Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI

Heimkehr

Der große Erfolg, der rasche Ruhm wirkt auf einen Dichter, dem alles Erlebnis nahe geht, erschütternd. Gerhart Hauptmann war von Freund und Feind als »konsequenter Naturalist« eingeschrieben. Mit dieser Marke galt er hier als Vernichter, dort als Erlöser. Und doch errang er seinen Weltsieg erst durch Abkehr vom konsequenten Naturalismus. So fand er in sich selbst ein künstlerisches Problem. Er durfte sich nicht auf ein Prinzip festlegen; er konnte aber auch nicht sein Naturell verleugnen. So geht er seitdem als Schätzegräber bald in die Ferne, bald kehrt er wieder heim.

»Gott grüß die Kunst«, rief Florian Geyer zu Zeiten des Bildersturms. Nun trat vor Hauptmanns selbstprüfender Phantasie Gottes Engel an einen »armen Künstler« heran, der arbeitmüde und untätig darniederliegt. Vor Hanneles Bett stand der Todesengel. Vor dem Lager des »armen Künstlers« steht der Engel seines Lebens. Er will ihn in die »Heimat« führen. Das Wort Heimat wirkt auf den »armen Künstler« wie Alltäglichkeit, Niedrigkeit, Gemeinheit; deshalb lästert er Gott: »Das Brot, das in dem Kot der Straße liegt, ist mir zum Ekel. Bücke sich, wer will, es aufzuheben. Weiß mir Gott im Himmel nicht reinere Speise, meid ich seinen Tisch ... Wo hat ihm einer treu wie ich gedient? Ich hab ihm rein bewahrt die reine Flamme, warum versagt er mir das heilige Öl? Mit Talg von Schweinen mag ich sie nicht nähren.«

Schweinetalg oder ähnliche dem Schweinernen entnommene Vergleiche hatte Hauptmann über sein frühstes Drama und auch über die »Weber«, ja sogar über »Hannele« genug zu hören bekommen. Wollte nun dem Dichter der »Versunkenen Glocke« selbst vor den Konsequenzen seines Naturalismus bange werden? Sein »armer Künstler« sieht mit Grauen diesen »Heimweg« vor sich: »Durch abgelegne Gassen muß ich schleichen, in Keller kriechen, die nach Fusel duften, muß Speise schlingen, die mich ekelt, muß Gestank, verdorbne Dünste in mich atmen. Dort, wo die Pest des Lasters ewig frißt, Verworfenheit Gott schändet, wo der Mensch, ein viehisch Zerrbild, sich im Schlamme wälzt, ist meine Wohnung: dorthin führt mein Weg.«

Solch ein Jammer schrie schon einmal aus dem »Promethidenlos«. Den »armen Künstler« fesselt ein Idealwerk, aber es will ihm nicht glücken. Er sucht es nicht in der Scheußlichkeit des Realen und Gegenwärtigen; er malt an einem Bild aus legendarischer Nomadenzeit: Rahel am Brunnen. Da lacht ihn sein guter Engel aus: »Armer, armer Mann! Wie willst du malen, was du nie gesehn?« Und nun führt ihn dieser seraphische Realist ins biblische Hirtenland und realisiert ihm das Ideal, vergegenwärtigt ihm die Ferne. Rahels Anblick (»kein Füllen ist so wild und so gesund in Labans Herden«) gibt dem Ermatteten eine wahre Jakobskraft; er vermag den Stein vom Brunnen zu wälzen. Rahel heißt diesen starken Fremdling willkommen. Sie hält ihn für ihren Vetter Jakob selbst, den versprochnen Bräutigam. Nun hätte er auch Kraft genug, Rahel, die »wilde Blume«, zu malen, weil er sie sieht, weil er sie liebt. Aber weil er für sie Jakob wurde, so hört er auf, Maler zu sein, und wird auch für sich selbst Jakob. Der Künstler und sein Gegenstand werden Eins. Nur der Romeo in Shakespeare konnte Juliens Bild, nur der Werther in Goethe Lottens Gestalt schaffen.

