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IV

Sonnenaufgang

Gegen Weihnachten 1888 ging Hauptmann mit seiner Familie nach Bergedorf, wo jetzt bei ihrem ältesten Sohn auch die Eltern lebten und ihn mit ihren Erfahrungen im Geschäft unterstützten. Hier brütete der Dichter wochenlang weiter über seinem Roman.

In den allerersten Frühlingswochen des Werdejahrs 1889 kam er dann allein zu Besuch nach Berlin, wohnte aber nicht draußen in Erkner, sondern in der Stadt bei seinem Freunde Schmidt. In Niederschönhausen lernte er den fast gleichaltrigen Dichter Arno Holz kennen. Holz las auf seiner kleinen rührend und anschaulich von ihm geschilderten »Bude« in Hauptmanns Gegenwart eine Reihe kleiner Skizzen vor, die er gemeinschaftlich mit seinem etwas altern Freund und Stubengenossen, Johannes Schlaf aus Magdeburg, verfaßt hatte. Die wesentlichste dieser Skizzen hieß »Papa Hamlet« und führte mit peinlichster Liebe zum kleinsten Detail in eine verwahrloste Komödiantenwirtschaft, die ohne jede Furcht vor den Widerwärtigkeiten der Armut, der Lüderlichkeit, des Schmutzes in vollkommener Naturtreue, der Wirklichkeit gemäß, sehr talentvoll abgeklatscht war. Mehr noch als diese Skizzen mögen auf Gerhart Hauptmann die eindringlichen Reden gewirkt haben, in welchen Arno Holz seine Kunsttheorie entwickelte, der jener »Papa Hamlet« als Paradigma dienen sollte. Arno Holz, jung, energisch, im äußern Wesen frisch und erfrischend, Rastenburger Apothekerssohn, früh auf sich selbst und seine Arbeit gestellt, ein kühl kalkulierender, auf seine konsequent herausgerechneten Verstandesergebnisse eigenköpfisch trotzender Mittelostpreuße, hatte ein schönes Talent zur Lyrik seitwärts von hergebrachten, bis zum Ekel benutzten Mustern schon öfters bekundet. Er ist ein heller, findiger Kopf, der einen gescheiten Gedanken fassen kann, aber die gefährliche, nahezu selbstmörderische Neigung hat, diesen Gedanken bis zur Superklugheit fortzutreiben und ihn schließlich im Aberwitz, dem letzten Ziel aller Einseitigkeit verstocken zu lassen. Holz ging in seiner Papa Hamlet-Doktrin vom Naturalismus Zolas aus. Er überwand jenen Bleibtreuschen Pseudorealismus, der mit Zolas Naturanschauung nicht das Mindeste zu schaffen hatte und sehr bald an seiner eigenen Aufgeblasenheit zerplatzte. Arno Holz trat auf solidem Wegen dem Hyperästhetizismus und Supraklassizismus früherer Generationen entgegen. Seine und Schlafs treuen Abschriften des scharf beobachteten Kleinlebens waren eine zeitgeschichtliche Notwendigkeit, weil sie die Dichtkunst fester an den allgemeinen Geist des modernen Lebens banden. Überall hatte die rauhe Wirklichkeit stark in die Seelen der Menschheit eingegriffen. Bismarcks Realpolitik, die soziale Forderung des Proletariats, der induktive, detaillierende Grundzug moderner wissenschaftlicher Forschung, die Lehre von der Entwicklung aller Dinge, die gesteigerte Wertschätzung statistischen Materials, die großen Schöpfungen ausländischer Wirklichkeitsdichter und Seelenergründer – dies alles wirkte zusammen, um auch in der deutschen Literatur die Notwendigkeit einer realistischeren Darstellungsweise zur Geltung zu bringen. Keiner war naiv und instinktiv überzeugter davon als Gerhart Hauptmann, der nun das, was er innerlich bestimmt empfand, durch Arno Holzens schneidige Beredsamkeit in Form und Satzung gebracht sah. Arno Holz hatte es nicht mehr nötig, diesen neuen Kameraden zum Realismus zu bekehren. Er gab ihm aber die letzte entscheidende Anregung. Schon im »Promethidenlos«, so wenig realistisch dieses Gedicht sein mag, deutet sich die radikale Wendung sehr sicher an. Wer seine Laute stimmt, den Jammer der wirklichen Welt mitleidweckend zu verkündigen, wird tief hinabsteigen müssen in menschliches Elend, oder er wird ein Phrasenheld sein. Der Dichter des »Promethidenloses« war schon damals zum äußersten entschlossen. Schon die konventionell-allegorisch von ihm erfaßte Muse der Dichtkunst sprach zu ihm, ihr Tempel sei die Erde. Schon damals fand er das Wort: »So muß Natur der Kunst die Wege bahnen«; oder das andre Wort:

Und wollt ihr meines Gottes Namen kennen,
So mögt ihr ihn den Gott der Wahrheit nennen.

Schon mahnt er mitten in diesen ideellen Vorstellungen sich selbst: »Laßt mich ins Spiel der Welt die Blicke senken«. Was aber hier die Blicke sahen, war trostlos:

Das Elend greift in jeden Menschenhaufen
Und faßt mit Kreischen Kind und Mann und Greis:
Den treibts zum Hängen, jenen zum Ersaufen,
Den wirft es lachend in der Laster Kreis.

Und in der Erkenntnis dieses Elends zweifelt er schon damals am Rechte der künstlerischen Darstellung auf die herkömmliche Schönheit. Nur im Traum sah er das Schöne.

Da wacht er auf. – Rauh krächzt des Bettlers Bitte,
Des Krüppels Beulen recken sich ihm dar,
Die Straße gellt vom Stampfen vieler Tritte,
Und eine schmutzige, verrohte Schar
Wogt um Selinen.

Schon damals rief er den Elenden verzweifelten Entschlusses zu:

So laßt in eurem Schmutz mich hocken,
Laßt mich mit euch, mit euch im Elend sein!

Das »Promethidenlos« nimmt zum Schluß eine seltsame Wendung. Während sich bis dahin der Dichter mit seinem Helden ganz eins zu fühlen schien, stellt er sich plötzlich außerhalb dieses »irren Knaben«, der das, was er ahnte, »in hehrer Form, in heil'ger Melodie« singen wollte. Der Dichter selbst aber denkt nun ganz anders als sein Held:

Du traust mir nicht? Dich lockt das süße Tönen,
Du glaubst, es sei auch in der Menschenwelt
Erlaubt zu singen, und das Arbeitsfeld,
Meinst du, kann milder Dichtersang verschönen.
Es fliege leichter dann, meinst du, der Spaten,
Die Sense blinke freudiger darein.
Sei still! – Sie können deines Lieds entraten,
Es muß gepflügt, doch nicht gesungen sein.

