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Zwölftes Kapitel

»Meine Tante Clementine hatte in ihrer Jugend eine Freundin, von der sie sich oft Monate lang nicht trennte. Diese Freundin war verheiratet, ihren Namen habe ich nicht erfahren, die Tante nannte sie nur immer Marquise. Sie lebte glücklich mit ihren Gemahl, den sie sehr liebte, und von dem sie ebenso wiedergeliebt ward. Sie waren schon fünf oder sechs Jahre verheiratet ohne Kinder zu bekommen, wie sie beide es sehnlichst wünschten. Dem Marquis war es sehr wichtig einen Erben zu haben, weil der Besitz großer Güter an diese Bedingung geknüpft war. Die gute Dame fürchtete für die Liebe ihres Gemahls, und sparte weder Gelübde noch Gebete, um sich das ersehnte Glück von allen Heiligen zu erflehen. Sie wallfahrtete nach allen wundertätigen Bildern, und nach den gerühmten Bädern. Meine Tante die sie auf vielen dieser Reisen begleitete, war Zeuge ihres Grams, der endlich so tief wurzelte, daß man und nicht ohne Grund, anfing, für ihre Gesundheit besorgt zu werden: denn nicht allein, daß der Schmerz vergeblicher Erwartung sie nagte, sie ward auch größtenteils dadurch untergraben, daß sie unzählige Gebräuche des Aberglaubens anwandte, und von jeder guten Gevatterin oder jedem gewinnsüchtigen Betrüger sich Verordnungen und Arzneien geben ließ.

Die Vorstellungen ihrer Freunde gegen diese Verblendung waren vergeblich. Um diesen endlich zu entgehen, brauchte sie meistens die Mittel heimlich, oder unter mancherlei Vorwand. Unterdessen versuchten jene alles Ersinnliche, um sie aufzuheitern, meine Tante verließ sie in dieser Zeit fast gar nicht.

In der Weihnachtsnacht waren die Freundinnen in der Kirche, die Marquise betete länger und eifriger als jemals und konnte sich, der häufigen Erinnerungen und Bitten ihrer Freundin ungeachtet, gar nicht losreißen. Sie gab vor, da diese sich über den vermehrten Eifer verwunderte, sie hätte viele Dankgebete zum Himmel zu schicken für die glückliche Errettung ihres Gemahls, der tags vorher von einer Reise zurückgekommen, auf der er mancherlei Gefahren ausgesetzt gewesen war.

Die Tante wagte es nun nicht mehr sie wieder zu stören, da sie sie an den Stufen des Altars und zu den Füßen eines Wunderbildes tief hinabgebeugt, weinen und laut schluchzen hörte, denn sie wußte aus Erfahrung, daß sie durch eine Unterbrechung auf viel Tage unruhig gemacht wurde. Sie erwartete also, teils mit Geduld, teils mit ihrer eignen Andacht beschäftigt, bis die ihrer Freundin geendigt wäre. Da diese ihr doch endlich zu lang dünkte, rief sie ihr zu; da sie aber ohne zu antworten und ohne sich zu bewegen liegen blieb, so beugte sie sich zu ihr hinunter, hob den Schleier von ihrem Gesicht und fand sie ohne Bewußtsein, kalt und in tiefe Ohnmacht gesunken.

