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Neuntes Kapitel

Eine grenzenlose Unruhe hatte sich Nicolaj Petrowitschs bemächtigt. Er hatte auf dem verschlossenen Koffer zwei Flecken bemerkt, die von einer Stearinkerze herrühren mußten. Wie kamen sie dorthin? Hatte Akulina oder der Diener sie gemacht? Der Graf befragte die Amme. Sie erklärte, daß sie immer eine Lampe benutzte, und daß Michail sich keines Lichtes bedient hätte.

Subotin untersuchte die Schlösser. Sie schienen in bester Ordnung zu sein. Mehrere Tage konnte der Graf sich nicht entschließen, den Inhalt des Koffers zu prüfen. Endlich tat er es eines Abends, als sich seine Unruhe unerträglich steigerte. Leicht und schnell ließen die Kunstschlösser sich öffnen.

Subotin atmete befreit auf. Mit bebenden Händen durchwühlte er alles. Wäsche und Kleider lagen ebenso in den Fächern, wie der Graf sie am Abend seiner Ankunft hineingelegt hatte. In seiner hochgradigen Erregung bemerkte Subotin das Fehlen des Buches und der Photographie nicht.

»Ich sehe überall Gefahren,« dachte er, »wer sollte auch den Koffer untersucht haben.«

Im Begriff ihn zu schließen, stutzte Nicolaj Petrowitsch. Er fühlte sein Blut in den Adern gerinnen.

Auf dem Aermel eines dunkelgrauen Rockes sah er einen kleinen Stearinfleck. Er glaubte bestimmt, ihn früher dort nicht gesehen zu haben. Konnte er sich irren?

»Ich muß den Koffer fortschaffen,« sagte er sich, »aber wohin damit?«

Er sann nach.

»Nein, nein,« murmelten seine erblaßten Lippen, »das kann ich nicht. Und doch wäre es das beste.«

Er ging unruhig auf und ab. Plötzlich schien ihm ein Gedanke aufzutauchen.

»Akulina hat den Schlüssel zum runden Turm, sie ist mir treu ergeben, ich will ihr Geld geben, sie muß mir helfen.«

Er ging in das Zimmer der Amme und befahl ihr den Schlüssel und eine Lampe zu holen. Verwundert gehorchte die Alte.

»Ich will endlich den häßlichen Koffer fortschaffen,« sagte der Graf, »wir wollen ihn forttragen. Ich habe im Turm eine Falltür bemerkt, dorthin schaffen wir beide das unnütze Ding, das hier nur im Wege steht und mich stört. Du mußt mir aber versprechen zu schweigen, Alte, hier hast Du hundert Rubel.«

»Hundert Rubel!« rief Akulina, und ihre Augen funkelten gierig, »der Herr kann auf mich bauen.«

»Nun, fasse an,« befahl Subotin, »für einen Menschen allein ist der Koffer zu schwer.«

Sie trugen ihn durch einen Vorraum und mehrere leere Zimmer, Subotin schien es nicht eilig genug haben zu können, er spornte die keuchende, alte Frau an.

»Uff! Ist der aber schwer,« seufzte Akulina, »was ist denn darin, Nicolaj Petrowitsch?«

»Versteinerungen, Erinnerungen von meinen Reisen,« entgegnete der Graf schnell, »nichts von Bedeutung.«

Sie standen vor der eisenbeschlagenen Tür des Turmes.

Die Amme öffnete, und wieder drehte sich die Tür kreischend in den Angeln, wieder gähnte sie der dunkele Raum an, die dumpfe Moderluft schlug ihnen entgegen.

Subotin blickte sich scheu um. In jener Ecke hing die Uniform des schwarzen Obersten, des Schloßgeistes, der dem Grafen in der Ballnacht erschienen war.

»Hebe die Falltüre auf,« herrschte der Graf die Amme an.

Akulina zog an dem verrosteten Eisenringe.

»Ich kann die Klappe nicht öffnen,« sagte sie, »vielleicht gelingt es Dir, Nicolaj Petrowitsch.«

Die Aufregung gab Subotin übermenschliche Kraft, nach mehreren Versuchen bewegte sich das schwere Brett, eine gähnende Oeffnung zeigte sich.

Ein widerlicher Geruch drang empor.

Akulina bekreuzigte sich.