Aus dieser Einswerdung von Kunstobjekt und Künstler, die der pantheistischen Einswerdung von Schöpfer und Schöpfung entspricht, die aber auch das künstlerische Schaffensgebiet über Erfahrung und Beobachtung hinaus in die Unendlichkeit der Phantasie steigert, hat Gerhart Hauptmann mitten im jungen Nachruhm der »Versunkenen Glocke« einen dramatischen Akt geschaffen, der an Tiefe und Größe beinahe die ganze »Versunkene Glocke« übertrifft. Es ist prachtvoll, wie hier jedes Wort eine Seele hat, jedes Wort nach innen und nach oben weist. Man möchte diesen einen Akt als Ganzes, Rundes, Abgeschlossenes anerkennen.

Aber es ist nur der erste Akt, richtiger nur der Prolog einer dramatischen Dichtung, die eigentlich erst im zweiten Akte beginnt. Sie heißt »Das Hirtenlied«. Jakob, in dessen Gestalt die des »armen Künstlers« verwandelt ist, steht mitten im Hirtenland bei Laban und Labans Töchtern. Laban stellt die bekannte schwere Bedingung: erst Lea, dann Rahel! Die ersten sieben Jahre sind um. Lea zehrt sich in Sehnsucht nach Jakob ab. Rahel – »die Kinder Gottes harren aus der Ferne, wenn sie vorübergeht, bis sie sich neigt, und Cherubime senken ihre Augen« – Rahel rechnet auf Jakob. Und es geht anders zu, als in der naiven mosaischen Legende. Lea und Laban werden sentimental. Lea, anstatt rücksichtslos den ihr bestimmten Mann ins erlaubte, lang ersehnte Ehebett zu ziehn, beklagt gutschwesterlich die »arme Rahel«, die auf ihr Glück noch sieben Jahre warten soll, und Laban gibt schließlich klein bei. Am Ende des zweiten Akts entscheidet er zu Gunsten Rahels. Es scheint, als hätte Lea das Nachsehen, als hätte sie sieben Jahre umsonst gewartet.

Hier stockte der Dichter. Der Künstler ließ Rahels Bild fallen. Hatte ihn sein guter Engel doch irregeführt? Der Dichter brach schroff ab, ließ ideale Ferne ideale Ferne, Mesopotamien Mesopotamien, das »Hirtenlied« »Hirtenlied« sein und kehrte trotzigen Laufschritts ins Haus seiner eignen Kindheit heim, nach der »Preußischen Krone« zu Salzbrunn in Schlesien. Sein guter Engel führte ihn doch in die »Heimat«. In dieser jähen Flucht nach Hause lag etwas wie Angst, den eignen Urboden unter den Füßen zu verlieren. Oder wollte er nur sich und andere überzeugen, daß er noch immer fest und stark auf seiner Vatererde stand? So wurde das »Hirtenlied«, das leider liegen geblieben ist, durch ein Meisterwerk ganz anderer Art verdrängt: durch »Fuhrmann Henschel«.

Quelle: projekt.gutenberg.de

Stofflich steht dieses Schauspiel neben den »Webern« und »Sonnenaufgang«. Aber als es mir der Dichter im Herbst 1898 in seiner damaligen Grunewaldvilla beim Abenddämmerschein wunderbar stimmungsvoll aus der Handschrift vorlas, als beim letzten Lichte des Septembertages durch Dichters Mund Fuhrmann Henschel mit dem Gespenst seiner toten Frau redete, überliefen uns zwei Hörende Schauer der Unterwelt. Man empfand, daß das große, gewaltige Schicksal, gepackt durch Dichterfaust, von Zeit und Art, von nah und fern, von alt und neu, von hoch und niedrig unabhängig ist. Man sah das zweite Gesicht dieses Dramas.

Für die Erlebnisse Henschels schwebte dem Dichter sein Elternhaus vor, da er noch Kind war. Er verlegt die Geschehnisse in einen schlesischen Badeort und in die sechziger Jahre, als noch keine Eisenbahn dorthin ging, als Fuhrleute noch auf ihre Kosten kamen. Er erwähnt die schlecht ausgenützte Heilquelle im Hof und die mißlichen Finanzen des Eigentümers, der dem einfachen Fuhrmann, seinem Mieter, verschuldet ist und deshalb ein um so willigerer Vertrauter seiner Seele wird. Das Stück kommt aus diesem Gasthofe nicht heraus; nur da ist das enge Zusammenrücken beteiligter Menschen möglich, aus dem die tragische Katastrophe entsteht. Im Souterrain die Stube des Fuhrmanns, der im Hof seine Ausspannung hat. An der Einfahrt die Schenkstube, wo bei Wermelskirch kleine Leute verkehren und den Nachbarentratsch schüren, wo das Ohr Galeottos lauscht. Als unbetretenes, nie zu betretendes höheres Gefild darüber die herrschaftlichen Zimmer und Säle des Hotels, aus denen herab zu Henschels Keller sorgsames Wohlwollen, aber auch – spaßhaft gestaltet – das Verhängnis dringt. Lust und Schmerz, Kampf und Hoffnung, Leben und Tod stehen unter einem Dach, von vier Mauern umschlossen.

