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Neuntes Kapitel.
Der Verwundete

Nunmehr wurden die Begebenheiten immer ernsthafter. Die Franzosen hatten die waldige Gegend, worin das Dorf lag, besetzt; die Deutschen suchten sie daraus zu vertreiben. Nicht weit vom Dorfe über dem See, in einer sumpfigen, mit zerstreutem Gebüsch bedeckten Gegend, fiel ein hitziges Gefecht vor. Die Einwohner von Ellersee standen in Schaaren auf einer kleinen Anhöhe neben dem Dorfe und schauten zu. Man sah hier das Feuer und hörte den Knall von jedem Schusse; von den Kämpfenden konnte man jedoch wegen des Rauches und der Entfernung wenig unterscheiden. Ludwig war einer der Ersten, die sich auf dem Hügel eingefunden hatten. Mit begierigen Blicken und klopfendem Herzen sah er dem Kampfe zu; es war ihm, als ginge jeder Schuß ihm durch das Herz, weil er dachte, daß jeder einem Menschen das Leben kosten könne. Der gute Knabe war sehr blaß und stand ganz unbeweglich da – und wie stumm. Nur bezeigte er seine Verwunderung, daß man zuerst das Feuer von dem Schüsse auffahren sehe, den Knall aber erst eine gute Weile nachher vernehme.

Das Gefecht währte bis an den späten Abend. Als es bereits dämmerte, und das Gewehrfeuer sich immer weiter entfernte, kam aus jener Gegend her ein Bauersmann und erzählte mit bleichem Angesichte und bebender Stimme, was er von dem Kampfe wußte. »Mir wäre es bald übel gegangen,« sagte er. »Ich wanderte ruhig meines Weges hin; da fing es auf einmal an zu beiden Seiten des Weges zu krachen. Ich war gerade zwischen die zwei Feuer der streitenden Parteien gerathen. Die Kugeln pfiffen rechts und links an mir vorbei? Voll Angst und Schrecken kroch ich in einen Busch, und blieb da versteckt, bis das entsetzliche Schießen sich weit genug hinweg gezogen hatte. Auf dem Wege hieher,« fügte er noch bei, »sah ich einen verwundeten französischen Offizier liegen. Ich hätte ihm gern Hülfe geleistet; allein ich war froh, daß ich mit dem Leben davon gekommen, und eilte weiter, so schnell ich konnte.«

Da Ludwig dieß hörte, bat er die Bauern flehentlich, doch hinaus zu gehen, und den Verwundeten herein zu bringen. Einige Bauern schienen dazu geneigt. Allein einer der Männer, jener Krall, der sich schon früherhin gegen Ludwig und Lorenz so feindselig gezeigt hatte, rief : »Nein, das ist nicht zu wagen! Mich dünkt, das Schießen rücke wieder näher. Hört ihr nicht, wie es kracht und donnert, und im Walde wiederhallt? Wie leicht könnte da einen von euch eine Kugel treffen! Wann der Kampf geendet ist, so werden diejenigen, die das Schlachtfeld behaupten, schon für die Verwundeten sorgen; uns haben sie dazu nicht nöthig.«

