag und hielt die Hand seiner jungen Tante fest. »Wenn du erlaubst, komme ich nun öfter!« sagte er ohne Zieren. »Es ist wunderschön bei dir – und du selbst – du bist auch wunderschön, Tante!«

Sie lachte und zog sein Gesicht nahe an das ihre: »Du Schmeichler!«

»Nein, ich hab's wirklich so gemeint!« versicherte er. »Aber ich hätt's wohl nicht sagen dürfen, nicht wahr, Tante? – Du mußt mich aufmerksam machen, wenn ich etwas Falsches tue. – Bei uns in der Pußta ging es nicht so genau!«

Sie strich liebkosend über seine Hände! »Du darfst alles sagen, Elemer, wie es dir ums Herz ist!«

»Ja? – Wenn ich das darf, dann möchte ich dich bitten, daß du mich nochmals küßt!«

»Küssen? – Ja, gewiß – aber sag' mir auch weshalb, Elemer!«

»Du hast genau so weiche, warme Lippen wie Mutter, Tante. – Und dann, wenn man nahe bei dir ist, duftet es wie nach Narzissen, die blühen im Frühling so überreich bei uns. Das habe ich immer so gerne gehabt!«

Sie drückte ihre Lippen wortlos auf die seinen und dann auf beide Wangen. »Bist du nun zufrieden, kleiner Elemer?«

»Ja, Tante! Ich danke dir. Und dann darf ich dir auch noch sagen, daß ich dich sehr lieb habe?«

»Ja, auch das darfst du mir anvertrauen!«

Ballin rief seinen Namen.

»Gute Nacht!« sagte Elemer und küßte die Hände der jungen Frau.

»Macht man das in der Pußta auch?« lachte sie mit erhobenem Finger.

Er sah sie erstaunt an. »Nein, Tante! Zu Hause habe ich das nie gesehen. Aber Graf Warren und Meister Haller haben dir's getan heute nachmittag und da dachte ich mir, das muß so sein. Aber ich finde – man hat nichts davon!«

»Du hast recht, Elemer! Man hat nichts davon!« Alice Ballin strich glättend über seinen dunklen Scheitel und drückte ihr Gesicht dagegen. »Komm' bald wieder!« sagte sie bittend. »Ja, Elemer?«

»Ja,« hörte sie ihn noch rufen, ehe er unter das Tor schlüpfte.

Sie mußte weinen, und wußte nicht weshalb.

»Es ist ewig schade um ihn!« sagte sie nach einer langen Pause des Schweigens, als sie an der Seite ihres Mannes heimwärts fuhr.

»Warum, kleine Frau?«

»Warte nur, Egon! In ein bis zwei Monaten ist er wie die anderen, genau so aufgeklärt, so ganz Gesellschaftsmensch und Herdentier. Und jetzt ist er noch ganz ein Kind. Vollständig unberührt, ohne jedes Falsch. Wie er es sagt, so meint er's auch. Er gibt mit beiden Händen und frägt nicht, was er dafür bekommt. Er schenkt sein köstliches inneres Sein und erhält dafür buntes, schillerndes Glas, das keinen Stüber wert ist!«

»Du, als Frau und noch dazu als nächste Verwandte, kannst ihn vor vielem bewahren, Alice!«

»Ich will auch tun, was in meiner Macht liegt, ihn so zu erhalten, wie er ist. Sie sollen ihn nicht haben, die anderen. Bei Haller ist er gut aufgehoben und auch bei Warren. Wenn er nicht zu viel in die Salons kommt, lernt er hoffentlich den Schein so bald nicht kennen und bleibt uns in seiner Natürlichkeit. Du darfst ihn aber auch niemals mit ins Geschäft nehmen, Egon. Das mußt du mir versprechen. Geld verdirbt die Menschen.«

»So?« meinte Ballin lächelnd.

»Du mußt mich nicht falsch verstehen. Ihn würde es verderben. Wenn er etwas braucht, gib ihm so viel du willst, auch von meinem Vermögen. Aber er selbst soll die Hände davon lassen!«

Die halbe Nacht lag Alice Ballin in ihrem Bette wach, immer in Gedanken mit dem Neffen beschäftigt. Sie war selbst achtundzwanzig Jahre, aber sie kam sich alt vor, ihm gegenüber. Bemuttern und umsorgen wollte sie ihn, so viel sie konnte. Er würde fügsam und lenkbar sein, wie ein Kind. Sein ganzes Herz, jeder Winkel seiner Seele lag offen vor ihr. – Wie lange? – dachte sie. – Wie lange? – Warum hatte man diesen herrlichen Menschen aus der Steppe heraufgebracht in das Wien der Jetztzeit, das nach jedem die Arme streckte und es in seinen Strudel zog, immer weiter mit hinein, bis es selbst zu kreisen anfing, mit und um die anderen?