Begleite mich durch öde finstre Gassen
Furchtbarer Nacht! – Hörst du's den Weg entlang,
Dies Wimmern? – Sieh, dich will ein Grauen fassen:
Dies wird, mein Kind, in unsrer Zeit Gesang.

Und noch einmal mahnt der realistische, weltverbesserende Dichter seinen Helden:

Kehr um! Die Sohlen deiner Füße hefte
An diese Welt mit fieberhafter Hast,
Aus ihr entsteigen alle deine Kräfte.

Schon 1885, als er von seiner Reise zurückgekehrt war, stand es für Gerhart Hauptmann fest, wohin ihn seine Dichtersendung führen würde. Sehnsucht zog zur Schönheit, aber der Weckruf der Zeit treibt einem andern Ziel entgegen. Schon 1888 entstand ein Gedicht, das er seinem Sonnenaufgangsdrama hätte voransetzen können. Denn in ihm spricht er aus, wie er seine Mission verstand:

Dir nur gehorch ich, reiner Trieb der Seele!
Des sei mein Zeuge, Geist des Ideales,
Daß keine Rücksicht eitler Art mich bindet.
Ich kann nicht singen, wie die Philomele.
Ich bin ein Sänger jenes düstern Tales,
Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet.

Du aber, Volk der ruhelosen Bürger,
Du armes Volk, zu dem ich selbst mich zähle,
Das sei mir ferne, daß ich deiner fluche!
Durch deine Reihen gehen tausend Würger,
Und daß ich dich, ein neuer Würger, quäle,
Verhüt es Gott, den ich noch immer suche!

Ich darf es dir mit meiner Hand verbriefen,
Daß, wenn ich zürne, zürn ich deinen Leiden,
Das Gute wollend, dir zum ew'gen Heile.
Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen,
Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht beneiden!
Auf mich zuerst zielt jeder meiner Pfeile.

Und so schärfte er sein Auge für das Nahe und Nächste. Schon 1887, bevor er Arno Holz kannte zeitigte der Aufenthalt in Erkner eine kleine novellistische Studie, die in ihrem Realismus nicht so »konsequent« ist, wie »Papa Hamlet« aber dichterisch als geschlossenes, rundes Werkchen höher steht. Es ist die zuerst in M. G. Conrads »Gesellschaft« abgedruckte Erzählung vom »Bahnwärter Thiel«. Ihr moderner Zug kündigt sich schon im Titel an. Unsre Zeit steht »im Zeichen des Verkehrs«. Bahnwärter Thiel dient jenem Verkehrsbetriebe, von dem Goethe und die Romantiker noch nichts wußten. Als die Eisenbahn aufkam, ging ein Jammern durch das epigonenhafte Geschlecht der Spätromantik. Mit dem Posthorn schien die Poesie aus der Weit zu schwinden. Mit dem Pfiff der Lokomotive schien sich der Welt die Prosa bemächtigt zu haben. Schon Gottfried Keller lachte über solches kurzsichtige Haften am Überlieferten, über diese Unkraft, den poetischen Reiz des Neuen zu finden, und verkündigte frohgemut die Poesie der Luftschiffahrt. Gerhart Hauptmann, der in einem dichten Eisenbahnnetz aufwuchs, gehört bereits zu denen, die auch aus dem Eisenbahnwesen Poesie und realistische Symbolik zu holen verstehen.

Im »Bunten Buch« schildert er die Nachtstimmung einer kleinen Vorortstation mit dem schwindsüchtigen alten Wächter, der keuchend, hustend fortwährend hinüber nach den Rüdersdorfer Kalkbergen sieht und nach ihren bald gelben, bald roten Grubensignalen. So oft diese die Farbe wechseln, wechselt die Farbe auch auf dem Fieberantlitz des ergrimmten Mannes, der sich dort unten in den Kalkbergen den schleichenden Tod geholt hat.

Ungefähr gleichzeitig entstand ein Gedicht »Im Nachtzug«:

Es poltert der Zug durch die Mondscheinnacht,
Die Räder dröhnen und rasen.
Still sitz ich im Polster und halte Wacht
Unter sieben schnarchenden Nasen.
Die Lampe flackert und zittert und zuckt,
Und der Wagen rasselt und rüttelt und ruckt,
Und weit, wie ins Reich der Gespenster,
Weit blick ich hinaus in das dämmrige Licht
Und schemenhaft schau ich mein blasses Gesicht
Im lampenbeschienenen Fenster.

Dem Passagier ists nicht wohl in der dumpfen beklemmenden Enge. Ihn durchklingt

Ein Sehnen hinaus in das Mondscheinreich,
Das fliehend die Drähte durchschneiden.
Sie tauchen hernieder und steigen zugleich,
Vom Zauber der Nacht mich zu scheiden.

Aber am romantischen Elfenziel jagts den modernen Reisenden vorüber, und das Rasseln der Räder singt ihm ihr eigenes Lied, den »Sonnengesang« moderner Zyklopenarbeit:

Wir tragen euch hier durch die duftende Nacht,
Mit keuchenden Kehlen und Brüsten.
Wir haben euch güldene Häuser gemacht,
Indessen wie Heiden wir nisten.
Wir schaffen euch Kleider. Wir backen euch Brot.
Ihr schafft uns den grinsenden, rieselnden Tod.

Wir wollen die Ketten zerbrechen.
Uns dürstet, uns dürstet nach eurem Gut!
Uns dürstet, uns dürstet nach eurem Blut;
Wir wollen uns rächen, uns rächen!

Wohl sind wir ein rauhes, blutdürstend Geschlecht,
Mit schwieligen Händen und Herzen.
Doch gebt uns zum Leben, zum Streben ein Recht
Und nehmt uns die Last unsrer Schmerzen!
Ja, könnten wir atmen in keuchendem Lauf
Nur einmal erquickend tief innerlich auf,
So, weil du die Elfen bewundert,
So sängen wir dir mit Donnergetön
Das Lied, das finster und doch so schön,
Das Lied von unserm Jahrhundert!

Vom fahrenden Dichter weicht nun die Sehnsucht nach Elfentanz in mondbeglänzter Zaubernacht. Ein andrer, die schöne Welt mit der wirklichen versöhnender Traum steht vor seiner Seele:

Die Lampe flackert und zittert und zuckt,
Und der Wagen rasselt und rüttelt und ruckt,
Und tief aus dem Chaos der Töne,
Da quillt es, da drängt es, da perlt es empor,
Wie Hymnengesänge, bezaubernd mein Ohr,
In erdenverklärender Schöne.

Er träumt von »himmlischen Lenzen auf irdischen Höhn«. Dieser Traum ist der Traum des idealistischen Weltverbesserers, der nur der Wirklichkeit, nicht den Möglichkeiten gegenüber pessimistisch denkt; diesen Traum gab dem Dichter die Fahrt auf der Eisenbahn.

