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Erstes Kapitel

Der aus Moskau kommende Schnellzug raste über die Schienen. Es war eine Nacht zu Ende Oktober. Der Herbst war ungewöhnlich schön gewesen; noch vor einigen Tagen war die Luft sommerlich warm und von jener durchsichtigen Klarheit, die alle Gegenstände auf weite Entfernung deutlich erkennen läßt.

Und plötzlich war die weite Fläche weiß verhüllt; im tollen Wirbel trieben die Schneeflocken daher, eine wilde Jagd ausführend. Der Winter kündete sich an; bald trat grimmer Frost ein, und seine starken Arme umklammerten die Erde für viele Monate. Es wird spät Lenz im Norden; erst Anfang Mai schmilzt das Eis in den Seen und Flüssen des Kostromaschen Gouvernements.

Kein lebendes Wesen war in jener stürmischen Oktobernacht zu erblicken, dunkel und ausgestorben schien alles zu sein. Plötzlich gellte der schrille Pfiff der Lokomotive durch das Unwetter, zwei runde, glühende Punkte näherten sich, eine lange, dunkle Schlange bewegte sich über die weiße Fläche. Das Licht des Mondes trat für einige Minuten hinter den schweren Wolken hervor, dann wurde es für kurze Zeit hell, und hin und wieder leuchtete ein Stern am tiefschwarzen Himmel.

Langsam kämpfte sich der Schnellzug weiter, die Maschine keuchte und arbeitete sich mühsam durch den Schnee. Auf der Station war eine Reservelokomotive requiriert worden, die am Ende des Zuges befestigt wurde. Trotzdem brummte der Führer:

»Wir werden Verspätung haben, die Schienen sind an manchen Stellen verweht.«

In einem Wagenabteil erster Klasse befanden sich zwei Herren als einzige Passagiere. Ihr Handgepäck war in dem Netz untergebracht: der Duft feiner russischer Zigaretten erfüllte den Raum.

Ungeachtet des sich zum Orkan steigernden Sturmes schlief der eine der Reisenden fest; das wiederholte schrille Pfeifen der Lokomotive störte ihn nicht. Er hatte die linke Hand unter die Wange geschoben, die rechte hing lässig zur Seite, und ein kostbarer Ring mit einem blutroten, herzförmigen Rubin funkelte an dem schlanken Finger. Das Gesicht des Schlafenden sah glücklich aus, er lächelte im Traume. Er mochte vier- oder fünfundzwanzig Jahre zählen. Volles, blondes Haar lockte sich um eine hohe Stirn, Wimpern und Brauen waren dunkler, von derselben Farbe war auch der spitz geschnittene Bart und der lange, wohlgepflegte Schnurrbart, der die frischen Lippen bedeckte. Die Züge waren edel geschnitten und hübsch. Er mußte groß sein, denn er lag etwas gekrümmt auf der langen Bank mit dem roten Samtpolster.

Ihm gegenüber lag sein Reisegefährte.

Auch er hatte es sich bequem gemacht und sich ausgestreckt. Unter seinen halbgesenkten Lidern beobachtete er den Schlafenden; dabei murmelte er:

»Er schläft wie ein Murmeltier. Eine beneidenswerte Konstitution. Und dabei sieht er aus wie ein Mädchen, Hände wie ein Weib und ein Gesicht wie Milch und Blut. Pah!«

Dieser Ausruf klang fast verächtlich.

Sinnend stützte der Mann den Kopf auf den Arm, grübelnd starrte er in die wilde Nacht hinaus, seine Stirn zog sich finster zusammen. Welche Gedanken mochten wohl dahinter stecken?

Er war vielleicht zwei bis drei Jahre älter als der Schlafende; auch er war blond und mußte groß sein. Es bestand eine gewisse Aehnlichkeit zwischen den beiden Männern, aber der Gesichtsausdruck war grundverschieden. Waren sie Brüder?

Bei dem zuerst Erwähnten war alles verfeinert; der andere sah wie die gröbere Kopie aus. Ein starker, rötlich blonder Vollbart versteckte die Lippen, die Stirn war niedriger und trat mehr zurück, die Nase war breiter, die ganze Erscheinung kräftiger und die Gestalt breitschultriger. Er erhob sich und setzte sich an das Fenster.