Elemer aber lag mit strahlenden Augen in den Kissen und sog noch immer den feinen, diskreten Narzissenduft ein, welcher dem kleinen Seidentüchlein entströmte, das Alice Ballin ihm scherzend in die Tasche seines Jackettanzuges gesteckt hatte, weil es gerade jetzt so Mode war.

Stefan hatte dem neuen Hausgenossen ein entzückendes Tuskulum geschaffen. Es stieß direkt an die Veranda, und wenn Elemer am Morgen erwachte, sah er die ganze Pracht von Garten, Wiese und Wald vor sich. Er brauchte sich nur über die Brüstung zu schwingen, um im Freien zu sein. Der Alte vergötterte ihn mit Haller um die Wette. Elemer wurde jedem von ihnen unersetzlich. In Stefans Garten gab es kein Gräslein Unkraut mehr zu sehen. Das hatte alles der Junge übernommen. Nur Handschuhe mußte er beim Jäten tragen, das hatte Haller sich ausbedungen. Stefan brauchte keine Wasserkrüge mehr zu schleppen. Elemer balanzierte ihrer zwei mit Leichtigkeit und es machte ihm Vergnügen, eine Beschäftigung zu haben, wie er sie auch zu Hause geübt hatte.

»Unser junger Herr!« pflegte Stefan zu sagen, »ist ein Gottesgeschenk für uns geworden!«

Haller lächelte und sagte kein Wort, wenn es zu Mittag hieß, »heut gibt es Schöpsenrücken und weiße Rüben.«

Schöpsenrücken hatte es seit einem Jahrzehnt nicht mehr gegeben. Niemand vertrug ihn. Auch Stefan nicht. Aber es war Elemers Leibgericht und so wurde es gekocht. Hintennach aber tranken Haller und sein Faktotum zwei Gläser Zwetschgenschnaps zur besseren Verdauung. Bei Elemer war das nicht nötig. Der aß ihn selbst als kalten Braten noch, wenn abends ein Stück übrig war.

»Der junge Herr schläft schon,« hieß es flüsternd, wenn Haller etwas spät aus der Gesellschaft nach Hause kam. Seit Neuestem standen sogar große Filzpantoffel bereit, damit kein Schritt mehr laut wurde, der Elemers Schlummer stören konnte. Und dabei schlief der Junge wie ein Murmeltier; man hätte halb Wien in die Luft sprengen können, ohne ihn wach zu kriegen.

Dem Meister aber war alles recht, so wie es war. Er freute sich über Stefans Sorge um seinen Schützling, der ihm selbst zum Abgott geworden. Solch einen Schüler hatte er noch nie besessen. Das war eitel Wonne, den zu unterrichten, keine Plage. Und welch' ein Erfolg von Stunde zu Stunde, und so gar kein Empfindlichsein oder schon Alleskönnenwollen.

Elemers Geigenton war wundervoll in seiner Weichheit und Fülle. Wenn Haller eine Kleinigkeit zu tadeln hatte, dann trafen ihn Radanyis Augen bittend: »Meister, ich will es sicher besser machen, verlieren Sie um Gottes willen nicht die Geduld mit mir.«

Haller war in ihn verliebt wie ein Vater in seinen einzigen Sohn. Die gesellschaftlichen Formen hatte Radanyi sich überraschend schnell angeeignet. Und doch konnte Alice Ballin nicht sagen, daß er etwas von seiner Offenheit eingebüßt hätte. Er bat sie zwar nie mehr selbst um einen Kuß, aber er war selig, wenn er ihn bekam. Er saß mit Eva Maria stundenlang in dem alten Park, der sich hinter dem Palais Warren dehnte und sah mit ihr die Märchenbücher durch und freute sich maßlos, wenn die Zehnjährige ihn aufforderte, den Prinzen zu spielen, während sie selbst die Prinzessin markierte, die erlöst sein wollte.

Im Winter kam Luise Radanyi zu Besuch nach Wien. Seit vierzehn Jahren weilte sie das erstemal wieder in der Heimat, Ballin und dessen Frau, Warren und Haller umsorgten und verwöhnten sie. Aber trotzdem blieb sie nur einige Wochen. Sie wollte den Schwiegervater gerade jetzt im Winter, wo die Steppe so trostlos einsam war, nicht länger allein lassen.