Mit Hülfe einiger zunächst stehender Menschen führte meine Tante sie aus der Kirche, und half sie in den Wagen heben, der vor der Kirchtür hielt. Sie hatten einen ziemlich großen Weg nach ihrem Hause zu fahren, während dem gelang es ihr, sie durch alle Hülfe, die in dem Augenblick möglich war, wieder zu sich selbst zu bringen. Als sie wieder sprechen konnte, fragte sie die Tante um die Ursache ihrer sonderbaren Heftigkeit, und bat sie so dringend und unter so zärtlichen Liebkosungen, ihr Herz gegen sie zu öffnen, daß sie nicht länger widerstehen konnte. Sie vergoß in den Armen ihrer Freundin einen Strom von Tränen, und nachdem diese ihrem Herzen Luft gemacht hatten, erzählte sie ihr: sie hätte soeben einen Vorsatz ausgeführt, den sie schon seit länger als einem Jahre in ihrem Herzen gehegt habe, zu dessen wirklicher Ausführung sie noch niemals Kräfte genug in ihrer Seele gefühlt hätte; aber heute Nacht hätte sie diese in ihrem heißem Gebete zur heiligen Jungfrau errungen. Sie hätte es glücklich vollbracht, doch sich so angestrengt, daß sie gleich darauf ihre Besinnung verloren habe. Dieselbe, an deren Altar sie die augenblickliche Kraft wie einen Strahl vom Himmel in ihrer Seele empfangen, möge es ihr vergeben, daß gleich darauf ihren Körper diese Schwäche befallen, und daß sie auch jetzt noch sich der Tränen nicht enthalten könne. – Meine Tante erwartete mit ungeduldiger Unruhe das Ende dieser Vorrede und das, wohin sie führen sollte. Endlich sammelte sich ihre Freundin und erzählte ihr: sie habe das Gelübde abgelegt, und würde es unverbrüchlich halten, sich freiwillig von ihrem geliebten Gemahl zu trennen, wenn sie länger als das nächste Jahr ohne Kinder bliebe; ihr Gemahl sollte sich alsdann eine andere Gattin wählen, mit der er glücklicher wäre, sie selbst aber wollte ihr Leben unter eifrigen Gebeten für sein Wohl in einem Kloster beschließen. – Sie kamen bei diesen Worten vor dem Hause an, und wurden aus dem Wagen gehoben, noch ehe meine Tante ein Wort über dieses traurige Gelübde hatte vorbringen können. Der Marquis kam ihnen entgegen, voll Besorgnis wegen ihres ungewöhnlich langen Ausbleibens. Die beiden Frauen sprachen kein Wort, er sah sie verwundert an, und nahm an der blassen Gesichtsfarbe seiner Gemahlin und der bekümmerten Miene meiner Tante gleich wahr, daß ihnen etwas Außerordentliches müsse zugestoßen sein. Er führte sie ins nächste Zimmer, und ließ nicht eher ab, bis er die Ursache ihrer Bestürzung erfahren. Sie erlaubte es endlich meiner Tante, dem Marquis ihr Gelübde zu entdecken. Dieser suchte sich ungeachtet seines heftigen Schreckens zu fassen, und bat sie, sich zu beruhigen; sie ließ aber nicht eher mit Tränen und Bitten nach, bis er ihr versprach, sie durch keine Gegenvorstellung, und keine heimliche Veranstaltung an der Ausführung ihres Gelübdes zu verhindern. Nun erfolgte eine Szene von zärtlichen Vorwürfen, von Liebe, Großmut und Aufopferung, die man sich wohl leicht vorstellen kann.

Die Nacht war unterdessen beinahe verstrichen, die Marquise fühlte sich sehr ermüdet, und bat meine Tante sie nach ihrem Zimmer zu begleiten, weil sie trotz ihrer Müdigkeit nicht würde schlafen können, und sie ihr noch einiges sagen wollte. Ihr Gemahl führte sie die Treppe hinauf, ein Gitter verschloß einen ziemlich langen Gang, an dessen Ende das Schlafzimmer der Dame lag. Der Marquis zog an der Klingel, die Kammerfrau trat aus dem Zimmer, um zu öffnen, er wollte eben wieder die Treppe hinuntergehen, als die Marquise ausrief: ›Ach seht! seht hin! was kömmt da für ein englisch schönes Kind.‹ Man sah hin durch das Gitter, wo sie hinzeigte, sah aber nichts als die Kammerfrau, die mit einem Licht in der Hand den Gang herunter kam, und die Gittertür aufschloß. – ›Was hast du da für ein schönes Kind?‹ fragte sie sie hastig. Die Kammerfrau sah sie an, ohne zu antworten. ›O seht doch das Engelskind!‹ rief die Marquise wieder, tat einige Schritte vorwärts, und beugte sich freundlich, wie zu einem Kinde herab. Entsetzen und Erstaunen bemeisterte sich der Anwesenden, denn sie sahen kein Kind. Die Marquise ging mit offnen Armen noch einige Schritte, als wollte sie etwas umfassen, wankte, und sank mit einem lauten Schrei nieder.

Sie ward zu Bette gebracht. Als sie wieder zu sich selbst kam, fragte sie, ängstlich die Antwort erwartend, ob denn die andern nicht das Kind am Fuße des Bettes stehen sähen? Da man nun an der Stelle, die sie bezeichnete nicht das geringste wahrnahm, und sie am Achselzucken und am bedauernden Zureden der andern merkte, daß man sie für krank hielt, und als ob ihr nicht geglaubt würde, daß sie wirklich das sähe, was sie zu sehen vorgab, beschrieb sie mit der größten Genauigkeit und ganz gelassen die Gestalt des Kindes, das sie zu ihren Füßen an das Bett gelehnt stehen sah. Es schien ihr in einem Alter von drei Jahren, trug ein leichtes weißes Gewand, Arme und Füße waren nackt, um den Leib hatte es einen blauen Gürtel von hellglänzendem Zeuge, dessen Enden hinter ihm niederflatterten. Das Köpfchen sei mit himmlischen blonden Locken, wie mit den zartesten Strahlen umgeben, das mit den kindlichen Wangen, dem frischen Munde und den lachenden blauen Augen wie ein wundersüßes Engelsköpfchen aussehe. Das ganze Figürchen umschwebe hinreißende Anmut; kurz, sie beschrieb es so umständlich, daß man gar nicht mehr zweifeln durfte, sie sähe es in der Tat vor sich; da sie es aber anfangs hätte umarmen wollen, wäre es zurückgewichen, daher sei ihr Schreck und die Ohnmacht gekommen, denn es hätte sie überzeugt, daß sie eine Erscheinung sehe.