Denselben Eindruck schafft ihm auch der vorüberfahrende Bahnzug. Phantastisch malt er in der Novelle vom »Bahnwärter Thiel« den Zug, der im Nu erscheinend, im Nu verhallend durch das stille Dunkel des Heidelands tost. Die blauen Nachtsignale dünken ihn wie Tropfen überirdischen Lichtes. Aber über dem Hüttlein des Bahnwärtes Thiel leuchtet nichts Überirdisches. Er ist einer der modernen Arbeitszyklopen, wie jener schwindsüchtige Bahnwärter aus Rüdersdorf. Er dient dem großen Betriebe nur an bescheidenster Stelle. Sein höchster Erdenwunsch, den er kaum zu erhoffen wagt, ist der, daß sein Söhnchen Tobias es dermaleinst bis zum Bahnmeister bringe. Für sich selbst strebt er so stolze Ziele nicht an. Aber auf dem bißchen Bahndamm und Schienenstrang, den er zu betreuen hat, kennt er jedes Schräubchen und jedes Stäubchen. Und nicht bloß das kennt er, was zum Dienste gehört, wofür er karg genug vom Staate bezahlt wird. Um dieses Streckchen und die numerierte Bude in der Mitte webt sich ihm im Lauf der Zeiten ein seelisches Gespinnst, die Poesie seines Daseins. Der Fleck Erde wird ihm, einem Vorläufer und Schicksalsgenossen des Fuhrmanns Henschel, zum Heiligtum, worin seine tote, sanfte Frau weiterlebt und das von den plumpen Füßen der zweiten lebendigen Frau, von ihren groben Fäusten nicht berührt werden soll. Die Telegraphendrähte aber klingen und singen ihm das Lied von der, die er verloren hat: »Er stellte sich vor, es sei ein Chor seliger Geister, in den sie ja auch ihre Stimme mischte.«

Wie leicht war hier die Gefahr, sentimental zu werden. Nicht bloß die Effekte eines Mord- und Wahnsinnsschlusses schützten ihn davor, sondern auch sein Naturgefühl. Nicht sentimental ist das Empfinden des Bahnwärters Thiel, der dann Weib und Kind erschlägt, sondern melancholisch wie der märkische Kiefernwald am märkischen See. Der Dichter hat die Erknerstimmung auf sich wirken lassen. Er hat in die Heide einen Menschen gepflanzt, der wie sie empfindet, arm an Geist, reich an Seele, sanftmütig, bescheiden, schüchtern, energielos in der alltäglichen Ruhe, aber rauh, wild, wüst, grausam bis zur Vernichtung, wenn Orkane toben. Ein solcher Orkan ist in das Gemüt des Bahnwärters gefahren, als er argwöhnt, durch die böse Absicht der Stiefmutter sei sein kleiner Tobias unter die Räder des Bahnzugs geraten.

Des Dichters Problem war, diesen Stimmungsübergang, wie in einem epischen Monolog, darzustellen. Er hält sich dabei ausschließlich an die Mittel der erzählenden Kunst. Dialoge fehlen fast ganz. Den einzigen längern Sermon hält die böse Stiefmutter, wenn sie das Prügelknäbchen mit Schimpfworten herunterhudelt. Dramatisch wird die Aktion nur in den lallenden Lauten, mit denen beim Vater Thiel der Wahnsinn sich meldet und zum Morde mahnt.

Die Studie darf als Probe des Stiles gelten, in welchem Gerhart Hauptmann seinen Roman damals abgefaßt hätte. Jene Begegnung mit Arno Holz entschied aber nicht nur für den Naturalismus, sondern auch für das Drama. Wie das gewöhnliche Volk in seinen mündlichen Erzählungen die Person, um die es sich dabei handelt, mit Vorliebe selber sprechen läßt und auf diese direkte Rede so viel Gewicht legt, daß es möglichst oft ein »sagt er« oder »sagt sie« dazwischen schiebt, ebenso liegt es im Wesen einer naturalistischen Darstellung, daß die handelnden Personen möglichst viel selber sprechen, und daß uns möglichst viel aus ihren eignen Worten von den Geschehnissen kund werde. Dieses dramatische Prinzip herrscht in jenen »Papa Hamlet«-Skizzen so vor, daß der epische Stil beinah aufgehoben ist. Wenn also diese Skizzen auf eine reinere Künstlernatur wirkten, so mußten sie deren Stilgefühl auch zur Konsequenz führen. In dieser Konsequenz lag es, die Erzählung aufzugeben und das Dramatische zum Drama zu vollenden.

Erfüllt von Arno Holzens Theorie, angespornt von seinem Zuspruch, machte sich Gerhart Hauptmann sofort an einen Stoff, der für diese extrem naturalistische Behandlung geeignet war. Wie in den westlichen und nördlichen Vororten Berlins die sogenannten Millionenbauern, so gab es auch in nächster Nähe von Obersalzbrunn, in Weißstein und Hermsdorf Bauern, die plötzlich zu Reichtum dadurch gelangten, daß man unter ihren Äckern mächtige Kohlenlager entdeckte. Ein solcher Umschwung materieller Verhältnisse konnte im ungebildeten Stande nicht ohne Einwirkung auf Sitte und Sittlichkeit des überschnell und übermäßig reich gewordenen Volkes bleiben. Diese Jugendeindrücke sollten im autobiographischen Roman nachwirken. Nun wollten sie sich zu einem sozialen Drama gestalten.

Auch Holz fühlte sich durch das eigene Prinzip zum dramatischen Schaffen hingedrängt. Für Kompagniearbeit eingenommen, wie er war und blieb, durch die Fügsamkeit des sanften, sinnigen Johannes Schlaf daran gewöhnt, schlug er vor, mit Hauptmann gemeinschaftlich ein Drama nach allen Regeln der neuen Kunst abzufassen. Vor diesem dämonischen Antrag, dem er anfangs entgegenkam, den er wohl gar herausgefordert hatte, bewahrte den andern sein guter Stern. »Der Künstler ist immer der wahre Einsiedler.« Mit Respekt vor dem Kunstverstande des strammen Rastenburgers teilte er seinen Stoff nicht, wie er von Hamburg aus brieflich zugesagt hatte, dem neuen Kameraden mit, sondern flüchtete sich wieder nach Bergedorf zu Eltern und Geschwistern. In kürzester Zeit, noch war es Frühling, brachte er das Drama ziemlich fertig nach Erkner. Mit den Freunden Bölsche und Wille, mit dem Bruder Carl, der ihm noch immer der beste, auch in Rat und Tat förderlichste Freund war, zog er in die Kiefernheide des Bahnwärters Thiel, und während die Nadelhölzer hellgrüne Spitzen ansetzten, erwachte hier in freier, etwas öder Natur der Frühlingssang des neuen deutschen Naturalismus.