Im Sommer aber herrschte in der Csarda ein frohes Lachen. Elemer hielt wieder Einkehr in die Städte seiner Kindertage. Er hatte Haller mitgebracht und durchstreifte mit ihm die Pußta zu Roß und zu Fuß. Der Meister saß stundenlang bei den Zigeunern in der Schänke, bezahlte ihnen Wein und schrieb sich ihre alten Weisen auf. Ballin und dessen junge Frau kamen, sich von dem gesellschaftlichen Treiben Wiens zu erholen. Die Ruhe in der Pußta war ihnen ein köstliches Labsal und der Bankier behauptete, er fühle keine Nerven mehr.

Samstags aber ritt Elemer nach der Tanja des Grafen Narren und holte die kleine Eve Mi. Sie durfte den Sonntag über bleiben und Radanyi brachte sie wieder zurück.

Das Leben, die ganze Zukunft schien eine einzige, rosige Wolke zu sein. Wenn Elemer zu Karin kam, ihr Wein und Eßwaren zu bringen, legte er oftmals lächelnd beide Hände in den Schoß und sah scherzend zu ihr auf. »Karin, dein ganzer Ruf geht in die Brüche. Du hast zu schwarz gesehen. Mir ist nicht mehr bange vor dem Leben!«

Dann nickte sie und sah über ihn hinweg in weite Fernen.

»Die Sterne, Elemer, und die Linien deiner Hand, sie bleiben immer die gleichen.«

Die Tage liefen, die Wochen, die Monate, die Jahre. Der alte Stefan ging gebückt, Hallers Haupt war stark ergraut. Der Bart Warrens zeigte die ersten, weißen Fäden. Nur Elemer reckte sich in der Vollkraft seiner Mannesjugend. Das blütenumwucherte Landhaus des Meistere war seine Heimat geworden.

»Wie lange willst du eigentlich noch mein Schüler sein?« frug Haller an einem Spätherbstabend und klappte den Flügel zurück.

Radanyi sah flüchtig aus seinem illustrierten Blatte auf.

»Immer, Meister!«

»Das könnte dir passen!« Haller blickte neugierig zu ihm hinüber. »Ich habe dir nichts mehr zu lernen! – Du bist fertig!«

»Schade!«

»Was, schade?«

Ein Stoß von losen Notenblättern flatterte zu Boden. Elemer bückte sich eilig und schob die helfenden Hände des Meisters zur Seite.

»Was, schade?« wiederholte der Direktor.

»Daß Sie mich so rasch satt bekommen haben!«

»Rasch? – Volle sechs Jahre! – Es ist eine Schande!«

»Was ist eine Schande, Meister?«

»Daß du dir noch immer den Anschein gibst, als ob du mich brauchtest und weißt doch längst, daß du mir über bist!«

»Wann ist je der Schüler über dem Meister gewesen?« lächelte Elemer.

»Du – bringe nicht Zitate, die dich nichts angehen und die gar nicht hierher gehören. – Uebrigens habe ich dir eine Neuigkeit zu sagen!«

»Ja?«

»Ja! – Du wirst am 18. Oktober vierundzwanzig Jahre alt.«

»Ist das die Neuigkeit, Meister?«

Haller griff statt aller Antwort nach einem dünnen Notenheft und schlug ihn damit auf die Schulter. »Ich merke schon, du wächst mir allgemach über den Kopf. Es ist Zeit, dich auf eigene Füße zu stellen, damit du dich selbst mit dem Leben abraufen kannst. Also am 19. Oktober ist dein erstes Konzert im Beethovensaal.«

Elemer nickte und sah nach dem Garten, über den die Abendsonne ihre letzten Strahlen schickte, so daß die Dahlien und Astern in bunter Pracht aufleuchteten.

»Keine Angst?« frug Haller.

»Angst? – Wovor, Meister?«

»Vor der großen Menge!«

»Ich wüßte nicht warum.« – Der Blick Radanyis ging noch immer nach dem Garten, den die Sonne immer mehr vergoldete. »Uebrigens, wenn man Ihr Schüler gewesen ist.«

»Was ist es dann, Elemer?«

»Müßte eigentlich der Meister mehr Angst haben, daß der Erstlingskonzertist ihm das Renommee verdirbt!«

Haller starrte ihn wortlos an. »Was du dir nicht alles erlaubst! – Ich habe im Sinne gehabt, dir ein Programm zusammenzustellen und dich selbst am Flügel zu begleiten. Aber weil du scheinbar so gar keinen Respekt mehr vor mir hast, kannst du die Auswahl selber treffen und dir auch einen beliebigen Pianisten suchen.«

Er sah dabei mit einem versteckten Blinzeln zu Radanyi hinüber.