»Eine wilde Nacht,« dachte er hinausblickend. »Wie sich die Wolken am Himmel jagen, wie der Mond blitzartig erscheint, um gleich wieder zu verschwinden. Mich erinnert diese Nacht an jene, weit fort von hier im Süden. Der Wind heulte ebenso, und die Wolken jagten sich so wie heute, nur der Schnee fehlte.«

Er war aufgestanden und strich sich zweimal über die Augen. Mit furchtbarer Deutlichkeit zog sein Leben an ihm vorüber bis zu jenem Augenblicke, wo er alles verspielt hatte und aus den Spielhöllen Monte Carlos hinausgeschlichen war, den Revolver in der Hand, um, wie so viele Entgleiste im Leben, zu enden. Aber einer hatte ihm nicht erlaubt, als Selbstmörder zu enden, ein hochgewachsener Mann folgte ihm. Und der Sturm tobte, er übertönte den leichten Schritt. Eine weiße, starke Hand hatte die Mordwaffe gepackt und eine wohllautende Stimme hatte dem Verzweifelten zugesprochen, lange – eindringlich.

»Dein Leben gehört mir.«

So hatte der Retter gesagt und den Geretteten nicht mehr von seiner Seite gelassen. Gleich nach jener Nacht waren sie fortgereist. Erst nach Algier, von wo aus sie Touren in das Innere Afrikas machten. Später hatten sie Seite an Seite im Burenkriege gefochten, wobei der zweite Reisende Gelegenheit fand, seinem Wohltäter das Leben zu retten.

»Wir sind quitt,« dachte er damals ingrimmig.

Er sagte es sich auch heute wieder und wieder und reckte dabei seine muskulöse Gestalt.

Nach vieler Mühe erreichte der Zug endlich die Station.

Der Schlafende erwachte.

»Ich habe tüchtig geschlafen,« sagte er, sich aufrichtend, »wo sind wir?«

»Dies muß Werblowa sein,« versetzte der Gefragte. »Der Herr Graf wünscht vielleicht, daß ich eine Erfrischung aus dem Restaurant hole?«

»Wie oft habe ich Dir verboten, mich so förmlich anzureden, Feodor. Wir sind jetzt in Rußland, in unserm lieben, gemeinsamen Vaterlande. Nenne mich Nicolaj Petrowitsch, verstehst Du?«

»Unser Vaterland,« wiederholte Feodor düster, »ich habe keinen Grund, es zu lieben. Meine arme Mutter wurde von ihrer hochmütigen Sippe verstoßen, weil sie der Stimme ihres Herzens folgte und meinen Vater heiratete. Meine Kindheit und Jugend ist hart gewesen.«

» Ich werde Dir Anerkennung verschaffen, Feodor,« sagte Nicolaj Petrowitsch herzlich, »verlaß Dich darauf, Dein Leben gehört mir.«

Bei diesen oft gehörten Worten senkte Feodor den Kopf, er ballte die Faust, und seine Zähne gruben sich tief in seine Lippen.

»Bringe mir etwas zu essen und ein Glas Tee, lieber Freund,« fuhr der Graf fort, »es ist kalt, der Wind dringt durch die Ritzen der Fenster, ich möchte nicht aussteigen.«

»Sofort,« entgegnete Feodor, stülpte die hohe Fellmütze auf den Kopf und verließ den Zug.

Der Führer der Lokomotive stand schon in der Restauration und stärkte sich mit einem Glase Branntwein. Feodor redete ihn an.

»Wird die Weiterfahrt möglich sein?« fragte er.

»Ich weiß es nicht,« entgegnete der Mann, »wir können leicht stecken bleiben, der Schnee fällt immer dichter. Hoffentlich erreichen wir die nächste Station noch.«

»Ist hier eine Stadt in der Nähe, in der man die Nacht bleiben könnte?« fragte Feodor.

»Ja, sie liegt einige Werst entfernt. Es ist die kleine Kreisstadt Bogbrodisch.«

Feodor befahl dem verschlafenen Kellner, Tee, Gebäck, Obst und Butterbrote in das Coupé Nr. 169 der ersten Klasse zu bringen, dann trat er selbst an das reichhaltige Büfett und trank zwei große Schnäpse.