Auf diese Rede wagte es keiner aus den Bauern, dem verwundeten Offizier zu Hülfe zu kommen. Als das Schießen nachließ, zerstreuten sich die Bauern nach und nach, und gingen nach Hause. Ludwig blieb noch, und horchte ängstlich nach der Gegend hin. Das Gewehrfeuer hörte auf, und es herrschte eine schauerliche Stille. Allein Ludwig vernahm von Zeit zu Zeit eine Stimme, die um Hülfe zu rufen schien. Der gute Knabe hatte gegen alle Menschen das wohlwollendste Herz, besonders aber gegen seine Landsleute. Er konnte sich nicht mehr halten. Er sprang den Hügel hinab, lief längs dem See hin, und eilte der Stimme des Rufenden zu. Unter einem Weidenbaum fand er den französischen Offizier. Er lag auf dem sumpfigen Boden, war noch sehr jung, todtenblaß, aber von sehr edler Gesichtsbildung. Eine Kugel hatte ihn am rechten Fuße schwer verwundet. Weder Freund noch Feind konnte sich in der Hitze des Gefechtes um ihn annehmen. Er hatte die Wunde, um das Verbluten zu verhindern, mit seinem Taschentuche verbunden, und hatte versucht, indem er sich auf eine Flinte stützte, die während des Gefechtes verloren gegangen, das Dorf zu erreichen. Allein er vermochte nicht sich weiter fortzuschleppen, und war unter dem Weidenbaum entkräftet liegen geblieben. Seine Wunde schmerzte ihn heftig; der leichte Verband konnte das Blut nicht ganz stillen, und er litt brennenden Durst. Die Abendluft wehte kalt. Er hatte sich schon darein ergeben, hier auf dem feuchten Boden in der kalten Nacht umzukommen, und hatte eben seine Seele Gott empfohlen. Da erblickte er den holden Knaben in ländlichen Kleidern, der ihn zu seinem nicht geringen Erstaunen in französischer Sprache anredete, auf das freundlichste grüßte, und voll des herzlichsten Mitleids versprach, ihm Hülfe zu verschaffen. Dem jungen Offizier war es nicht anders, als sähe er einen Engel des Himmels. Er klagte ihm seine Noth. Ludwig sagte, er wolle ihm sogleich zu trinken bringen, und Leute zu Hülfe rufen. Er lief der Mühle zu, wohin er einige hundert Schritte näher hatte, als zu dem Dorfe. Er bat den Müller, den verwundeten Offizier in die Mühle herein tragen zu lassen, weil er sonst draußen umkommen müßte.

Der Müller sagte mit bedenklicher Miene: »Das wäre höchst gefährlich! Das Treffen ist zwar vorbei, allein vor wenigen Augenblicken hörte ich doch noch einige Male schießen, und mich däuchte ziemlich nahe. Ich getraue mir nicht, mich und meine Leute der Gefahr auszusetzen, erschossen zu werden.«

Allein Ludwig fiel dem Müller zu Füßen, und flehte mit aufgehobenen Händen, um der Barmherzigkeit Gottes willen, sich des Unglücklichen zu erbarmen. »Denkt an den barmherzigen Samariter,« sagte er unter Anderm, »und geht hin und thut desgleichen.«

Der Müller wurde gerührt, und befahl seinem Knechte, eine Tragbahre zu nehmen, und mit ihm zu kommen. Ludwig eilte mit einem Kruge Wasser voran, reichte dem Offizier, der vor Durst fast verschmachtete, zu trinken, und dieser trank mehrmals in starken Zügen. »Ach, wie das erquickt!« sagte er; »Gott, der den Trunk Wasser, dem Durstigen gereicht, nicht unbelohnt läßt, wolle dich dafür belohnen, du guter Knabe!«

Die zwei Männer, der Müller und sein Knecht, legten nun den Verwundeten sanft auf die Tragbahre. Ludwig war mit einem Male verschwunden. Allein kaum hatten die Männer den Offizier in der Mühle auf ein Bett gebracht, wobei die Müllerin mit einem Kerzenlichte leuchtete, so trat Ludwig mit dem Wundarzte herein, den er indessen aus dem Dorfe herbeigeholt hatte. Der Wundarzt verband die Wunde, die er allerdings sehr bedeutend fand; versicherte aber, mit der Hülfe Gottes hoffe er sie glücklich zu heilen. Ludwig übersetzte das in die französische Sprache, und der Verwundete ward sehr getröstet.

Die Müllerin brachte ihm noch etwas zu essen, und bald darauf schlief er ein. Ludwig sorgte noch dafür, daß ein Nachtlicht angezündet wurde, und begab sich dann sehr vergnügt nach Hause. Das Bewußtsein, eine so edle Handlung vollbracht, und einem Menschen das Leben gerettet zu haben, erfüllte sein Herz mit Seligkeit.