»Hierhinein soll der Oberst den Körper seiner armen jungen Frau geworfen haben,« sagte die Amme flüsternd. Sie leuchtete hinunter. Des Grafen weit ausgerissene Augen starrten entsetzt in die Oeffnung. Der klagende Laut, den er haßte, zog durch den Turm. Kam er aus der Tiefe der Erde, in der die Gebeine der Verhungerten bleichten?

Grinste dort nicht ihr Schädel aus leeren Augenhöhlen?

»Hilf mir den Koffer hinunterlassen,« sagte Subotin, dessen Zähne auseinanderschlugen. »Da ist eine schmale Treppe, ich werde darauf niedersteigen.«

Die Amme schob den Koffer bis an den Rand, der Graf packte ihn und ließ ihn zu Boden gleiten. Mit dumpfem Poltern versank er in die Tiefe.

Subotin trocknete sich den Schweiß von der Stirn und kletterte nach oben. Er stand wieder neben Akulina, sie schlossen die Falltür, dann verließen sie den Turm.

»Wie sonderbar er wieder ist,« dachte die Alte, »nun, mir kann es gleich sein, hundert Rubel sind nicht so übel, Michail wird sich freuen, wir müssen bald heiraten.« – – –

Die Wolfsjagd hatte kein Resultat ergeben. Die Fährten der Raubtiere ließen sich nur eine kurze Strecke verfolgen, sie zogen sich nach dem Antonowkaschen Walde hin.

Seit ihrem Gespräch mit Alexander Kyrillowitsch war etwas Ruhe über Natalia gekommen, sie fühlte sich weniger unglücklich und betete, daß das Wunder geschehe, von dem der junge Offizier gesprochen hatte. Es wurden große Vorbereitungen zur Hochzeit gemacht, alle Nachbarn sollten eingeladen werden, Herr von Tscherbatkin wünschte, sie über seine mißliche, pekuniäre Lage zu täuschen, um sich den Kredit zu erhalten.

Schon seit Tagen langten Kisten mit Weinen und Delikatessen an, im Hause wurde gesäubert und geputzt. Köche und Lohndiener wurden engagiert. Das schwere, weißseidene Kleid der Grafenbraut kam aus Moskau an. Natascha betrachtete es mit Tränen in den Augen. Die Zeit entfloh und nichts ereignete sich, nichts, was ihr die Freiheit gebracht hätte. – –

Als Alexander Kyrillowitsch und Michail zusammen verreisten, suchten sie Morschowskoi auf, der im Frühjahr Nicolaj Petrowitsch von der Auffindung der Leiche Karmitows benachrichtigt hatte. Morschowskoi war ein selten kluger, scharfsichtiger Beamter, der seinem Beruf mit Leib und Seele ergeben war. Er erkannte in Michail einen früheren Angestellten der Moskauer geheimen Polizei. – Mit immer steigenderem Interesse hörte der Untersuchungsrichter das an, was ihm der Diener des Grafen erzählte.

»Ja, das ist alles recht belastend,« sagte Morschowskoi, »aber es ist noch kein Beweis, daß Subotin an dem Tode Karmitows schuld ist. Geben Sie mir die Photographie.«

»Was werden Sie damit machen?« fragte der Leutnant.

»Warten Sie ab, in zehn bis vierzehn Tagen hoffe ich einen sonnenklaren Beweis in Händen zu haben.«

»So lange soll ich warten!« rief Alexander ungeduldig, »und währenddessen rückt der Tag immer näher, an dem ein junges unschuldiges Wesen an diesen unheimlichen Menschen gekettet wird.«

Morschowskoi zuckte die Achseln.

»Es läßt sich nichts ändern,« sagte er.

Die nun folgenden Tage waren für Alexander Kyrillowitsch wahre Geduldproben. Jeden Morgen eilte er zu dem Untersuchungsrichter und fragte ihn, ob er die erwartete Nachricht erhalten habe. Und immer hieß es:

»Nein, noch nicht.«

Michail lebte herrlich und in Freuden. Er hatte Akulina Geld abgeschwindelt und amüsierte sich mit einigen Bekannten, die er in der Stadt fand. Ueber den Grund seiner Anwesenheit bewahrte er strengste Diskretion. Es fehlten nur noch drei Tage bis zur Hochzeit, da kam die ersehnte Nachricht an. Morschowskoi hatte in Algier bei dem Photographen, bei dem das Bild gemacht war, angefragt, wer der Herr sei. Als Alexander bei dem Untersuchungsrichter erschien, sagte dieser:

»Sie sollen jetzt den wahren Namen des Mannes erfahren, der sich seit bald einem Jahr für den Grafen Nicolaj Petrowitsch Subotin ausgibt.«

»Wie!« rief der Leutnant, »so ist er es nicht?«

»Nein, ich habe es schon gleich erraten.«

»Wie heißt er denn?« fragte Alexander mit atemloser Spannung.