Frühlingssang ist Nachtigallenschlag und Lerchenjubel. Schon im »Promethidenlos« aber hieß es:

Du fragst nach Lerchenjubel. – Lerchenjubel!
Wir haben alles Jubeln längst verbannt.

Und doch trillern auch in dem neu erstandenen Drama » Vor Sonnenaufgang«, das ursprünglich »Der Sämann« heißen sollte, die Lerchen in der Morgenröte. Ihr Lied tönt unverdrossen jenseits von Gut und Böse, jenseits der moralischen Gegensätze, in denen sich dieses soziale Drama kraß und schroff bewegt. Der Dichter nimmt persönlich einen leidenschaftlichen Anteil an den moralischen Dingen. Er zeichnet Personen und Zustände entweder mit Liebe oder mit Haß. Von einem objektiven Naturalismus, wie ihn die Natur selbst ihren Geschöpfen gegenüber beobachtet, ist hier noch weniger die Rede, als beim Moralisten Zola oder in Tolstois »Macht der Finsternis«. Was Werke, wie »Die Macht der Finsternis« und »Vor Sonnenaufgang«, erst naturalistisch werden läßt, ist die von keiner konventionellen Rücksicht befangene, unverfrorene Darstellung sittlicher Zustände, in denen sich der Mensch wieder der Naturverfassung des Tieres nähert. Die naturalistische Kunstform klebt noch am naturalistischen Stoff. Die Bedeutung des jungen Werkes, welches von Tolstoi vielfach abhängig ist, liegt vor allem darin, daß es der Dichter wagte, unpolierte und unarrangierte Wirklichkeit und zwar häßliche Wirklichkeit in einer gewissen Kunstform auf die Bühne zu bringen. Als Arno Holz, der auch die Titeländerung durchgesetzt haben will, das Stück las, erklärte er es von seinem Standpunkt aus »für das beste Drama, das je in deutscher Sprache geschrieben sei«. Später dachte er nicht mehr so enthusiastisch davon, sondern beklagte das Vorhandensein einer Tendenz.

Lag während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der Wert des französischen Dramas in der Gesellschaftssatire, so lag der Wert des deutschen Dramas im Volksstück. Was wir mit höherm Stolz all den Scribe und Feuillet, Augier, Dumas und Sardou entgegenstellen, das liegt in jenem Bereich des deutschen Volkes, wo Hebbel seine Maria Magdalene, Otto Ludwig seinen Erbförster, Anzengruber seine Bauernkomödien fand. Dort hat auch der junge Gerhart Hauptmann sein erstes soziales Drama gefunden. Wie Anzengruber übte auch er eine mundartliche Sprache. Wie Ludwig schildert auch er den Niedergang einer ländlichen Familie. Wie Hebbel zeigt auch er das tragische Schicksal eines verratenen Weibes aus dem Volk. Und doch hat ihn keiner seiner Vorgänger beeinflußt.

Er verlegt den Schauplatz der Handlung in die Gegend, die er von Kindesbeinen an kennt. Freilich sagt er Jauer statt Waidenburg, Witzdorf statt Weißstein. Seine Landleute reden die schlesische Mundart. Ihr Schicksal steht im engsten Zusammenhange mit den besondern sozialen Verhältnissen jener Gegend. Ein Bauernhof, auf dem man von Austern und Hummern lebt und seinen Durst in Champagner (nicht mal in Grüneberger Champagner) löscht, wo Kühe und Pferde aus marmornen Krippen und neusilbernen Raufen fressen, während das Gesinde darbt und sich rackert, kommt in all seinen Zuständen und Gestalten zur lebendigsten Anschauung. In einer solchen Bauernfamilie ist der Vater ein wüster Trunkenbold, der sein Laster nicht bloß auf die älteste Tochter, sondern sogar auf deren dreijähriges Söhnchen vererbt hat. Sein Schwiegersohn ist ein eitler, unreeller Wicht, der trotz aussaugerischen Manipulationen das angeheiratete Geld über kurz oder lang verspekuliert haben wird. Die jüngere Tochter hat herrnhutische Erziehung genossen, und dadurch ist ihr gutes ehrliches Wesen in einen konfliktreichen Zwiespalt geraten, an dem sie, fremd im Vaterhaus, zugrunde geht. Die Stiefmutter ist ein rohes Weib, dessen abgeschmackter Eitelkeit eine städtische Tartüffin fröhnt, dessen Wollust ein junger dummdreister Vetter vom Nachbarhof befriedigt, während der Hausvater bis vor Sonnenaufgang hinter dem Schnapse vertiert.

Man wird es dem jungen idealistischen Volksbeglücker, der zum Studium der sozialen Verhältnisse in jenen Kohlenbezirk kommt, nicht verargen, wenn er alsbald wieder seine Schritte wendet. Aber er nimmt das Lebensglück der Bauerntochter mit, die an den verstiegenen Prinzipienreiter ihr junges Herz verlor, das in allem Schmutz und, was mehr sagen will, bei gründlichster Einsicht in die unsaubersten Dinge keusch geblieben ist. Er war im Handumdrehen ihr heimlich Verlobter geworden und dachte mit dem frischen und gesunden Mädchen seinen erbkräftigen Stamm fortzupflanzen. Da erfährt er, der prinzipielle Mäßigkeitsapostel, der angehende Rassenhygieniker, daß sie aus einer Potatorenfamilie stammt und macht sich verstohlen davon. Man erfährt nicht recht, wie tief ihn der Verzicht auf diese Liebe innerlich berührt. Das Mädchen aber ersticht sich. Sie ist die eigentliche Heldin dieser Dorftragödie, denn sie steht geistig und seelisch über Verhältnissen, von denen sie physisch nicht los kann. Es ist ausgezeichnet, wie sie mit ihrer Einschränkung ringt, wie sie unter der geilen Trunksucht des Vaters, unter der Roheit der Stiefmutter, unter der lüsternen Lafferei des Schwagers, unter der Rüdigkeit eines aufgezwungenen Freiers leidet, ohne doch zu verleugnen, daß sie von Natur zu diesen Leuten gehört. Erst als der Mann ihrer Liebe kommt, gehen ihr die letzten Lichter über alles auf, und diese Erkenntnis schlägt sie zu Boden.

