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XV

Der Narr in Christo

Gerhart Hauptmann stand dichterisch nie höher. Vielleicht nie so hoch. Aber der Roman gehört nach keiner Richtung hin zu jenen Phänomenen, die heute blenden und morgen für immer im Dunkel verschwunden sind. Was der Dichter hier auf den Tisch seines Volkes legte, davon wird sein Volk langsam vielleicht, aber sicher Besitz ergreifen. Dieses geistige Besitztum wird nie zu veräußern sein. Man wird nie aufhören, sich mit dem Romane zu befassen.

Wer die ersten Kapitel las und sich sofort in eine ganz abgesonderte Welt versetzt sah, dem mag diese Welt fremd erschienen sein, fremder als Griechenland und Mittelalter, entfernt vom eignen Kulturleben, das nur gelegentlich diese wunderlichen Kreise stört. Man denke sich den Schäfer Thomas, den Maler Diefenbach, den armen Peter Hille, einen Vegetarier oder »Kohlrabiapostel«, jemanden von der Heilsarmee, Antialkoholiker und Antivivisektoren, Missionare und Sektenbrüder, man denke alles, was sich absondert und doch zur Vereinigung strebt, in einem Kehrichthaufen gesammelt und man wird von Emanuel Quint und seiner »Gemeinschaft des Geheimnisses« einen ungefähren Begriff erhalten. Zu absonderlich, zu entlegen, zu fremd unsern eigensten Interessen konnte es der gebildete Weltstädter noch finden, solange Leo Tolstoi sein Leben nicht beschlossen hatte. Seitdem kann er es nicht mehr. Gerade, als sich dieser Roman des »Narren in Christo« an die ganze große Öffentlichkeit wandte, wurde diese Öffentlichkeit von Ereignissen bewegt, deren tiefrer Sinn oder Unsinn mitten in die Probleme der kleinen Welt führt, die um Emanuel Quint liegt. Diesem schlesischen Romane starb Tolstoi sehr gelegen. Wie vor zwei Jahrzehnten den jungen Schlesier zu seinem sozialen Drama nichts stärker ermutigte, als das Beispiel von Tolstois »Macht der Finsternis«, so war es jetzt, als legte der abgeschiedne Geist des russischen Urchristenapostels eine heilskräftig segnende Hand auf seinen armen, gleichgesinnten Bruder Emanuel Quint, der das Urchristentum der vier Evangelien und der Apostelgeschichte hienieden noch einmal durchleben will, der bei diesem wunderbaren Unternehmen seiner reinen Seele mit der Folgerichtigkeit eines umfangnen Geistes dergestalt bis ans letzte Ende geht, daß ihn die Menge einen Narren, einen Toren schilt, gerade so wie der alte, der älteste Tolstoi mit dem Gassenausdruck eines Grundwieners »Tepp« genannt worden ist.

Aber nicht nur die Menge schilt, spottet, tobt oder wehklagt über den Toren und Narren – und diese Menge würfelt sich aus den verschiedensten Elementen zusammen, aus Bauernburschen und adligen Gutsherren, aus evangelischen Pastoren, katholischen Klerikern und manchem selbst ganz wunderlichen Heiligen. Sogar der Dichter gibt sich den Anschein, als sei er vom Narrentum seines Helden, dieses heldenmütigen Dulders, durchdrungen. Freilich scheint der Dichter mit künstlerischer Feinheit und Freiheit nicht nur von seinem Dulderhelden, sondern sogar vom Erzähler dieses Dulderheldentums persönlich abzurücken. Es wird nie auf einen andern Erzähler hingewiesen, aber aus dem Stile scheint bisweilen ein andrer sprechen zu wollen als der Dichter. Man könnte einen sehr humanen, rationalistischen und doch gefühlsstarken Emeritus imaginieren, der zu seiner eignen Beruhigung auf die leeren Blätter einer alten Chronik treu und wahrhaftig aufregende, ungewöhnliche Vorgänge aus seiner Gegend verzeichnet, manchmal etwas breit wird und besonders zu liebevoll am biblischen Worte haftet, das im Geist des närrischen Gottsuchers seine tieftragische Parodie findet. Dieser imaginäre Chronist steht frei über Quints religiösen Wahnvorstellungen, mitleidig, ohne Eifer, ohne Zorn; hin und wieder flicht er eine mehr oder minder weisheitstiefe Betrachtung ein, im ganzen aber stellt er nur schlicht und sachlich den Tatbestand fest; denn er weiß, daß gerade daraus die zwingendste und erschütterndste Seelenkraft spricht. Man könnte sich weiter einbilden, Gerhart Hauptmann habe diesen pfarrherrlichen Chronikenbericht gelesen, und weil er selbst davon auf das tiefste ergriffen wurde, in der begründeten Meinung, es könnte auch andern so ergehen, nun der Öffentlichkeit übergeben. Was besonders ihn zu diesem Leben Quints mag hingezogen haben, ist zweierlei: ein rein persönliches Moment und ein andres, das geeignet wäre, die Gemüter der ganzen Christenheit aufzuwühlen.