»Er heißt Feodor Feodorowitsch Karmitow,« gab Morschowskoi so überzeugend zurück, daß der Leutnant ihm glauben mußte.

»Sehen Sie hier, was mir der Photograph schreibt:

»Sehr geehrter Herr!

Entschuldigen Sie freundlichst die Verzögerung auf Ihre Anfrage, aber ich war verreist und bin heute erst zurückgekehrt. Beim Nachschlagen in meinen Geschäftsbüchern fand ich die von Ihnen erbetene Notiz. Das Bild, das Sie mir zur Ansicht zuschickten, ist das eines Russen, der Feodor Feodorowitsch Karmitow heißt, und der bei dem Grafen Nicolaj Petrowitsch Sekretär war. Es ist vor circa zwei Jahren in meinem Atelier angefertigt worden. Zu gleicher Zeit machte ich auch eine Aufnahme des Grafen Subotin. Die beiden Herren glichen sich auffallend, der Graf war etwas kleiner als sein Sekretär, auch hinkte er leicht auf einem Fuße. Damit Sie sich selbst von der seltsamen Aehnlichkeit überzeugen können, bin ich so frei, die Photographie Subotins beizulegen.

Mit vorzüglichster Hochachtung, geehrter Herr,
ergebenst Henri Nichet.
Photograph in Algier.«

»Was sagen Sie nun?« fragte Morschowskoi fröhlich, indem er sich vergnügt die Hände rieb.

»Ich – ich verstehe nicht,« murmelte Alexander, »und doch, es beginnt zu tagen, wäre es möglich?«

»Es ist so,« sagte der Untersuchungsrichter leise und bestimmt, »Karmitow, der sich für den Grafen ausgibt, hat Nicolaj Petrowitsch Subotin getötet.«

»Aber das – das ist entsetzlich!« rief Alexander schaudernd aus.

»Ich habe auch an Herrn von Blokowin geschrieben,« sagte Morschowskoi, »er trifft heute hier ein, wir brauchen ihn, um die Leiche des unglücklichen Nicolaj Petrowitsch zu rekognoszieren, und um später Karmitow zu entlarven.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Leutnant erregt, »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie die Grabruhe des unglücklichen Mannes stören wollen, der von verruchter Mörderhand starb?«

»Fühlen Sie sich zu schwach dazu?«

»Ich kann alles, da es gilt, Natalia Wladimirowna zu retten!« rief Alexander Kyrillowitsch feurig.

»Haben Sie nicht bemerkt, daß Karmitow nur zuweilen hinkt? Mir fiel es gleich auf, doch legte ich damals keinen Wert darauf.«

»Ja, es ist wahr, wenn er sich allein glaubt, geht er wie ein gesunder Mensch,« versetzte Alexander sinnend.

»Und wissen Sie nicht, durch welche Ursache der wahre Graf Subotin zu seinem Gebrechen kam?«

»Er zog sich als Knabe einen schlimmen Beinbruch zu,« erwiderte der Leutnant.

»Dann muß der Bruch durch einen Arzt an dem Leichnam konstatiert werden. Wir müssen, sobald Herr von Blokowin hier ist, nach Bogbrodisch reisen und den Körper ausgraben lassen, Michail und Sie habe ich als Zeugen nötig.«

Wohl schauerte der junge, mutige Offizier zusammen, aber er gab seine Zustimmung.

Blokowin traf um zwölf Uhr zehn Minuten mittags ein. Nachdem er von allem in Kenntnis gesetzt worden war, traten die vier Männer in Begleitung eines Arztes die Reise an. In Bogbrodisch benachrichtigte Morschowskoi den Kreischef von seinem Vorhaben, der sich selbst auf den kleinen Friedhof begab.