So zusammengefaßt, wie äußerlich, ist das Drama auch innerlich. Wenn man der Poetik des Aristoteles jetzt noch so viel nachfragen wollte, wie zu Lessings Zeit, so ließe sich beweisen, daß »Fuhrmann Henschel« den aristotelischen Gesetzen in einem tieferen Sinne entspricht, als alle nach der Tabulatur konstruierten Trauerspiele deutscher Schulmeister. Auch beweist »Fuhrmann Henschel« wieder, daß eine große Dichtung ein gutes Theaterstück sein darf, welches sich überall durchsetzen kann. In Berlin schien der Erfolg von Darstellern wie Rittner und Else Lehmann abzuhängen. Aber in Wien mit Sonnenthal war der Erfolg nicht geringer.

Nie zuvor ließ uns der Dichter unmittelbarer in die Vorgänge selbst blicken. Wir erleben, wie Henschels erste Frau auf ihrem Sterbebett ihn und sich mit neurasthenischer Eifersucht quält; wie ihn gerade das auf den Gedanken bringt, die kräftige Magd zur zweiten Frau zu nehmen; wie ihn dieses brutale Weib mißhandelt; wie sie ihn betrügt; wie er es erfährt; wie in dem stillen, gütigen, schwerfälligen Träumer die Wut aufkocht, wie sich die Wut in Selbstanklage, in Gespensterfurcht, endlich in Selbstverurteilung umwandelt; eine ungeheure seelische Entwicklung! Aus dem Alltagstreiben des ganzen Hauses, belichtet von vielgestaltigen Humoren, zwischen Bettstatt, Trockenofen und Waschtrog, Biergläsern und Billardkugeln, unter zigeunerhaften, hausierenden, tölpischen Dutzendleuten steigt die Tragödie eines seelisch tiefen Menschen zartesten Gewissens in die ewige Nacht hinab. Starke dramatische Gegensätze prallen heftig aufeinander. Sogar die Faust spricht mit. Jeder im Stück trägt zum Ganzen nicht nur durch Gerede, sondern auch durch Handeln bei, und jeder ist eine Figur für sich, jeder für den Darsteller eine Fundgrube der Charakteristik. Mächtig steigt die äußere Aktion bis zur stürmischen Schlußszene des vierten Akts empor, dann folgt im Notturno des fünften Akts die schwere innere Lösung. In der Geisterstunde brütet Fuhrmann Henschel über seinem Schicksal, stellt die Schuldfrage und schafft Sühne. Er entlastet sein zweites, dirnenhaft brutales Weib. Mit seinem Gotte, der kein Gott des Erbarmens ist, wird er einig, daß er selbst die Schuld zu tragen habe. Denn er brach ein Gelübde. Seiner ersten Frau hatte er in die sterbende Hand geschworen, diese Hanne Schäl nie zu heiraten. Weil er es trotzdem getan hat, verfällt er dem Gericht Gottes und verurteilt sich selbst zum Tode. Sein Glaube wird zum Aberglauben durch sein Gewissen. Der redliche Mann hängt sich auf, als sei er jener Verbrecher aus Hanneles Traum.