»Hm –« sagte Elemer und zog die Stirne in Falten, als ob er angestrengt nachdenke. »Das will überlegt sein, Meister.«

Im nächsten Augenblick schwang er sich über die Fensterbrüstung und ging nach den Blumenbeeten, in denen Stefan eben auszujäten begann.

Hallers Lachen klang ihm nach. Das sah ihm ähnlich. Der kümmerte sich nicht einen Deut, bis einen Tag vor dem Konzerte. »Du hast wohl schon einen Pianisten?« rief er ihm zu.

»Ja! – den alten Werner vom Kino drüben, der spielt ganz anständig. – Wir passen gut zusammen!«

Haller schloß vergnügt lachend das Fenster und machte sich dran, ein Programm für seinen Schüler zusammenzustellen.

Beethoven – Mozart – Liszt –

Am Abend saßen sie dann zusammen und besprachen das Ganze. Elemer sagte zu allem: »Ja, ganz wie Sie es für gut finden, Meister!«

»Du selbst hast gar keine Extrawünsche, mein Junge?«

»Nein!«

»Was willst du als Dreingabe schenken, Elemer?«

»Nichts!«

»Wie?«

»Nichts! – Wozu eine Dreingabe? – Setzen Sie zwei Stücke mehr aufs Programm, dann ist es das gleiche.«

»Du irrst, mein Sohn. – Eine Dreingabe muß sein!«

»Muß?«

»Ja!«

»Dann Brahms ungarische Tänze.«

»Gut! – Willst du ...«

Die Glocke gellte anhaltend durch das Haus. Man hörte Stefans Schritt und dann eine Mädchenstimme, die einen guten Abend bot.

»Evi Mi!« rief Elemer, sprang auf die Türe zu und riß sie auf.

Die Tochter Warrens stand auf der Schwelle und blickte mit einem leichten Blinzeln in die Helle des Raumes.

»Verzeihung, Herr Direktor, daß ich Sie so spät noch überfalle. Aber Elemer läßt sich so wenig blicken in letzter Zeit und ich möchte doch nicht gehen, ohne ihm Lebewohl gesagt zu haben!«

»Du gehst, Eve Maria? – Wohin gehst du?«

Radanyi stand neben der schlanken Mädchengestalt, die in dem dunklen Sammetkleid mit den goldblonden Zöpfen, die ihr über die Brust fielen, aussah wie ein lebendiges Bild von Rubens. Sein Blick hing unverwandt an ihr. »Wohin gehst du?« stieß er nochmals erregt hervor.

»Nach Schottland zur Tante Aebtissin. – Für volle drei Jahre. – Ich freue mich unsagbar!«

»Du freust dich?« Radanyi konnte es nicht begreifen, daß sie ging, noch weniger, daß sie sich freute. Er war sich für den Moment selbst noch so unklar in seinem Fühlen und wußte die Erregung nicht recht zu deuten, die ihn plötzlich beinahe taumelig machte. Er war doch so ungezählte, viele Male in all diesen sechs Jahren um Eve Maria gewesen, hatte mit ihr gelacht, geplaudert, gespielt und heute war es nun auf einmal so ganz anders als bisher. Er sah sie an, als wären seine Augen bislang blind gewesen und hatten immer nur ein Kind gesehen und war doch ein entzückend schöner Mädchenkörper, der sich eben zu köstlichster Blüte entwickelte, neben ihm war diese Blume herangewachsen und er hatte es kaum beachtet. »Eve Mi,« sagte er stockend und faßte nach den schmalen Händen, die sie ihm so willig überließ. »Kannst du noch bleiben? Für eine halbe Stunde wenigstens. Ja? – Bitte!«

Haller sah ihn forschend an. Elemer bemerkte es nicht. Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Dem Direktor aber war das Benehmen seines Schülers sofort erklärlich. Er entfernte sich mit dem Bemerken, noch einen Auftrag für den Stefan zu haben. Es war das beste, er gönnte dem Jungen ein paar Minuten des Alleinseins mit der Gespielin. Radanyi wurde in Bälde fünfundzwanzig Jahre. Ein Mann, reif für die Liebe.