»So, das tat wohl,« dachte er und wischte sich den Mund. Er versuchte auch etwas zu essen, aber er brachte nichts über die Lippen und schüttelte sich wie im Ekel.

Ein drittes Glas Branntwein folgte, dann ging Feodor wieder in das Coupé zurück.

Auch der Graf Nicolaj Petrowitsch Subotin hatte sich inzwischen mit Speise und Trank erfrischt. Der Zug sollte abgehen, die Glocke gab das Zeichen zur Weiterfahrt.

Und wieder ging es in die Nacht, in das Unwetter hinaus.

Die beiden jungen Männer steckten ihre Cigaretten an, leichte Rauchwölkchen schwebten durch das Coupé. Jetzt, wo der Graf aufgewacht war, trat seine Aehnlichkeit mit Feodor Feodorowitsch noch frappanter hervor. Die Farbe der dunkelgrauen Augen war dieselbe, aber während Subotin heiter und freundlich jeden Menschen anblickte, brannte ein düsteres Feuer in den Blicken Feodor Karmitows; der offene, gewinnende Ausdruck fehlte bei ihm, der bei Subotin sympathisch berührte.

Der Zug eilte jetzt schneller über die Schienen. Es schneite nicht mehr, und der Mond trat immer heller hervor. Desto wilder heulte der Sturm.

Die beiden Reisegefährten plauderten miteinander, das heißt, eigentlich tat es hauptsächlich der Graf, während Karmitow nur hin und wieder ein Wort dazwischen warf.

»In den zwei Jahren, die Du mein Sekretär bist, lieber Feodor, hast Du einen genauen Einblick in alle meine Verhältnisse erhalten,« sagte der Graf, »Du weißt, daß ich viele Jahre auf Reisen lebte. Meine Gesundheit, die früher zart war, hat sich wunderbar gekräftigt, selbst die Strapazen des Krieges schadeten mir nicht. Und nun bin ich nach meines Onkels Tode der Erbe seiner beiden Güter geworden, Antonowka und Ostrokino sind mir vermacht.«

»Sie sind neben Ihrem Privatvermögen einer der Reichsten im Gouvernement, Nicolaj Petrowitsch,« warf Karmitow schmeichlerisch ein.

»Gib mir das trauliche »Du«, mein Freund,« bat der Graf, »wir atmen Heimatluft, sind Waffengenossen unter der heißen Sonne Transvaals gewesen. Schon lange wollte ich Dich um diese Anrede bitten, im Herzen nenne ich Dich schon lange Bruder. Nun, was zögerst Du, schlage ein. Ich meine es ehrlich mit Dir, Feodor Feodorowitsch, und werde mich wahrlich nicht scheuen, unsere nahe Verwandtschaft zu proklamieren, sobald wir erst zu Hause sind.«

Lächelnd hielt Subotin dem andern die Hand hin, mit festem, treuem Druck umfaßte er die Rechte Karmitows.

»Die eiserne Faust im Samthandschuh,« dachte Feodor, aber er sprach es nicht aus.

Der Graf schien in froher, mitteilsamer Stimmung zu sein; behaglich lehnte er sich in die Samtpolster zurück und plauderte weiter.

»Nach einem Jahre müssen wir beide verheiratet sein,« sagte er, »die hübsche, kleine Natascha Tscherbatkin, mit der ich als kleiner Knabe spielte, ist nun zwanzig Jahre alt, wer weiß – vielleicht –« er unterbrach sich und lächelte vor sich hin. »Und auch Du mußt Dir Dein Haus gründen und eine gute Frau suchen, Feodor,« fuhr Subotin fort, »ich werde Dich so stellen, daß Du sorglos leben kannst.«

Nicolaj blies den Rauch seiner Cigarette behaglich von sich, sein ganzes, hübsches Gesicht strahlte.

In diesem Augenblick hielt der Zug plötzlich an, ein langgezogener Pfiff tönte durch die Nacht.

»Wir sitzen fest,« sagte Karmitow.

Er ließ das Fenster hinunter und sprach mit dem Schaffner.

»Die Schneemassen haben sich derartig auf den Schienen angehäuft, daß es einiger Stunden bedarf, bis die Fahrt fortgesetzt werden kann,« erklärte der Eisenbahnbeamte.