Die Fülle der Personen teilt sich in zwei Kategorien, in die Eingebornen und in die Zugewanderten, in diejenigen, die in ihrem Urzustände mehr oder minder vegetieren, und in diejenigen, die diesem Zustand mehr oder minder fremd gegenüberstehen. Jene bringen das naive, diese das reflektierende Element in die Tragödie hinein. Zu jenen zählt der Bauer, die Bäuerin, deren Liebhaber, zählen Knechte und Mägde. Zu diesen gehören vor allem drei junge Männer: der Ingenieur Hoffmann, der Arzt Schimmelpfennig und der Nationalökonom Alfred Loth. Hoffmann und Schimmelpfennig sind Loths Jugendbekannte. Durch einen theatralischen Zufall treffen sich alle in jenem Kohlenwinkel. Der Dichter hat die Modelle aus seiner eignen Jugendbekanntschaft hergeholt, aber in jedem der drei steckt etwas vom alten französischen Raisonneur, der die Dinge um sich her betrachtet und beurteilt, ohne persönlich stark dran beteiligt zu sein. Am fernsten steht der Handlung Doktor Schimmelpfennig. Er hat die Aufgabe, dem Freunde die potatorischen Familienverhältnisse klar zu machen und bringt ihn so zu dem harten Entschluß, sein eben erst eingegangenes Verlöbnis zu brechen. Das entwickelt sich in einer meisterhaft geführten Szene des letzten Aktes, während Schimmelpfennig, zur Geburtshilfe bereit, im Hause weilt. Er ist ein gutherziger Mensch ohne Vorurteile, mit einer bewegten Vergangenheit, der nun hier ist, um unter den Millionenbauern genug Geld zu erwerben, damit er mal seiner Idee leben kann. Diese Idee ist die Lösung der Frauenfrage. Als Gegner der Ehe will er die Frauen selbständig und den Männern gleichberechtigt machen. Aber über das Wie ist er sich noch nicht klar. Einflüsse des Bebelschen Buches über die Frau wirken hier neben Ibsen mit. Praktisch verwendet Schimmelpfennig seine Feindschaft gegen die Ehe dazu, den Freund von der Geliebten zu trennen. Er wird damit einer jener Dämonen, die aus Prinzip das Gute wollen und das Böse schaffen. Sein Prinzip befruchtet hier das Prinzip Loths, das Prinzip der Rassenzüchtung durch Abstinenz. Diese Prinzipien spuken gelegentlich sehr fleisch- und blutlos in ihrer dürren Blöße umher. Daneben aber steht doch in Schimmelpfennig eine ausgeprägte Menschengestalt vor uns, die freilich mit einem Fuß weit außerhalb des Dramas tritt. Der Dichter, wie es auch sonst seine Art ist, hat ihm vom Modell her allerlei Züge beigelegt, die dann für das Stück selbst nicht verwertet sind.

Weniger glaubwürdig erscheint die wichtigere Figur Alfred Loths. Gegen ihn sind auch von Freunden des Stücks Bedenken erhoben worden. Der Dichter selbst hat einmal lächelnd gesagt, man habe ihm seinen Loth so oft zu verleiden gesucht, daß er selbst nicht mehr recht an ihn glauben wolle. Man hat diesen Loth sogar mit dem Dichter identifizieren wollen; den Haß gegen Alkohol hatten zwar beide damals gemein, und Loths Verliebtheit mag der Dichter aus dem eignen Herzensleben geschöpft haben. Aber ein Selbstporträt ist Loth nicht. Er stellt nur den Einfluß dar, den ein volkspädagogischer Studienfreund auf den Dichter auszuüben suchte. Wenn Loth die Leiden des jungen Werthers für ein dummes Buch erklärt, wenn er Dahns »Kampf um Rom« seiner Schönfärberei halber über Zola und Ibsen stellt, wenn er von der Kunst nicht das Seiende, sondern das Seinsollende verlangt, so sind das niemals Gerhart Hauptmanns eigne Ansichten gewesen. Es sind nur Punkte, über die er in Jena oder Zürich mit unkünstlerischen Freunden heftig wird gestritten haben. Auch daß Loth aus seinem Prinzip die grausamste Folgerung zieht, hat der Dichter nirgend entschuldigt oder gar gerechtfertigt. Der Dichter ist ganz anders als sein Held.

Aber der Dichter hätte tiefer und klarer motivieren können. Loth verläßt sein Lenchen, wie Faust sein Gretchen und so mancher andere sein Mädchen verlassen hat. Loth verläßt sie nach einer jungen warmen Liebschaft von kaum zwölf Stunden. Auch das soll oft genug vorkommen. Man kann dazu mit Mephisto sagen: »Sie ist die Erste nicht!« Und man kann dazu mit dem reumütigen Faust sagen: »Jammer, Jammer, von keiner Menschenseele zu fassen!« Ein solches rasch gefügtes, rasch gelöstes Verhältnis pflegt von Mann und Mädchen verschieden gefaßt und gefühlt zu werden. An Loth und Helene offenbart sich der Unterschied von Verliebtheit und Liebe. Loth ist bis über die Ohren in das reizende, sinnige Geschöpf an seiner Seite verliebt; ihn entzückt nicht bloß ihr Wesen, sondern auch die Erscheinung; aber das weicht, als ihm das holde Kind plötzlich im Schatten einer Familie erscheint, deren Eigentümlichkeiten gerade ihm das Widerwärtigste und Abscheulichste sein mußten. Er rührt an den Stengel einer schönen Blume, sie zu pflücken, zieht aber sofort die Hand weg, sobald er merkt, daß der Sumpf, aus dem sie wuchs, die Hand beschmutzt. Für Helene dagegen ist die Liebe zum Manne nicht bloß ein Sinnenreiz; sie ist ihr Rettung aus Not, Erlösung vom Übel, Freiheit, Licht, Luft. Für ihn ist diese liebliche Begegnung ein Erlebnis, für Helene ist sie das Leben. Es gehört zu den menschlichsten Irrtümern, nach dem Grade des eignen Empfindens den Grad des Empfindens anderer zu messen. Loth redet sichs ein, daß der Seufzer des Scheidens und Meidens bei Helenen nicht tiefer geht als bei ihm selbst. Wenn er am nächsten Morgen vom Doktor Schimmelpfennig, in dessen Haus er geflüchtet ist, erfahren wird, Helene habe sich den Hirschfänger durchs Herz gerannt, so wird sein Gewissen für sein Unrecht zu büßen haben. Auch ihn wird Faustens Reue überkommen: »Von keiner Menschenseele zu fassen, daß mehr als Ein Geschöpf in die Tiefe dieses Elends versank!« Loths Treubruch hat auf den Zuschauer um so überraschender und empörender gewirkt, als gerade dieser hübsche, freundlich blickende, blau- und strahläugige, blondbärtige germanische Mensch durch eine Liebesszene vom Dichter in das anmutigste Licht gestellt worden war.