Es hatte ihn schon seit langem gewundert, daß er so gar nichts für die Frauen zu fühlen schien. Er sprach nie über sie. Er tändelte und flirtete nicht. Er sah nichts von den begehrenden Blicken, die ihn gar häufig trafen. Nur zu Alice Ballin ging er mit Vorliebe. Aber Haller wußte um jeden Gedanken seines Schützlings. Er hatte ihn einmal im Scherze gefragt, wann er sich zu verheiraten gedenke. Da hatte ihn Radanyi ganz verblüfft angesehen.

»Meister, an so etwas habe ich gar nicht gedacht. Ich bin doch so gut aufgehoben bei Ihnen. Was sollte ich jetzt schon mit einer Frau?«

Und nun war in dieser Stunde die Liebe so überraschend in Elemers Leben getreten. Wenn sie ihm Glück brächte? Haller hob im Flur beide Hände, wie zum Segen. Er liebte den Jungen. Dessen Freude war seine Freude und dessen Leid sein eigenes. Aber ob die Komtesse Warren die gleiche Liebe empfinden würde, wenn auch bei ihr eines Tages das Erwachen kam? Sie wußte noch nichts von Weib sein und wenn, dann kam einer aus ihren Kreisen und holte sie heim und der arme Elemer konnte zur Seite stehen und wenn sein Herz dabei verblutete, er mußte verzichten.

Haller horchte nach einem Laut, der aus dem Zimmer drang. Es war Eve Marias Stimme. Er konnte nicht verstehen, was sie sprach; dann blieb alles ruhig.

Elemer hielt noch immer die Hände der Gespielin zwischen den seinen, hob eine nach der anderen an seine Lippen und küßte sie.

»Was machst, du, Elemer? Du bist ja komisch heute!«

»Bin ich das, Eve Mi?«

»Ja, du hast mir doch niemals sonst die Hand geküßt, nur immer den Mund.« Sie streckte sich und bot ihm die Lippen, unter denen die weißen, schönen Zähne schimmerten. »Willst du nicht?« kam es enttäuscht.

»Doch! Doch!« hastete er heraus. Seine Finger zitterten und waren kalt und feucht. Er legte seinen Mund mit einem Zögern auf den ihren und mußte die Augen schließen, um sie nicht zu sehen. »Eve Mi!« stammelte er gepreßt. »Liebe Eve Mi!«

Er mußte sich setzen. Es drehte sich alles um ihn im Kreise. »Wie bist du eigen!« sagte das Mädchen und fuhr die Scheitellinie seines Haares entlang. »Wie das sprüht, Elemer.« Er fühlte, wie ihre Wange sich dagegenlegte. Beide Hände vergrub er in den Taschen seines Jackettes, damit das Kind gefeit sei gegen jede Berührung von seiner Seite.

Ohne Scheu schmiegte sie sich auf seine Knie, wie sie das in all den Jahren vorher getan hatte. Er mußte den Arm um sie legen, um ihr einen Halt zu geben.

»Bleibst du wirklich drei volle Jahre?« frug er und versuchte vergeblich, seiner Stimme den alten Klang zu geben.

»Ja!« – Sie legte seinen Kopf gegen ihre Schulter und fuhr ihm über die Wangen. »Wenn ich komme, bin ich eine junge Dame, sagt Vater. Du wirst schauen, Elemer, wie ich dann gewachsen bin, denn ich will so groß werden wie du!«

Seine Rechte drückte sich fester um den schlanken Mädchenkorper. »Und dann, wenn du wiederkommst, wirst du mich nicht mehr kennen, Eve Mi!«

»Dich nicht mehr kennen.« Ihre weichen, warmen Finger legten sich um sein Gesicht. Ihre Augen lachten ihn an. »Ich kenne dich. Du kannst sicher sein, daß ich dich nicht vergesse denn so wie du ...«

Sie wurde brennend rot und hielt verlegen inne.

»Sprich weiter, Eve Mi!«

»Wenn du nur nicht so eigen wärest heute. – Ich weiß nicht wie ... dann, dann ...«

»Was wäre es dann?«

Sie schüttelte den Kopf mit dem flimmernden Blondhaar und strich mit ihren weichen, warmen Lippen seine Stirne entlang. Beide Arme um seinen Hals schlingend, schmiegte sie sich eng gegen ihn.