In dieser Tragödie glaubt nicht der Dichter, sondern der »Held« an gerechten Ausgleich von Schuld und Sühne. Was für den Dichter Aberglaube wäre, ist für seinen verwirrten »Helden« Gottes Wille. Er fühlt sich als Gottes Geschöpf und vermag mit seinem irrenden Geist Gottes Gebot nicht zu erforschen. Gott hat es gewollt! Aber warum hat Gott es gewollt? Auf diese Frage findet er eine Antwort, die man philosophisch als Identität des Guten und Bösen bezeichnen könnte. Beides kommt von Gott, wie Gott es selbst ist, der den Satan auf seinen Knecht Hiob hetzt. Auch dem armen Henschel hat Gott eine teuflische Schlinge gelegt, und nun muß er sich selbst die Schlinge um den Hals legen. Gott hat ihm die Hanne Schäl ins Haus geschickt, und daran geht er zugrunde. Hanne Schäl aber, das satanische Kraftweib, bleibt leben. Wahrscheinlich wird sie die einzige sein, die als erbberechtigte Fuhrmannswitwe ihren Platz im Hause behauptet. Denn auch Herrn Siebenhaar, dem Hotelbesitzer, wird Haus und Hof verkauft, und mit der Komödiantenwirtschaft im Schank wird es bald vorbei sein. Bloß Hanne Schäl, die rotwangige Robustheit, hätte Zukunft und ein Leben, das ihr lebenswert erscheint. Man sieht: der Dichter steht nicht auf Henschels Schuld- und Sühnestandpunkt.

Die Stimmung, in der einst Hauptmanns Eltern ihr Erbgut verließen, klingt nur als Nebenton mit. Aber sie fügt sich zum Grundthema, denn auch sie verließen vor der Zeit das, was sie für ihre Welt gehalten hatten. Eine fremde Übermacht trieb sie aus dem kleinen Weltwinkel, von dem erst der dichtende Sohn mit seiner Phantasie wieder Besitz ergreifen sollte. Die guten Salzbrunner Pfahlbürger wollten ihm nichts zum fünfzigsten Geburtstag schenken, weil sie von ihm auch noch nichts gekriegt hätten. Und doch schenkte er ihnen keinen Geringern als den Fuhrmann Henschel zum Einwohner.

Weniger gern brauchten sich die paar Salzbrunner, die ihren Dichter vielleicht lesen, zwei so lausige Kerle wie »Schluck und Jau« als Landsleute gefallen zu lassen. Auch sie reden die Sprache des Fuhrmanns Henschel, aber sie sind betrunkene Bauern, wie sie Hauptmann als Kind auf Landstraßen im Salzbrunner Gebiet umherlungern und umhertorkeln sah. Früh empfand er dort den schroffsten sozialen Gegensatz, wenn an so verlumptem Gesindel gräfliche und fürstliche Karrossen in vollster Gala vorübersausten, wenn in den hochherrschaftlichen Wäldern das Hifthorn Halali blies, während Bettelvolk trockne Äste stahl. Jene Magnaten, die jetzt in Salzbrunn das stolze Hotelschloß erbaut haben, herrschen in ihren Revieren wie kleine Könige. Wohl und Weh der Landbevölkerung hängt von ihnen ab. Als Knabe konnte sie Hauptmann nur aus der Ferne, von unten betrachten; sie mögen seiner Kindesphantasie als begehrenswertes Blendwerk erschienen sein. Später sah er sie zwar auch noch von unten an, aber mit dem scharfen Auge sozialer Kritik im Interesse derer, die unten bleiben. Als er dann selbst in die Höhe stieg, als er mit »Hochgeborenen« wie mit seinesgleichen zu verkehren begann, als ihm die Lebensformen der Aristokratie einleuchteten, als er sich selbst in die Berge der Heimat hinein sein Schlößchen baute, da trat ihm der Gegensatz von Volk und Herrschaft in den Schein heitrer Phantasie. Für arme Weber hatte er gegen die großen Fabrikherren Partei genommen. Jetzt ist er tendenzlos. Auch das Soziale empfindet er ästhetisch. Es gibt ihm keinen tragischen Stoff mehr. Es erbittert ihn nicht mehr. Er empfindet den Humor des Kontrastes. Dieser stimmt ihn spielerisch übermütig. So entsteht ein »Spiel zu Scherz und Schimpf«. Zwar gräbt er auch diese beiden Tröpfe »Schluck und Jau« aus dem Dreck des heimischen Erdreichs und stellt sie mit alter naturalistischer Kraft auf festen Boden, wenn auch nicht auf feste Beine. Dann aber verpflanzt er ihre Lumpen und ihren Schnapsgestank mit einiger Anstrengung, als wollte er alle Grillen sozialen Mitgefühls gewaltsam wegtreiben, in literarisches Gefild.