Diese Liebesszene, die fast den ganzen vierten Akt füllt, ist Gegenstand besonderer Streitigkeiten geworden. Bei der Vorstellung im Theater hat sie entzückt, ergriffen, hingerissen. Aber die Vorurteile, die damals im flotten Schwange waren, rieben sich auch an ihr. Man konnte sich über sie nicht, wie über so manches andere im Stück, sittlich entrüsten. Daher versuchte man, sich über sie lustig zu machen. Ich höre noch das blöde Lachen, womit bei der ersten Aufführung Skandalmacher den holden Frieden dieses Idylls stören wollten, und wie sie von der Mehrheit der innerlich beteiligten Zuhörer energisch zur Ruhe verwiesen wurden. Jemand nannte dann die Szene mit einem Lieblingsworte Theodor Fontanes »dalbrig« und ahnte nicht, daß er diesem Liebesgestammel damit ein Anerkenntnis süßer Wahrheit machte. Andere warfen dem »konsequenten Naturalisten« Inkonsequenz vor und vermeinten, diese Szene sei viel zu poetisch, um naturalistisch sein zu können. Diesen Mißverständigen hat der Dichter einmal das Scherzwort erwidert: »Kann ich dafür, daß die Natur auch schön ist?«

Mit Bewußtsein hat Gerhart Hauptmann dem Stoff seinen Stil gegeben. Er hat ihn scharf und bestimmt in einer so lebendigen Charakteristik der Personen ausgeprägt, wie wir dies im deutschen Drama nicht gewohnt waren. Mag diese Charakteristik bei Loth anfechtbar sein, so steht sie, wie beim Doktor Schimmelpfennig, auch beim dritten der Eingewanderten, beim Ingenieur Hoffmann über allem Zweifel. Bei allen Dreien ist neben lebendigen Vorbildern ein Einfluß der »Wildente« von Henrik Ibsen nicht zu verkennen: Loth, Hoffmann und Doktor Schimmelpfennig stehen ungefähr so zueinander, wie Gregers Werle, Hjalmar Ekdal und Doktor Relling. Bei Hoffmann aber hat sich das Hjalmarisch-Allzumenschliche zur bewußten und berechneten Gemeinheit der Gesinnung kristallisiert. Er ist mehr als der traurige Zwitter, für den ihn Schimmelpfennig hält. Er ist, ganz diesseits von Gut und Böse gesprochen, ein Gesinnungslump, dem die beiden andern, besonders Loth, etwas gesinnungsprotzig gegenüberstehen. Hoffmann ist einer jener Schmarotzer, die ohne viel Kraft, Mut und Fleiß erklecklich im Trüben zu fischen verstehen und gerade von dieser Beschäftigung aus zu Repräsentanten des sogenannten gesunden Menschenverstandes werden.

Loth und seine beiden Jugendfreunde sind nicht die einzigen, die ins Kohlendorf zuwanderten, um eine schwerflüssige Masse, jeder nach seiner Alt, in Bewegung zu bringen. Es ist auch noch ein Berliner Kellner da, der sich als Kammerdiener verdungen hat und auf den schönen Namen Eduard hört. Es ist ferner die liebedienerische, zwischenträgerische Frau Spiller da. Zwei köstliche, mit wenig Strichen lebenskräftig gezeichnete dienstbare Geister, von denen Er sich redlicher, Sie sich unredlicher vom Überflüsse derer nährt, die hier heimisch sind. Aber auch unter den Einheimischen klafft ein starker Gegensatz. Es ist der schreiende Gegensatz von Reich und Arm. Neben dem schlemmenden Bauernpöbel die darbenden, geplackten Arbeiter. Einer, ein Greis, der Vater Beibst, hat sich philosophisch mit seinen Schicksalsschlägen fast abgefunden und für seine alten Tage als Andenken nur eine Brummigkeit zurückbehalten und eine Art versteinerten Grolls. Aber in den jungen Gutsdirnen kocht noch wild das Blut. Und von allen der unglücklich-glücklichste ist Hopslabär, der Dorftrottel, eine Figur, die an Falstaffs Aufgebot heranreicht.

Es sind nur landwirtschaftliche Arbeiter, die im Stück auftreten. Die Bergleute, die schwarzen, rußigen Gestalten, die der Dichter während seiner Kinderzeit rings um den Heimatort in dunklen Massen auf allen Wegen traf, zeigt er nicht im Stück. Wie ein tiefes, finstres Verhängnis durchwühlen und durchlockern sie das Erdreich. Denen Schätze grabend, die zugleich durch dieses Grubenwerk auf ihrem Grund und Boden wankend werden. Auch ohne daß der Dichter einen Repräsentanten dieses Maulwurfsgeschäfts erscheinen läßt, fühlt man die düstre soziale Macht und ihre unterirdische Massenarbeit.

Zwischen den Einheimischen und Zugewanderten schwebt das lieblich lebendige Bild Helenens, die von sich schon hätte sagen können, was nachmals Rautendelein, die Elfe, empfinden lernt: »Fremd und daheim«. Sie fühlt sich als die Tochter des Trunkenbolds, der viehisch an ihren Leib tastet, und sie fühlt sich auch als die berufene Gefährtin des idealistischen Kämpfers für eine physische Adlung der Menschheit. An diesem Zwiespalt geht sie zugrunde; ein tragisches Schicksal, gegen dessen Fügung Aristoteles kaum etwas einzuwenden gehabt hätte.

Auch gegen die Komposition des Dramas könnte Aristoteles kaum Einwände erheben. Die Einheit des Orts und der Zeit ist streng gewahrt. In einem einzigen Zimmer des Wohnhauses und auf dem Hofraum davor trägt sich während der Zeit von einer Nacht zur andern, ohne technische Zwangsmaßregel, ohne Monologe, Beiseites und ähnliche unrealistische Eselsbrücken der Theaterspielerei mit einer fast nachtwandlerischen Bühnensicherheit die ganze Begebenheit zu. Noch nie zuvor ist auf natürlichere Art ein in sich geschlossener Vorgang auf die Bühne gebracht worden, ohne daß die Gesetze des Lebens irgendwie verletzt wären. Wo aber Gesetze der Kunst verletzt worden sind, da handelt sichs stets um leicht vertilgbare, überschüssige Einzelheiten. Wenn mitten in einer meisterhaften, höchst lebendigen und abwechslungsreichen, vollkommen dramatischen Tischszene plötzlich eine lehrhafte Abhandlung, sogar mit genauen statistischen Daten, vorgetragen wird, wenn in einem Augenblick der Spannung zwei an der Spannung zumeist beteiligte Personen einander allerlei Unglücksfälle fremder Leute erzählen, so sind das nur Beweise dafür, wieviel mehr Interesse der junge Dichter an seinem Stoff nahm, als an der Ausgestaltung dieses Stoffes. Aber um so bewunderungswürdiger ist es, daß daraus doch ein künstlerisches Ganze entstand.