»Ich hab dich lieb, Elemer!«

»Wirklich, Eva Maria?«

»Ja, wirklich!« wiederholte sie erstaunt. »Du glaubst es wohl nicht? – Du weißt es doch!«

Er nickte und senkte sein Gesicht. Als er es wieder hob, hingen ihm die Tränen an den Wimpern.

»Weinst du?« Sie sah ihn maßlos erschrocken an.

»Weil du gehst, Eve Mi!«

»Du sollst aber nicht weinen, Elemer – du sollst nicht weinen –« Nun schossen auch ihr die Tranen über die Wangen. »Ich will alle Tage an dich denken und nachts auch, ehe ich einschlafe, und will immer beten für dich, das hilft am meisten!«

»Wofür soll es helfen, Eve Mi?«

»Für alles!« sagte sie überzeugt. »Ja, dann bete für mich!« Er nahm sein kleines Seidentüchlein und tupfte ihr die Wangen trocken. »Wann fährst du?«

»Morgen mit dem ersten Schnellzug.«

»Ich werde am Bahnhof sein!«

»O, bitte!« Sie legte seine kühlen Finger gegen ihre glühend gewordenen Backen.

»Was möchtest du denn noch gerne haben?« frug er und blickte dabei auf den sprühenden Schimmer, den die Lampe in ihrem Haar aufblitzen ließ.

Sie sah ihn nachdenklich an. »Schokolade habe ich genug, Elemer. Auch Obst und Pralinees!«

»Was gibt es denn sonst noch?« frug er ganz ernst.

Sie sann nach und schob dabei abwechselnd eine Lippe über die andere. »Irgend etwas, das sich aufheben läßt. Das man nicht gleich wegessen muß. Das man lange haben kann. Vielleicht findest du etwas?«

»Ich werde etwas finden, Eve Mi!« Er dachte nach. »Ein Bild von mir ...?«

»O, Elemer!« Sie preßte seinen Scheitel fest gegen ihren Hals. »Ein Bild von dir, das hab ich mir schon immer gewünscht.«

»Warum hast du nie etwas davon gesagt?«

Sie lachte ungezwungen. »Wenn ich dich sehen wollte, bin ich zu dir gelaufen, das war mir lieber. So habe ich immer wieder darauf vergessen!«

Haller trat ein und sah forschend nach seinem Schüler. Dessen Augen wichen ihm aus. Das erstemal seit all den Jahren. Eve Maria aber blieb ruhig an ihrem Platz auf Radanyis Schoß und hielt beide Arme um seinen Hals geschlungen. Sie sah noch kein Unrecht darin, auf den Knien eines jungen Mannes gesehen zu werden.

»Wird das Gehen nicht allzuschwer, Komtesse?« erkundigte sich Haller.

»Ich weiß nicht.« Der reine Blick ihrer großen, blauen Kinderaugen ruhte voll auf ihm. »Ich habe bis jetzt noch gar nicht geweint. Vater fährt ja mit mir und bleibt zwei Wochen noch bei Tante. Aber Elemer hat geweint. Und nun, nun ist es mir mit einem Male so furchtbar hart!«

Sie schluckte tapfer. Aber es half nichts. Die Tränen rieselten unaufhaltsam auf Elemers Hände und über seine weiße Hemdbrust. Haller sah, wie er erblaßt war und die Lippen aufeinander drückte.

Es war besser, wenn Warrens Tochter ging. Nach Wochen würde womöglich alles vergessen und verschwunden sein. Den Abschied möglichst kurz zu machen, war jetzt das einzig Richtige.

»Sind Sie im Kraftwagen gekommen, Komtesse?« frug er höfich.

»Ja. Der Chauffeur wartet vorne an der Ecke. Ich brauche nur ein paar Schritte zu gehen.«

»Darf ich dich heimbringen?« Elemer war hastig aufgestanden, so daß Eve Maria beinahe zu Fall kam.

»Nein, du nicht! Ich, mein Sohn. Es ist schon spät.« Haller legte beide Hände auf Radanyis Schulter und zwang dessen Blick in den seinen. Elemer senkte ihn verlegen mit einem jähen, brennenden Rot auf den Wangen.

»Es wird ihr nichts passieren, jetzt bei Nacht?« sagte er tonlos.

»Nein! Beruhige dich. Wenn es dir lieb ist, bring ich die Komtesse bis in die Herrenstraße und liefere sie dort ihrem Vater ab.«

»Ja, bitte, Meister!«

Vor dem Gartentore nahm er Abschied von ihr. Schweigend, ohne ein Wort zu sprechen, beugte er sich zu ihren Händen herab.