Schon die Namen »Schluck« und »Jau« deuten an, daß sich in diesem Paar der Shakespearische Kesselflicker »Schlau« zwieselt; jener Trunkenbold, dem eingebildet wird, er sei ein Lord, und dem ein wirklicher Lord »die Zähmung der Widerspenstigen« vorstellt. Über Petrucchio und seinem Kätchen verlor Shakespeare das Interesse an Christof Schlau, dem Vorspiele fehlt daher das ergänzende Nachspiel. Spätere Dichter suchten das Versäumte nachzuholen, keiner bisher mit soviel Glück wie Ludwig Holberg in »Jeppe vom Berge«. Als altes Märchen geht der Scherz vom verwandelten Bauer durch die Weltliteratur. Hauptmann kannte ihn wohl nur aus Shakespeares kurzem Fragment, aber seine Arbeit wurde das Gegenteil eines Fragments. Shakespeares Lord nannte diesen Spaß »einen schön ausbündigen Zeitvertreib, wird er gehandhabt mit bescheidnem Maß«. Diese Mahnung schlug Hauptmann in den Wind. An der Ausführlichkeit, an ungezählten Wiederholungen, an einer Zersplitterung in fünf Abschnitte, die der Dichter mit Recht »Unterbrechungen« nennt, an einer Überfülle gespreizter Sätze, in denen sich die preziösere Art der Adelsgesellschaft widerspiegeln soll, verweht, verwelkt, verschaalt der derbe Ulk. Schon vor der ersten Aufführung beredete Otto Brahm den Dichter zu radikalen Kürzungen, aber sie waren falsch und nützten nichts. Keine Weglassung, höchstens eine Zusammendrängung getrennter Szenen könnte helfen. Von dem Momente, da sich der Scheinfürst Jau unter Fanfaren an die Festtafel setzt, bis zu dem Momente, da er in der Wut und Verblendung des Größenwahns morden will, darf kein Vorhang fallen. Nur so könnte sich in einem einzigen großen Zuge der Charakter des Bauern entwickeln, der die ihm aufgezwungene Fürstenhoheit eigenmächtig in eine Schreckensherrschaft steigert; beweisend, wie Plebs zum Terrorismus neigt.

Dieser jähe Übergang von Spiel zu Ernst ist der tiefere Sinn der Maskerade. Für den echten Fürsten liegt darin die Mahnung, daß mit Notdurft und Roheit des Volkes nicht zu spaßen ist. Der falsche Fürst kommt dadurch am ehsten wieder zu sich selbst und auf seinen Mist zurück. Bei Shakespeare fehlte noch das Lebensgefährliche der Mummerei. Holberg, der sein dänisches Bauernvolk kannte, deutet schon an, daß plötzliche, traumhafte Standeserhöhung den Charakter erniedrigt oder als niedrig entlarvt. Auch Jeppe vom Berge ist drauf und dran, in seiner eingebildeten Machtvollkommenheit alle zehn Gebote über den Haufen zu werfen. Holberg blieb aber im Stile der moralischen Komödie, der Komödie überhaupt.

»Schluck und Jau« hingegen verderben die gute Laune. Jau erregt mehr Furcht, Schluck mehr Mitleid, als ein Schwank vertragen kann. Aus dem Übermute des Dichters ließ sich das soziale Unterbewußtsein doch nicht wegdrängen. Und etwas säuerlich ist auch der Übermut der Hochgestellten, die mit dem Pöbel Schindluder treiben. Der ergrauende Fürst wird seiner undinenhaften Buhle, in deren Reizen ein blasser Schatten vom Rautendelein spukt, nicht ganz froh. Sein Freund, der eigentliche Spaßmacher, von des Gedankens Blässe angekränkelt, vergleicht die eigne windige Höflingsexistenz mit dem Knechtstand der geprellten Bauern.