Das persönliche Moment liegt darin, daß der Dichter in Emanuel Quint einen Bekannten aus seiner frühen Jugend wiedererkennt, einen Menschen, der zeitweilig starken Einfluß auf sein Empfinden hatte. Mit besondrer Überraschung wird er entdecken, daß der ehrliche Chronist auch ihn selbst nicht vergessen hat; Gerhart Hauptmann findet sich in jenem jungen Landwirt wieder, der hier Kurt Simon heißt, und nimmt mit Erstaunen wahr, wie tief der Chronist das Gefühlsleben seiner jugendlichen »Stromtid« durchschaut, die er einst bei Onkel und Tante als Eleve verbrachte; bei Onkel und Tante, die in Frömmigkeit und Güte so hart gegen den »Narren in Christo« verfuhren.

Der »Narr in Christo« selbst ist das andre, das aufrüttelnde Moment. Gerhart Hauptmann entdeckt – und wir entdecken es mit ihm – daß sich nicht nur die Lehre Christi, sondern fast das ganze Leben Jesu, wie es die Evangelisten überliefern, in Emanuel Quints Walten und Wallen wiederholt. Der vaterlose Tischlerssohn aus Schlesisch-Giersdorf hat sich in den vaterlosen Zimmermannssohn aus Nazareth mit Leib und Seele so innig hineingefühlt, daß ihm die biblische Welt näher rückt als die wirkliche; er redet nicht nur Christi Worte, er zieht nicht nur aus Christi Weisheit die äußersten Konsequenzen, sondern, indem er Christi Wort in Tat, Christi Lehre in innres Sein verwandeln will, gestaltet sich ihm auch das äußere Erleben nach dem großen Alterego des Neuen Testamentes. Es sammelt sich um ihn eine Schar armer Leute, die ihm jüngerhaft ergeben sind, unter denen aber doch die Verleugner und auch der Verräter nicht fehlen. Ein Herrnhutischer Wanderbruder wird ihm zum Täufer Johannes; Kranke werden unter seiner milden Hand gesund; eine Magdalena neigt sich über diese Hand; unter den andächtigen, ihm anhangenden Frauen findet sich bald eine Martha, bald eine Maria; er teilt das Abendmahl mit den Jüngern und wäscht ihre Füße; er läßt die Kindlein zu sich kommen; er wird gefangen, bespien, gesteinigt, gezüchtigt, aber er küßt die Faust, die in sein Gesicht schlug.

Es wäre unschwer und unschön, das heilige Original abzuklatschen. Dieser schlesische Roman aus dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts ist aber nichts weniger als ein Abklatsch. Die Kraft und Lieblichkeit der biblischen Bilder und Berichte, durch den untheologischen Eindruck einer jungen Poesie noch gesteigert, wächst aus des Dichters Heimaterde; so tief der arme entrückte Handwerksbursch unter dem Gekreuzigten steht, so hebt ihn auch die Dauer der zwei dazwischenliegenden Jahrtausende von ihm ab und gibt ihm eine ganz andere Prägung. Dieser inbrünstige Gottsucher, der nie etwas andres als die Bibel gelesen hat, verwirft zuletzt die Vermittlung des Gebetes und der Bibel, wie er alles Menschenwerk verwirft, und begrüßt die Offenbarung seines Gottes in der aufgehenden Sonne. Er sieht Gott im Wunder der Natur und findet das Gotteswunder überall; diese Wahrnehmung erfüllt ihn so, daß der sanfte, gütige Mensch unter dem Einfluß einer persönlichen Erregung (er ist bei seinem leiblichen Vater, einem Kleriker) zum bilderstürmenden Kirchenschänder wird. Diese pantheistische Vorstellung, daß Gott im Weltall stecke, tritt ihm von selbst nahe und bestärkt sein naives Gefühl, sich selbst, als einen Teil des Alls, mit dem Gottessohne zu identifizieren. Hier liegt sogar die Wurzel dieses Wahns. Aus dem schlichtesten Glauben an einen höheren Sinn, Zweck und Ursprung des Erdendaseins wird in diesem beschränkten Hirn, diesem Herzen ohne Falsch, dieser Seele voll Andacht und Güte, in diesem Sinnierer, der die Tagesarbeit scheut, langsam, allmählich, nach und nach der Wahn, der Heiland lebe in der Menschheit fort, endlich zum Wahnwitz, der wiedergekommne, wiedergeborne Heiland sei er selbst; durch die Gläubigkeit der wundersüchtigen, ein besseres Dasein erwartenden Jünger, durch die Verzücktheit anbetender Frauen und andrerseits durch weltliche Gewalten, die ihn bis ins Martyrium hineinschleppen, findet dieser herzliche Größenwahn auch von außen her verderbenbringende Nahrung. Alles das ist vom Dichter mit einer bildnerischen Meisterschaft entwickelt, an der man nicht nur das Studium der Bibel, sondern auch das Studium Homers zu erkennen glaubt. Wir machen jeden Schritt auf dieser abschüssigen Bahn begleitend mit, wir folgen dem armen Narren durch Not und Pein und verweilen nur allzu flüchtig auch in dem irdischen Paradiese, das sich ihm gerade in der höchsten Not und gerade durch die höchste Not öffnet. Dieser Erdenfriede schuf aus dem zerlumpten Landstreicher für ein Weilchen das freundlich anzuschauende, auch von außen her gesittete, innerlich heitere, herzgewinnende Menschenbild, dem der Zugang ins Glück noch frei stände, wenn sich die Mächte seines heiligen Wahnes noch bezwingen ließen.