Es war eine dunkele, stürmische Nacht, der Regen peitschte die Bäume, die auf dem Gottesacker standen. Die beiden Totengräber schaufelten die Erde, die das Grab füllte, heraus. Niemand sprach, alle fühlten die Majestät des Todes und bebten vor der nächsten Stunde zurück. Ernst und schweigend ragten die Kreuze auf den Hügeln empor. Der schlichte Holzsarg wurde bloßgelegt und an Stricken emporgezogen.

Dann öffnete man ihn.

Alexander Subotin starrte auf den Leichnam, der die furchtbaren Spuren der Verwesung trug. Wie gebannt ruhten auch die Blicke der anderen Männer auf dem grausigen Schauspiel.

Der Arzt hatte sich über den Körper des Ertrunkenen gebeugt und untersuchte die Knochen des rechten Beines.

»Es ist so, wie Sie glauben,« sagte er leise zu Morschowskoi, »an der Verdickung des großen Knochens ist der Bruch zu konstatieren. Es muß aber ein schlimmer Fall gewesen sein, der Tote muß gehinkt haben.«

Der Untersuchungsrichter nickte befriedigt.

Dann wurde der Sarg wieder geschlossen und dem Schoße der Erde übergeben.

»Ruhe sanft, mein unglücklicher Vetter,« dachte Alexander Kyrillowitsch tief ergriffen, »bis ich wiederkommen werde, um Dich zu holen. Du sollst in unserer Familiengruft einen Ehrenplatz bekommen.«

Der Arzt setzte ein Zeugnis über den Befund der Leiche auf, das von dem Kreischef, Herrn von Blokowin, Morschowskoi und dem Leutnant Alexander Subotin unterschrieben wurde.

»Nun könnten wir wohl abreisen?« fragte Subotin ungeduldig.

»Noch nicht, ich muß noch jemand sprechen,« erwiderte Morschowskoi.

»Aber wir werden zu spät kommen, morgen ist schon der Polterabend.«

Der Untersuchungsrichter zuckte die Achseln.

»Ich weiß es,« sagte er, »aber dabei ist nichts zu ändern.«

Alexander war voller Unruhe und begriff diese Verzögerung nicht.

»Geduld, junger Freund,« bat Morschowskoi, »vertrauen Sie mir, bitte.«

Um vier Uhr nachmittags erwartete der Untersuchungsrichter den Moskauer Zug auf dem Bahnhof. Er hoffte den Oberschaffner zu sprechen, vielleicht denselben, mit dem vor einem Jahre der Graf Subotin gereist war.

Ueber Erwarten gelang dem findigen Beamten die Nachforschung. Der Schaffner erinnerte sich jener Oktobernacht und der Schneeverwehungen noch recht wohl. Er erinnerte sich auch, daß zwei Passagiere erster Klasse in der Nacht den Zug verlassen hatten, um zu Fuß nach Bogbrodisch zu gehen, von wo ein Personenzug gegen Morgen abgelassen wurde.

»Ich hätte vielleicht alles vergessen,« sagte der Eisenbahnbeamte, »aber der eine Herr gab mir ein Goldstück von fünf Rubeln und sagte:

»Hier, guter Freund, trink' auf mein Wohl.«

»Dann bitte ich um Ihren werten Namen,« entgegnete ich.

»Ich heiße Nicolaj Petrowitsch Subotin,« entgegnete er.

»Ich danke auch schön!« rief ich ihm nach. »Solche Trinkgelder erhalten wir selten.«

»Und haben Sie nichts Besonderes an dem freigebigen Reisenden bemerkt?« fragte Morschowskoi, »wie sah er aus, wie war sein Begleiter?«

»Nicolaj Petrowitsch hinkte etwas, er war etwas kleiner als der Herr, der mit ihm fortging. Ich hielt beide für Brüder, so groß war die Aehnlichkeit, nur schien Subotin zarter gebaut zu sein.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Morschowskoi, »hier sind zehn Rubel, ich verpflichte Sie zu schweigen, bis ich Sie als Zeuge aufrufe. Versprechen Sie mir, kein Wort über unser Gespräch gegen Ihre Kollegen fallen zu lassen, so werden Sie fünfzig Rubel bekommen.«

»Hier meine Hand darauf!« rief der Schaffner erfreut aus. Noch in derselben Nacht reisten der Untersuchungsrichter, Blokowin, Alexander Kyrillowitsch und Michail nach Antonowka ab.


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