Das niederländisch saftige Doppelbild Schluck und Jau steht, in einem breit überladnen und doch zerbrechlichen Rahmen, allerdings köstlich da. Schluck ist noch köstlicher als Jau. Es wird ihm nicht ganz so arg mitgespielt, wie dem Kumpan. Er wird sogar von schönen Mädchen abgeküßt. Er bleibt wenigstens er selbst und wechselt nur das Kleid. Jau glaubt etwas anderes zu sein, als er ist; Schluck glaubt nur etwas anderes spielen zu müssen, als er ist. Da er sich zu Jau verhält, wie Moll zu Dur, so ist sein feminines Schneiderseelchen wie geschaffen für die Rolle der Scheinfürstin, die bei Shakespeare ein junger Page spielt. Der junge Page wird sie mit natürlichem Anstand gespielt haben. Schluck spielt sie im Schweiße seines Angesichts mit allen »Kinstlichkeiten«, die er von herumziehenden Gauklern aufgegriffen hat. Und wie er in langen fürstlichen Gewändern seinen Scheingemahl kokett umäugelt und umtänzelt, da wendet sich Jaus Stierwut zuerst gegen ihn. Früher noch als der echte Fürst gerät der gute Kamerad in Lebensgefahr, und im Erbarmen mit ihm verlischt das Gelächter. »Schluck und Jau« hinterläßt keinen tragikomischen, höchstens einen komitragischen Eindruck. Der Rest ist Traurigkeit. Man denkt bei Schlucks behender »Kinstlichkeit« an Worte der Hippolyta im »Sommernachtstraum«: »Ich mag nicht gern Armseligkeit bedrückt, Ergebenheit im Dienst erliegen sehn.« Aber bei Schlucker dem Schneider und Zettel dem Weber empfindet man derlei nicht. Woran liegt das?

»Schluck und Jau« schlagen eine allzu groteske und doch zu wenig groteske Brücke von der Größe des »Fuhrmanns Henschel« zur Größe des »Michael Kramer«. Man möchte diese beiden Werke, diese beiden Nachtgestalten dicht beisammen haben. Sie gehören zueinander.

Wie »Fuhrmann Henschel« den Dichter in sein Vaterhaus, so führte ihn »Michael Kramer« in sein Studienhaus zurück. Wie College Crampton, ist auch Michael Kramer Lehrer an der königlichen Kunstschule in Breslau und steht wie Crampton im Gegensatze zu jener akademischen Verzopftheit, die einst von dort den jungen Kunstschüler weggetrieben hatte. Aber sonst hat Kramer mit Crampton nichts gemein, weder dessen Liebenswürdigkeit, noch dessen Lüderlichkeit, auch nicht seine Genialität.

Michael Kramer ist ein strenger, ernster, finstrer Mann der Pflicht und der Arbeit, der aber seinen Schülern die »Kleinbürgerseele« auszuklopfen verstand, wie keiner. In seinem Innern leuchtet die Flamme eines Ideals, aber seine Hand kommt nur mühsam nach. Jahre, Jahrzehnte vergehen, und sein Gemälde des Gekreuzigten, das »feierliche ruhige Christusbild«, will seiner Selbstkritik nie genügen. Er ist in der Lage jenes »armen Künstlers«, der sich in Jakob verwandelt. Er hat Christum nie gesehen, und doch möchte er mit ihm verschmelzen. So streng wie an die Kunst ist seine sittliche Forderung ans Leben. Er ist zugleich Künstler und Moralist. Sein hausbacknes, borniertes, quängliges Weib zu verlassen, kam ihm nie in den Sinn, denn Ehe und Familie gehörten in den Pflichtenkreis des Mannes. Gerade aus seiner Familie, die ihn niederdrückte, erhoffte er die Steigerung seiner Kunst, die künstlerische Äußerung seines Innenlebens. In seinen Kindern sollte die Kraft des Vaters wachsen. Aber Fleiß und Genie, die beiden Vorbedingungen dafür, sind ungleich verteilt. Der Sohn trägt den Vornamen des vergötterten Böcklin, die Tochter heißt nur nach dem Vater. Michaline hat Fleiß ohne Genie, Arnold Genie ohne Fleiß, ist also kein Böcklin. Die Tochter quält sich, der Sohn verwahrlost. Die Tochter deutet das Verhältnis richtig: »Um Arnolds Vertrauen hat Vater gebuhlt. Ich mußte um Vaters Vertrauen ringen.« Als starker, freier, feiner Mensch errang sie sein Vertrauen innerhalb ihrer Begabung, die zur Kunstlehrerin, nicht zur Künstlerin reicht. Arnolds Vertrauen blieb dem Vater versagt. Weil er den Vater fürchtete, mied er ihn, und die dumme Mutter beging das Todverbrechen, die Furcht vor dem Vater als Erziehungsmittel anzuwenden. Nicht bloß wegen ihrer Verschiedenheit, auch wegen ihrer Gleichheit konnten sich Michael und Arnold Kramer nicht finden. Michael der Künstler sieht in Arnold das Genie; Michael der Moralist sieht in Arnold den Lump. So stehen sich Vater und Sohn zum letzten Male unversöhnter denn je gegenüber. Der Vater ist die Wahrhaftigkeit selbst, und eine kleine läppische Lüge des Trotzkopfs bringt ihn so auf, daß er den Sohn verstößt. Als er ihn wiedersieht, ist sein Junge tot. Ein skandalöser Konflikt mit den gemeinsten Trieben des um Wein, Weib, Gesang taumelnden Philistertums hetzte ihn zum Selbstmord. Und im Schlußakt – auch dieses Drama ist wie »Fuhrmann Henschel« des Schlußakts wegen da – hält der Vater beim Sohne die Totenwacht.