Wie Gerhart Hauptmann bei der Schilderung des menschlichen Elends in Hütten und Höhlen der Berge seine alte naturalistische Kraft bewahrt, wie er zuletzt das Bohemetreiben einer großen Stadt, in das Emanuel Quint äußerlich versinkt, aus den Lebenserfahrungen der eignen Jugend darstellt, so flimmern ihm die lieblichsten Farben für das mitten drinliegende ländliche, menschlich reine Idyll, das dem Leser wie dem Dulderhelden einen wohligen Ruhepunkt, eine Erholung des Auges und des Herzens gibt. Dieser Ruhepunkt, auf dem sich die realistische Phantasie des Dichters behaglich ausbreitet, ist um so nötiger, als sich zum Schluß Furchtbares zusammendrängt. Emanuel Quint wird eines Lustmordes geziehen, den er bekennt, obwohl ihn ein abtrünniger Jünger begangen hat. So jammervoll unterscheidet sich das Schicksal des armen, verwirrten, in Welt und Zeit verirrten Gottsuchers von der erhabnen Aufopferung dessen, dem er sich näher und näher fühlte, bis er sich zuletzt eins mit ihm glaubte. Verlassen von seinen Getreusten; unerkannt von denen, die ihn kannten, vergeblich gesucht von Frauenliebe wandert er, ähnlicher dem Ahasverus als dem Christus, unstät durch die Welt, und wenn er zur Nachtstunde irgendwo um Brot und Obdach bittet, so entzieht sich ihm überall auch die hilfreichste Hand, sobald er seinen Namen nennt; denn dieser Namen heißt nicht Quint, sondern Christus. Der Dichter oder vielmehr der »Chronist« gibt über seinen Ausgang keine Gewißheit, sondern nur eine Vermutung. Danach sei er auf dem Gotthard bei armen Hirten, denen es gleichgültig war, ob er so oder so hieß, im Schneesturm verendet.

So wandelte Emanuel Quint auf Erden. Niemandem wird es einfallen, ihn an die Seite des Nazareners zu stellen, so wie dessen Bild in die Jahrtausende wirkt. Dennoch brennt unter dem greifbaren Bild unseres Altersgenossen Emanuel Quint eine Frage, die geeignet wäre, alle Gemüter nicht bloß der Christenheit, sondern der ganzen lebenden Menschheit aufzurütteln. Der Dichter wirft die Frage nirgends auf, aber unsichtbar bewegt sie sich durch alle Begebenheiten und macht über den Begebenheiten die Luft erzittern: Wie würde es heute dem echten Jesus Christus auf unsrer Welt ergehn, wenn er selber mit den idealen Forderungen seiner Bergpredigt unter die heutigen Menschen träte? Würd' es ihm anders ergehn als dem armen, überspannten und übergeschnappten Emanuel Quint, der ihm in der Herzensreinheit und in der schrankenlosen Hingebung an den unweltlichen Urgeist seiner Lehre doch ganz nahestand? Diese Frage zu beantworten, ist meine Sache noch weniger, als die des Dichters. Aber Theologen, Juristen, Mediziner sollten sie erörtern und eine Antwort suchen. Keiner der vier Fakultäten kann es schaden, sich mit diesem Roman zu befassen.

Dem Dichter haben die philosophischen Fakultäten von Oxford und Leipzig honoris causa den Doktorhut aufgesetzt. Den drei andern Fakultäten könnte es nicht schaden, wenn auch sie ihm und durch ihn der modernen deutschen Dichtkunst die gleiche Ehre erwiesen. Die Wissenschaften, die in diesen Fakultäten abgegrenzt sind, hat er freilich nicht »durchaus studiert mit heißem Bemühn«. Aber ihrem Wissensdurst hat er Quellen des Lebens geöffnet.


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