Man hat nichts davon, hatte er einmal zu Alice Ballin gesagt und nun dünkte es ihm höchste Seligkeit, seine Lippen auf die weichen, weißen Finger zu drücken.

»Eve Mi!«

»Wirst du manchmal an mich denken, Elemer?«

»Immer!«

»Und ich! – O, ich werde so viel Heimweh nach dir haben! Aber morgen – nicht wahr, morgen kommst du noch einmal.«

»Ganz sicher, Eve Mi.«

»Und du bringst mir dein Bild – vielleicht in einem Rahmen, ja? – Und ein paar Blumen, weißt du, von den großen Astern, die Stefan erst veredelt hat. – Vergißt du nicht?«

»Ich werde nicht vergessen!«

Sie zog sein Gesicht zu sich, herab, streckte sich auf den Zehen und legte ihre Lippen auf die seinen, ganz mit Andacht und Inbrunst, wie sie zu Hause das Bild der toten Mutter zu küssen pflegte.

Dann lief sie Haller nach, der bereits ein kleines Stück vorausgegangen war.

Elemer hatte das Hinterhaupt gegen das Grün des Zaunes gelehnt und hielt den Blick starr nach der Gegend gewandt, nach der sie gegangen war. Wenn sie wieder kam? – Was würde dann sein?

Stefan sah ihm kopfschüttelnd nach, als er durch den Garten ging. »Der junge Herr hatte Sorgen? Welcher Art etwa diese sein mochten. Die größten machten immer die Frauen. Gott Lob, daß er noch mit keiner etwas zu tun hatte. Wenn es nach ihm ging, würde er ihn ebenso sicher vor der Heirat bewahren, wie das bei dem Herrn Direktor der Fall gewesen war. Der blieb ihm zeitlebens dankbar dafür. »Man konnte auch ohne ein Weib Schöpfenrücken und weiße Rüben zum Mittag haben!«

Als Haller eine Stunde später zurückkam, stand sein Faktotum unter der offenen Flurtüre und empfing ihn ungnädig.

»Wissen Sie vielleicht, wo der junge Herr hingekommen ist, Herr Direktor?«

»Ich? – Nein! – Ich komme doch soeben erst aus der Herrenstraße.«

»Vorher war er im Garten!« sagte der Alte erregt. »Dann war er auf einmal wie vom Erdboden verschwunden. Ohne Abendessen, ohne Gute Nacht zu sagen, ohne – ohne überhaupt zu mir zu gehen und anzuzeigen, wohin er will!«

»Schrecklich!« sagte Haller. Er mußte lachen. Elemer war im Laufe der Jahre genau so unter Stefans Regiment gekommen, wie er selbst. Das stimmte ihn für den Augenblick vergnügt.

»Vielleicht ist er zu Bett gegangen!« Er sah dabei geflissentlich nach den Blumenbeeten.

»Jetzt, um die Zeit?« ereiferte sich der Alte. »Das ist die ganzen sechs Jahre noch nicht dagewesen. Ich werde nachsehen!«

»Zeit lassen!« wehrte der Meister. »Ich gehe gleich selbst.«

Er ging nach Elemers Schlafzimmer und klopfte. Als keine Antwort kam, drückte er gegen die Klinke. Es war nicht versperrt und im Halbdunkel sah er seinen Schüler in einem Stuhle sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt.

»Elemer!«

»Meister!?«

Wie unsicher die geliebte Stimme klang. Haller wollte das Licht einschalten, besann sich aber und zog die Hand wieder zurück. Dieses Dämmer war barmherziger als die alles überflutende, erbarmungslose Helle des großen Lüsters.

Der Direktor tastete sich mehr, als er ging, durch den Raum und blieb vor Radanyi stehen.

»Hast du Vertrauen zu mir, Elemer?«

Ein Nicken und dann ein schweres Atemholen.

»Ist es so plötzlich gekommen, mein Junge?«

»Ja, Meister!«

»Sie ist noch ein Kind!«

»Sie wird fünfzehn!«, sagte Elemer schleppend.

»Deine erste Liebe?«

Der dunkle Kopf senkte sich bejahend.