Ganz im Gegensatze zu den Weitläufigkeiten von »Schluck und Jau« geht hier alles einen kurzen, knappen, scharfen Schritt. Wir sehen im trübseligen Licht eines Wintermorgens die häusliche Misere, wir sehen den ringenden alten Künstler in der Werkstatt, seine Dauerarbeit ängstlich verbergend, wir sehen bei einem sogenannten gemütlichen Frühschoppen die Dutzendmenschen, von Wein und Weib erhitzt, auf Bosheit und Wut des Einsamen die Gewalt setzen und nach all diesem kleinen Jammer dann den mächtigen Schlußakt, den ein ganz großer Schauspieler auch zur ebenso mächtigen Bühnenwirkung bringen würde. An der Leiche des Sohnes wächst Michael Kramer in die Höhe der alten Propheten, das Leben anblickend mit Augen Beethovens, dessen Totenmaske er in der Hand hält. Der reine Mensch, der andächtige Künstler, der im kleinen Leben nie freigeworden war, erhebt sich jetzt vor der Größe des Todes. Indem er seine Hoffnungen begräbt, ist er von aller Kleinheit erlöst. Das tiefe Geheimnis des Todes leuchtet ihn an, wie die große Liebe, und für diese Empfindung findet er den Ausdruck: »Der Tod ist die mildeste Form des Lebens: der ewigen Liebe Meisterstück.« Auf dem Totenantlitz des Sohnes erkennt er das Genie, das im Leben nicht aufkam. Aller Hader, aller Gram, alles Mißverstehen ist vorbei. Zwischen Vater und Sohn, zwischen Gott und Welt ist Friede. Irdisches hat keine Schrecken mehr. Der verschlossne, wortkarge, einsame Mann findet für diese Nirwanastimmung Worte vom Reichtum einer Symphonie.

Und doch endet diese Symphonie mit einer Dissonanz, mit der antwortlosen Frage nach dem Ende. Was jenem verträumten Fuhrmann in seinem Wahn ganz klar erschien, das Hirngespinst von Schuld und Strafe als Gottesfügung, das schließt bei diesem denkenden Geiste, je weiter er die Welt anschaut, je tiefer er ins Innere dringt, mit einem dunklen Rätsel. Beide, Henschel wie Kramer, sind aus dem realsten Leben geholt, beide enden in Mystik.

Mystik ist die Binnenseite der Realität. Daß Mystik und Realität keine Gegensätze sind, sondern das Auswendige und Inwendige einunddesselben Dinges, wußte noch jeder künstlerische Realismus. Diese Einsicht lag auch im konsequenten Naturalismus Gerhart Hauptmanns schon zu der Zeit, da ihn Arno Holzens Theoreme beherrschen wollten. Wenn man die Reihe seiner realistischen Werke vom Sonnenaufgangsdrama an verfolgt, so zeigt sich die fortschreitende Entwicklung des Dichters darin, daß die auswendige Haut immer durchsichtiger wird, so daß vom Innenleben immer mehr hervorschimmert, bis man dorthin sieht, wo sich das Innerste nicht mehr enthüllen will. Auf diesem Punkte steht die tragische Meditation Michael Kramers, der seines Dichters erster Denker ist.

Wie dieser Mann zuletzt weit über die Grenzen seines räumlichen Daseins hinausblickt, so wurden diese Grenzen auch dem Dichter wieder zu eng, und was sich ihm in der biblischen Sage nicht vollendet hatte, bot ihm die deutsche Legende des Mittelalters. Zunächst aber trieb es den Dichter, noch einer alten Lieblingsgestalt den Blick ins unbekannte Land zu gönnen. Bald nach »Michael Kramer« schrieb er den »Roten Hahn« und zeigte auch der sterbenden Waschfrau und Biberpelzdiebin in ihrer letzten schönen Vision ein Engelsangesicht.


 << zurück weiter >>