Im Publikum der ersten Vorstellung sind Vielzuviele dem Beispiel des Dichters gefolgt. Auch sie sahen mehr auf den Stoff als auf die künstlerische Gestaltung. So kam das Werk zu seinem sonderbaren Schicksal. Als es im Hochsommer 1889 fertig war, erschien »Vor Sonnenaufgang« in C. F. Conrads Buchhandlung zu Berlin. In der Zueignung, die aus Erkner vom 8. Juli datiert ist, dankt der Dichter den Verfassern des »Papa Hamlet« für die »entscheidende Anregung«, die er durch dieses Buch des »konsequentesten Realismus« erhalten habe. Als Hauptmann es unterließ, mit Holz zusammen an die Arbeit zu gehen, wollte er seine tiefen Eindrücke von »Papa Hamlet« wenigstens in einer öffentlichen Anzeige des Buches kundgeben. Das Bücherbesprechen ist aber seine Sache nicht. Nur drei oder viermal hat er sich 1887 in den Akademischen Blättern an diesem Metier versucht. So rettete er Dank und »freudige Anerkennung« in jene Widmungszeilen.

Als das schlecht und auf schlechtem Papier gedruckte Büchlein erschienen war, sandte der Verleger, Herr Ackermann, ein Exemplar an den damals siebzigjährigen Theodor Fontane, der zwei Jahre vorher durch seinen lebenswahren Meisterroman »Irrungen Wirrungen« bei Schöngeistern und Philistern so manches drollige Ärgernis erregt hatte. In seiner höflich graziösen Art antwortete der alte Herr alsbald mit einem Dankschreiben an den Verleger. Aber dieser Brief, der nicht wieder gefunden ist, war mehr als bloße Artigkeit. Fontane beglückwünschte den Verleger, ein so bedeutendes Werk ediert zu haben. Er nannte dieses Werk »die Erfüllung Ibsens« und sprach den Wunsch aus, es aufgeführt zu sehen. Er erklärte sich bereit, es der »Freien Bühne«, die eben damals ins Leben trat, dringlich anzuempfehlen. Dieser Brief machte auf Gerhart Hauptmann und alle, die ihm nah standen, einen ergreifenden Eindruck. Gerhart war 27 Jahr alt geworden. Es war das dritte Söhnchen gekommen. Eltern, Geschwister, Frau Marie, nicht am wenigsten er selbst, waren voller Erwartung. Aber die Jugendjahre verstrichen, und das reiche innere Leben suchte noch immer den rechten Ausdruck, zerrieb sich in wechselnden Plänen. Nun kam ein Etwas, vor dem die Tanten und entfernten Verwandten baß erschrecken mußten. Man denke nur, wie sich die alten Vockerats über das Drama »Vor Sonnenaufgang« äußern würden! Noch schlimmer als damals große Berliner Zeitungen. Fest zur Sache des jungen Dichters hielten die Getreuen, die das Werk schon vor dem Druck kannten: Bölsche, Wille, die Geschwister Carl und Martha, die Gattin. Als Bruder Carl das erste Exemplar der Buchausgabe mit dankbaren Widmungsworten ins Manöver nachgeschickt erhielt, telegraphierte er dem Dichter neckend-ernsthaft zurück: »Tausend Freuden über Deinen ersten Schritt in die Unsterblichkeit«. So fühlten die Nächsten. Nun aber kam ganz von außen her unerwartet eine Bestätigung dieser Freundeszuversicht. Und diese Bestätigung kam von einer Seite, die ehrwürdiger und ehrender, sachkundiger und zuverlässiger nicht sein konnte.

Fontanes Brief hatte wohl die nächste praktische Folge, daß der Dichter Anfang September an den Vorsitzenden des Vereins »Freie Bühne,« Otto Brahm, ein Exemplar des Dramas sandte, begleitet von einem kurzen Schreiben, woraus den Empfänger, »trotz seinen wenigen Zeilen eine Persönlichkeit anzusprechen schien«. Zur selben Frühlingszeit wie dieses Drama war dieser Verein entstanden. Während draußen im Kiefernwald von Erkner der Dichter den Freunden das Stück vorlas, hockte drinnen in einem Wirtshause Berlins ein ganz anderer Kreis von Literaturbeflissenen nicht sehr einträchtig beisammen, beriet die Vereinssatzungen, wählte einen Vorstand, entwarf einen Aufruf. Hüben und drüben wußte man nichts voneinander. Es vergingen Wochen, bevor man voneinander erfuhr. Wie Bölsche schon damals in einer biographischen Skizze richtig hervorhob, kamen die Begründer der Freien Bühne aus einer ganz andern Ecke des ästhetischen Kriegsschauplatzes als der Dichter der schlesischen Bauerntragödie. Im lockeren Zusammenhang zu beiden Gruppen standen höchstens die Brüder Hart, die dem Dichter ihre kräftige Anerkennung nicht vorenthielten. Erst diese Tragödie führte beide Gruppen fester zusammen.

Als Brahm das Stück las, hatte er Fontanes Empfehlung noch nicht erhalten. Er war bald entschieden, das Stück aufzuführen. Erst nachdem dieser Beschluß endgültig gefaßt war, erfuhr er zu seiner Freude, daß damit zugleich ein Wunsch seines alten Gönners und Freundes erfüllt werden sollte. In der Tat wäre die Freie Bühne ohne Daseinsrecht gewesen, wenn sie, nach den damals noch verbotenen »Gespenstern« Ibsens, nicht vor allen andern Stücken dieses verheißungsvolle Erstlingsdrama eines jungen unbekannten Deutschen dem Publikum und nicht am wenigsten dem Verfasser selbst vorgestellt hätte.