Am andern Morgen, bevor die Sonne aufging, war Ludwig schon wieder da, und fragte den Kranken, wie er geschlafen habe. Bald darauf kam der Wundarzt, und fand den Zustand des Kranken beruhigend. Er sagte unter Anderm, zu dem Verbande seyen viele Scharpien nöthig. Ludwig lief sogleich zu seiner Pflegemutter, Scharpien zu bestellen. Sie wußte nicht recht, was das sey. »Das weiß ich wohl, was das ist,« sagte Ludwig; »es ist gezupfte Leinwand. Meine Mutter und ich haben schon viele gezupft. Ich will euch einmal zeigen, wie das gemacht wird.« Die Mutter und alle Kinder bereiteten, nach Ludwigs Anleitung und Beispiel, in die Wette Scharpien. Ludwig brachte dem Chirurg bald einen ziemlichen Pack. Auch überreichte er dem Offizier ein frisches Taschentuch, indem er sagte : »Das Ihrige ist ja voll Blut, und für jetzt nicht mehr zu gebrauchen.«

Der Offizier ward von der Aufmerksamkeit und Dienstfertigkeit des guten Knaben sehr gerührt. Die Thränen kamen ihm in die Augen. »Sieh,« sagte er, »der erste Gebrauch, den ich von dem Tuche mache, sey dieser, daß ich mir die Thränen des Dankes damit abtrockne.«

Ludwig besuchte den jungen Offizier, der sonst keinen Menschen hatte, mit dem er reden konnte, täglich mehrmal, und saß manche Stunde an seinem Bette. Er erzählte von seinem Vater, dessen er sich zwar nur mehr dunkel erinnerte, ihn aber aus den Erzählungen seiner Mutter kannte; er sprach sehr oft von seiner Mutter, von ihrer Liebe zu ihm und von ihrer traurigen Flucht; er erwähnte auch seines strafbaren Leichtsinnes und seiner Verirrung im Walde. »Ach,« sagte er voll des innigsten Schmerzens, »welch' einen großen Kummer habe ich meiner innigst geliebten Mutter verursacht! Ich kann ihrer Mutterthränen, die sie über meinen Verlust weinte, nicht gedenken, ohne, wie Sie sehen, selbst zu weinen.«

Der Offizier, fast noch ein Jüngling, gedachte der Thränen, die seine Mutter beim Abschiede von ihm vergossen hatte, und des tiefen Schmerzens seines Vaters. Er hatte, wiewohl er der Sohn reicher Aeltern war, Soldat werden müssen, jedoch bei seiner Bildung und seinem Muthe sich vom Gemeinen bald zum Offizier empor geschwungen. »Liebster Ludwig,« sagte er, »es ist wunderbar, daß wir Beide, nachdem wir von unsern Aeltern so weit entfernt worden, im fremden Lande so zusammentreffen mußten! – Du, lieber Knabe, hast mir das Leben gerettet, und erzeigest mir täglich große Gefälligkeiten und Wohlthaten. Ich bin jetzt arm, und habe keinen Heller mehr in meinem Vermögen. All' mein Taschengeld und meine Uhr sind mir als Beute abgenommen worden. Allein ich hoffe, es werde noch die Zeit kommen, da ich dir deine Liebe vergelten, und etwas für dich und die Deinigen thun kann. Gott, der dich schon früher – zu meiner Rettung! – in dieses Dorf geführt hat, ließ vielleicht auch mich hieher kommen, dir in der Folge nützlich zu werden.«

Mit der Wunde des jungen Offiziers, der Lebrün hieß, ging es täglich besser; sie heilte sehr schön, wiewohl etwas langsam. Das größte Leiden war es ihm, daß er sich so ganz ohne Beschäftigung sah. So angenehm er sich manche Stunde mit dem kleinen Ludwig unterhielt, so hatte er doch oft Langeweile. Da brachte ihm Ludwig einige französische Bücher, die er von dem Herrn Pfarrer entlehnt hatte. Obwohl die Bücher ernsten Inhaltes, und mehr zur Belehrung als Unterhaltung geschrieben waren, so las Lebrün sie dennoch mit großem Vergnügen. Er bezeigte öfter sein Erstaunen, daß diese Bücher, von denen er bisher nicht die beste Meinung hatte und sie gering achtete, so große Wahrheiten in einer so edlen, schönen Sprache enthielten. »Diese Bücher,« sagte er in der Folge öfters, »haben Vieles zu der Bildung meines Verstandes und Herzens beigetragen. Ich sehe es als eine eigene Fügung Gottes an, daß Er mich aus dem Getümmel der Welt und dem Tumulte des Krieges herausriß, mich in diese einsame Kammer versetzte, und diese lehrreichen Schriften in meine Hand kommen ließ. Ich lernte dadurch Gott und mich selbst mehr kennen, und ward ein besserer Mensch. In der That, Gott weiß Alles sehr gut zu fügen.«