»Eine schöne Geschichte,« erklärte Subotin ärgerlich.

»Ich möchte den Vorschlag machen, nach dem Städtchen Bogbrodisch zu gehen,« sagte Karmitow, »es ist nur einige Werst entfernt, ein Fuhrwerk können wir hier auf freiem Felde nicht bekommen, aber ich denke, die Telegraphenstangen zeigen uns den Weg. Um drei Uhr morgens geht von Bogbrodisch ein Zug ab, den wir benutzen könnten.«

»Wir wollen gleich aufbrechen,« beschloß Subotin, »der Mond scheint ziemlich hell.«

»Gut, ich werde nur das Handgepäck nehmen,« sagte Karmitow dienstbereit und ergriff einen kleinen Koffer aus Juchtenleder, der des Grafen Namenszug und die neunzinkige Krone trug.

»Feodor, gib gut acht,« mahnte Subotin lachend, »verliere den Koffer nicht, er enthält alle meine Legitimationen und Papiere sowie mein Geld. Es ist gut, daß wir die großen Gepäckstücke nach Antonowka voranschickten, wir werden sie dort schon vorfinden.«

Karmitow antwortete nicht. Er stieg nach dem Grafen aus dem Zuge, dann schritten beide in die stürmende Nacht hinaus.

Subotin hatte eine Reisetasche um die Schultern an einem Riemen hängen; er hinkte leicht. Als Knabe hatte er sich einen schlimmen Beinbruch zugezogen und seitdem eine Schwäche des linken Beines zurückbehalten, die ihn aber nicht weiter belästigte. Karmitow hatte noch seinen eigenen kleinen Handkoffer aus dem Netz des Coupés genommen, sein Name stand darauf.

Um das Städtchen zu erreichen, mußten sie einen Wald durchqueren. Der Weg war stellenweise fast unpassierbar, nur die Pfosten der Telegraphen bezeichneten ihn. Die Bäume boten etwas Schutz, und es war so hell, daß man sich zurechtfinden konnte; hin und wieder huschte ein blasser Strahl des Mondes durch die Stämme. Es rauschte und knackte in den Aesten, dicht neben den Wandernden ließ eine Eule ihren mißtönenden Schrei erklingen.

Subotin, der voranging, blieb stehen.

»Man könnte sich beinahe fürchten,« sagte er scherzend, »es ist gut, daß wir bewaffnet sind, Feodor.«

Karmitow antwortete nicht, er atmete schwer.

»Was fehlt Dir?« fragte Subotin, »sind Dir meine Schätze zu schwer?«

Karmitow murmelte etwas Unverständliches.

Sie waren jetzt mitten im dichtesten Walde, der Mond schien nicht mehr, tiefe Dunkelheit umgab die beiden Einsamen. Es fing wieder an zu schneien. Trotz seines warmen Pelzes fühlte der Graf die schneidende Kälte und schauerte. Plötzlich blieb Karmitow stehen.

»Ich glaube, wir haben uns verirrt,« sagte er leise.

»Nein,« versetzte Nicolaj Petrowitsch, »der Schaffner sagte mir, daß wir eine Brücke passieren müßten, die über einen Fluß führt. Siehst Du nicht, daß wir darauf stehen? Ich fühle das Geländer unter meiner Hand.«

Es war wieder heller geworden. Der Graf neigte sich über das niedere Holzgeländer und blickte hinunter. Die Brücke bestand aus Bohlen, die aneinander gefügt waren.

»Wie schwarz das Wasser drunten aussieht,« sagte Subotin, »der Fluß ist von dem Herbstregen angeschwollen und noch eisfrei. Aber schon in dieser Nacht friert er zu, die Kälte wird immer größer. Im Sommer mag das Wasser fallen und an manchen Orten austrocknen.«

Karmitow war langsam näher getreten. Auch er stand jetzt neben Subotin, und beide schwiegen.

Der Sturm hatte für kurze Augenblicke Atem geholt, er brach plötzlich mit erneuter Wut los. Schwarze Wolken verhüllten den Mond.

Durch das wilde Toben des Unwetters gellte ein Schrei – – der Orkan übertäubte ihn sofort.


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