Schon durch die Aufführung der »Gespenster« am 30. September war die Freie Bühne in den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses getreten. Schon die Wahl der »Gespenster« hatte erhitzte Anhänger und Gegner geschaffen. Begierig fragte man in beiden Lagern: was wird das Nächste sein? Dieses Nächste lag im Buchhandel vor. Jedermann konnte das Stück vorher lesen. Je mehr davon bekannt ward, desto mehr ward es gelesen. Das allgemeine Urteil ließe sich in einen Satz zusammenfassen, den Hauptmann selbst zwei Jahre früher mit mehr Recht auf Hermann Conradis »Lieder eines Sünders« bezogen hatte, und in welchem er von einer gewissen »Überkraft« des Dichters spricht, »einer wüsten Zügellosigkeit seiner Phantasie, die sich mitunter in Roheiten verliere, deren oft nicht einmal witzige Brutalität künstlerische Wirkungen nicht aufkommen lasse.« Schon lang vor der Aufführung stritt man bei allen Bier- und Kaffeetischen nicht so sehr über den Wert des Stücks als über seine Aufführbarkeit. Sollte man wirklich die Dreistigkeit haben, derartige Szenen, wie sie hier ein Anfänger wagte, auf eine noch so freie Bühne zu bringen? Was kam nicht alles an Greueln in den fünf Akten vor! Im ersten Akt ging es noch! Da sollten wir bloß zur Enthaltsamkeit bekehrt werden, damit unser Nachwuchs kräftig werde. Jedoch schon im zweiten Akt: ein betrunkener Bauer vergreift sich auf offener Szene an seiner eigenen Tochter, und der Verlobte dieses Mädchens schleicht vor Tagesgrauen unvollständig bekleidet aus der Schlafstube ihrer Stiefmama. Im dritten Akt will der Mann einer Wöchnerin seine junge Schwägerin kirren, und wir erfahren, daß die Wöchnerin samt ihrem Söhnchen durch Vererbung dem Trunk ergeben ist. Im vierten Akt macht ein Kretin Luftsprünge. Und nun gar im fünften! Da hört man aus der Nebenstube das Wimmern einer Gebärenden! Und das alles sollte auf die Bühne? Wenn das geschah, dabei sein mußt' ein jeder. Aber jeder mußte auch seine gehörige Tracht sittlicher Entrüstung und ästhetischer Empörung mitbringen. Zugleich suchte man durch anonyme Droh- und Warnbriefe die mutigen Schauspieler, vor allem die treffliche Else Lehmann, einzuängstigen. Während dieser Vorbereitungszeit machte auch ich die persönliche Bekanntschaft Hauptmanns, von dem ich bis zum September 1889 höchstens den Namen gehört hatte. Er war damals von einer scheuen Schweigsamkeit durchdrungen. Die Worte lösten sich nur schwer von der Zunge. Auf jeder Probe wurden mit Zustimmung des Dichters Längen beseitigt und die gewagtesten Kraßheiten gemildert, ohne daß der Grundcharakter des Dramas und seiner »handelnden Menschen« dadurch beeinträchtigt war. So konnte es geschehen, daß die Wöchnerin überhaupt nicht gewimmert hatte, als im Parkett das Sinnbild der Empörung, eine Geburtszange, durch die sengende Luft des Lessingtheaters geschwungen wurde.

Diese Aktion in der Aktion war der Höhepunkt wilder und wüster Lärmszenen. Denn zu einer Ablehnung des Stückes kam es nicht. An den Protesten der Gegner erwärmte und erhitzte sich der Beifall derer, die in diesem neuen Werk Jugend, Kraft, Mut und eine große dichterische Gabe begrüßten. Diese Freunde tobten schließlich ebenso wild wie die Gegenpartei. Und nach den Aktschlüssen auf der Bühne mußte der junge Dichter dem tollsten Hexensabbath standhalten.

Damals sah auch Theodor Fontane seinen Protégé zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht, und er schrieb der Vossischen Zeitung über diesen persönlichen Eindruck: »Statt eines bärtigen, gebräunten, breitschulterigen Mannes mit Schlapphut und Jägerschem Klapprock erschien ein schlank aufgeschossener, junger, blonder Herr von untadeligstem Rockschnitt und untadeligsten Manieren, verbeugte sich mit einer graziösen Anspruchslosigkeit, der wohl auch die meisten seiner Gegner nicht widerstanden haben. Einige freilich werden aus dieser Erscheinung, indem sie sie für höllische Täuschung ausgeben, neue Waffen gegen ihn entnehmen und sich gern entsinnen, daß der verstorbene Geheime Medizinalrat Casper sein berühmtes Buch über seine Physikats- und gerichtsärztlichen Erfahrungen mit den Worten anfing: Meine Mörder sahen alle aus wie junge Mädchen.« Fontane hat den »Mörder« mit ungeschwächter Teilnahme, wenn auch nicht immer mit gleicher Zustimmung (für Hanneles Himmelfahrt empfand er zu berlinisch-rationalistisch) bis an die »Versunkene Glocke« begleitet, also bis er starb. Kurz vorher hatten wir mit Gerhart Hauptmann an des Alten Tische noch einmal feinstens gespeist, getrunken und geplaudert. Die erste Vorstellung der »Versunkenen Glocke« stand unmittelbar bevor. Da apostrophierte er seinen Gast in huldigender Parodie durch den Vortrag seines im Texte leicht geänderten Jakobitenliedes:

Sie ließen Weib und Kind zurück
Wohlan, so tun auch wir.
Wir baun auf Gott und gutes Glück
Und auf den Kavalier;
      O Charlie ist mein Liebling,
      Mein Liebling, mein Liebling,
      O Charlie ist mein Liebling,
      Der junge Kavalier.

Wenn Hauptmann literarisch bewanderter gewesen wäre, so hätte er sich sagen müssen, daß, seitdem es ein Theater gibt, nur ganz wenige Dramatiker in einer so kriegerischen Situation die Feuertaufe empfangen haben. Dieses Toben der Menge konnte seiner Zukunft bloß zwei Wege weisen. Brüllte man ihm dort unten zum Sieg oder zum Untergang? Ein dritter Weg, die talmine Mittelstraße war nicht mehr zu gehen. Sieg oder Untergang! Diese Frage stand auch in zwei großen dunklen Augen, deren prüfender Blick aus der Loge heraus klug und gespannt bald auf die Bühne bald in den Kampf und Streit spähte. Das Haupt der jungen Frau hob sich seitwärts. Ihre Seele schien ruhig. Sie sah Sieg. Sie sah den Weg zum Ruhm. Einen Weg auf dem es nicht leicht ist, Hand in Hand zu bleiben.

Der junge Gatte dieser stillen Frau trug sein Schicksal getrost. Vielleicht war es Glück für ihn, daß er Stimmungen, in die ihn sonst diese Hetze hätte treiben können, bereits vorher durchlebt und, wie es scheint, überwunden hatte. Stellen im »Promethidenlos« deuten darauf hin. Schon damals war er auf Streit gefaßt gewesen:

Beim Saitenspiele muß die Waffe blitzen,
Und weh dem Sänger, der den Frieden singt!
Auf seinem Schilde muß die Wahrheit sitzen,
Die er im Kampfe selbst dem Feinde bringt.

Er wußte schon vorher, wie weit der Weg, auf den ihn das Mitleid mit dem Elende der Welt sendet, vom Wege der Menge entfernt ist, die im Theater vor allem das sucht, was sie Vergnügen nennt.

Er martert sieht und wälzt in trüben Qualen
Sich hin und her und fragt zu tausend Malen:
Ob er denn wirklich solch ein Unhold wäre,
Der nur der Menschen stillen Frieden störe.
Und wies zu Ende geht, da wills ihn dünken,
Als sei er wert, im Meere zu versinken.

Nach dem 20. Oktober 1889 hatte Gerhart Hauptmann kein solch verzweifeltes Bedenken mehr. Aus allem Zank und Lärm zog sich der »Friedenstörer« hinter eine neue Arbeit zurück, die er »Das Friedensfest« nannte.


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