Indessen drangen die französischen Kriegsheere wieder vorwärts. Viele Offiziere und Soldaten kamen durch Ellersee. Sie hatten eine unbeschreibliche Freude, den trefflichen Lieutenant Lebrün, den sie sehr schätzten und liebten, aber für todt hielten, wieder zu sehen. Sie überhäuften Ludwig mit Lobpreisungen. Lebrün, der so weit hergestellt war, daß er an einem Stabe gehen konnte, wurde eingeladen, sich in eine etwas entfernte Stadt zu begeben, wo er besser konnte verpflegt werden. Er nahm, bevor er in den Reisewagen stieg, von Ludwig den zärtlichsten Abschied, dankte ihm für die erwiesenen Wohlthaten, und sagte noch: »Weine nicht, lieber Ludwig! Wir nehmen nicht auf immer Abschied; wir sehen uns wieder.«

Ein Hauptmann mit einer Schaar Soldaten blieb noch einige Zeit in dem Dorfe. Als endlich auch dieser abziehen sollte, und mit seinen Soldaten unter der großen Linde des Dorfes zum Abzuge bereit stand, berief er die ältesten Männer der Gemeinde. Es kamen aber noch viele andere Leute, Männer, Weiber und Kinder herbei. Der Hauptmann, ein Elsaßer, der gut deutsch sprach, lobte sie sehr, daß sie den kleinen Ludwig so liebreich aufgenommen. »Der gute Knabe,« sagte er, »hat den französischen Kriegern, besonders aber dem verwundeten Offizier große Dienste erwiesen. Indeß werdet Ihr auch uns bezeugen müssen, daß wir Euch mit großer Schonung behandelt, uns mit Wenigem begnügt, und Euch alle unnöthigen Kosten erspart haben. Ihr wißt, daß Ihr noch eine nicht geringe Summe Geldes an Kriegs-Kontribution zu bezahlen habt. Auf Befehl des Obergenerals, dem Euer freundliches Benehmen gegen Ludwig gemeldet worden, ist Euch diese Summe erlassen, und ich übergebe hiemit dem Ortsvorstande die schriftliche Urkunde, daß wir an Euch keine weitere Forderung mehr zu machen haben. Diese milde Behandlung habt Ihr dem liebenswürdigen Ludwig zu danken!« Er drückte hierauf dem Ortsvorstande, dem Müller, einigen andern Männern, besonders aber dem Lorenz, mit Thränen in den Augen, die Hand – und winkte dann dem Tambour. Die Trommel wirbelte; die Soldaten schwangen die Hüte, stimmten in den Dank des Hauptmanns mit ein und zogen zum Dorfe hinaus.

Die Bauern waren von dem Danke des Hauptmanns sehr gerührt, und über den Nachlaß der großen Geldsumme hoch erfreut. »Hab' ich es nicht gesagt,« rief bald dieser, bald jener, »man solle den Ludwig in unser Dorf aufnehmen!« Diejenigen aber, die davon abgerathen hatten, besonders Krall, schwiegen still und hingen die Köpfe. Der Ortsvorstand sprach: »Es ist gut, daß wir dem guten Rathe unsers Herrn Pfarrers gefolgt haben. Er ist doch ein frommer, weiser Mann! Er sagte es uns voraus, Ludwig, wiewohl er ein armer Knabe sey, werde dem ganzen Dorfe zum Segen gereichen. Und diese seine Weissagung ist nun in Erfüllung gegangen.«

»Ja, ja!« rief einer der erfreuten Bauern, »so ist es. Es bleibt doch wahr, was wir als Kinder schon in unserm Katechismus gelernt haben: ›Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.‹« Und die übrigen Bauern gaben ihm Recht!

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