Hallers Hände glitten darüber hin. Er suchte im Halbdunkel nach dem mattweißen Gesichte seines Schülers. Aber dessen Züge verschwammen. »Wenn sie in drei Jahren wiederkommt, kannst du sie fragen, ob sie ihr Leben an das deine ketten will!«

»Ich werde nicht mehr zu fragen brauchen!«

»Warum nicht?«

»Meister!« Elemer stöhnte wimmernd auf. »Was bin ich denn? Sie ist die Tochter des Grafen Warren. Und ich – ich bin ein Geiger, wie sie zu Dutzenden in Wien herumlaufen.«

»Nein, du bist ein anderer.«

»Ja, einer, der noch dazu Zigeunerblut in sich trägt, einer der drunten in der Heideschänke aufgewachsen ist, einer –«

»Elemer!«, sagte Haller verweisend. »Du schämst dich wohl?« Er fühlte einen Schmerz durch sein Innerstes gehen. War wirklich etwas in Elemers Charakter, das sich unschön entwickelt hatte?

»Ach, Meister, wie können Sie mich mißverstehen. Ich schäme mich nicht. – Ich schäme mich nicht. Aber es wächst vor mir auf wie ein Berg. Unübersteigbar. Und ich möchte hinüber, Meister. Und weiß nicht wie, Eve Maria wird niemals mein Eigen werden. Und wenn sie auch wollte, Graf Warren würde sie mir niemals geben.« »Warum nicht?« sagte Haller, und ließ nun die Beleuchtung aufflammen. »Es gibt Männer, die aus den niedersten Verhältnissen herausgewachsen sind und sich Frauen erster Gesellschaftskreise holten. Und du bist aus einer der besten Familien. Dein Vater war ein Künstler, deine Mutter eine Ballin. Den Zigeuner kannst du ruhig fallen lassen. Dein Großvater ist ein Ehrenmann, auch als Wirt der Heideschänke. Komm mir nie wieder mit solchen Dingen. Wenn du ein Großer wirst in deiner Kunst, wenn du ein König wirst in deinem Reich und eine Frau ernähren kannst, dann hast du auch das Recht, als Freier in die Herrenstraße zu gehen. Warren weiß nichts von Adelsdünkel und sitzt nicht, wie die neunzig Prozent der anderen, auf seinem Stammbaum. Und wenn seine Tochter dich liebt, wird er sie dir auch geben.

»Wirklich, Meister?« entfuhr es Elemer.

»Gewiß. – Und vorderhand sei vernünftig. Wer weiß, eines schönen Tages läuft dir eine andere hübsche Wienerin über den Weg, und die kleine Evi Mi gehört der Vergangenheit an.«

»Niemals, Meister!«

»Die Zeit wird's lehren, mein Junge. Jetzt aber sei so gut und komm zum Abendtisch, wenn du es nicht mit dem Stefan verderben willst. – Du kannst nichts essen? – So! – Dann ißt du eben nichts. Aber mir Gesellschaft leisten, das kannst du doch. – Du hast mich etwas verwöhnt in den sechs Jahren!«

Der Abend verlief etwas schweigsam. Als aber Haller an den Flügel trat, griff Elemer beinahe unbewußt nach seiner Geige. Beethovens Geist schwebte alsbald über dem Raume. Radanyis ganze junge Liebe jauchzte und schluchzte in den Tönen, die seinem Instrumente entströmten. Als Haller längst die Hände ruhen ließ, lachte die Geige noch und ging dann in ein Träumen über. Elemer sah ein blondes, flimmerndes Haargekräusel über einer weißen Kinderstirne und hörte eine kosende Stimme: »Ich hab dich lieb – das weißt du doch!«

Er war so selig, wie nie zuvor in seinem Leben. Jede Kluft erschien ihm überbrückt.

Schneller als er vermeint hatte, kam der Schlaf, als er gegen Mitternacht nach seinem Zimmer ging. Morgen würde er sie nochmals sehen und wenn sie wiederkam. ...

Im Traume saß er vor der Hütte der Karin. Sie lachte ihn an und deckte das Schicksal seines Lebens vor ihm auf. Es war in eitel Sonne gebadet. Nicht eine Wolke trübte sein Glück.

Haller stand noch lange an dem Fenster seiner Schlafstube und sah in die Stille der Nacht, sah nach dem hellen Lichtschimmer, den die Laternen Wiens um den Horizont zogen. Wie Elemer, so hatte auch er einmal geliebt, so trunken voll Seligkeit, so gläubig, so aller Hoffnung voll. Und war doch alles ein Nichts gewesen, ein Traum. – Denn, die er geliebt hatte, war Radanyis Mutter geworden.


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