Ihre Freunde durften keinen Widerspruch wagen, aus Besorgnis sie aufzubringen, und man geriet in große Verlegenheit. Der Arzt wurde herbeigeholt, er fand sie in heftiger Wallung, sonst aber keine Spur von irgend einer Krankheit. Er verordnete vorzüglich Ruhe. Sie wollte versuchen zu schlafen, rief aber in dem Augenblick: ›O seht doch, wie es sich freundlich gegen mich neigt, und nun geht es, das liebe Gesichtchen immer zu mir gewendet, zurück. Seht, dort setzt es sich im Winkel nieder, es winkt mir mit den Händchen, ich solle schlafen!‹ – Man bat sie, die Augen zu verschließen, damit sie Ruhe fände. Die Bettvorhänge wurden niedergelassen, und nachdem sie etwas Kühlendes getrunken hatte schlief sie ein.

Bei ihrem Erwachen, nachdem sie einige Stunden ruhig geschlafen hatte und es unterdessen völlig Tag geworden war, hoffte man, ihre Erscheinung würde verschwunden sein; aber zum Erstaunen blieb diese, wie in der Nacht. Kaum erwachte sie, so zog sie die Vorhänge zurück und sah auch sogleich das Kind mit muntern freundlichen Gebärden auf sich zukommen. Sie unterhielt sich nun auf die vertraulichste und liebreichste Weise mit ihm, und versicherte, es gäbe ihr durch sehr ausdrucksvolle Mienen verständliche Antwort. Sie gebot ihm, sich vom Bett zu entfernen; es ging zurück; drauf winkte sie ihm wieder, und es kam näher; dann gebot sie ihm, ihr etwas zu reichen, da machte es, wie sie versicherte, eine Gebärde mit Kopf und Schultern, als wollte es ihr zu verstehen geben, dies sei über seine Macht.

Sie stand auf, ging im Zimmer herum, das Kind lief beständig vor ihr her, immer rückwärts, das Gesicht zu ihr gewendet. Man war in der schrecklichsten Besorgnis wegen dieser bleibenden Erscheinung; man hielt es für eine völlige Zerrüttung der Sinne und der Gesundheit; und man drang einigemal in sie, sich den Händen eines Arztes zu übergeben. Sie war aber nicht zu bewegen Arznei zu nehmen, weil sie sich so wohl fühlte, als sie seit lange nicht gewohnt war. In der Tat blühte sie zum Erstaunen aller Bekannten, in kurzer Zeit, ordentlich neu auf. Sie ward wieder munter, sie konnte wieder gehörig Speisen zu sich nehmen und ruhig schlafen, sie nahm wieder an der Gesellschaft frohen Anteil, und schien sogar ihres traurigen Gelübdes nicht mehr zu gedenken. Ein paar Mal sprach sie nur mit ihrem Gemahl davon, aber mit der größten Geistesruhe; sie versicherte ihn, sie verlasse sich völlig auf sein Versprechen, ihr in der Erfüllung nicht entgegen zu sein. Die Erscheinung des Kindes verließ sie keinen Augenblick. Es begleitete sie bis an die Gittertüre, so oft sie ausging; sobald die Tür zugemacht war, sah sie es den Gang wieder zurück nach ihrem Zimmer schweben; wenn sie wieder kam, fand sie es ebenso am Gitter ihr entgegen kommen. Dabei war es, wie sie vorgab, immer traurig, wenn sie es verließ, und vergnügt, wenn sie es wieder sah. Bei Nacht trug es eine Kerze in der Hand, und am Tage einen Blumenkranz. Außer jenem Bezirk hatte es sie nie verfolgt. Man beredete sie ein anderes Zimmer zu beziehen, dazu war sie aber auch nicht zu bewegen. Sie weinte, wenn sie nur daran dachte, es von sich zu stoßen, und der Marquis ließ es sich endlich gefallen, weil er hoffte, sie würde doch nun ihrer Vision zu Gefallen nicht ins Kloster gehen. Sie liebte die kleine Gestalt mit wahrer mütterlicher Leidenschaft; sie ward oft in Gesellschaften unruhig, und sehnte sich nach dem Kinde hin, wenn sie es einige Stunden verlassen hatte. Man hörte sie in ihrem Zimmer mit ihm sprechen. Sie hatte ein kleines Bett dem ihrigen gegenüber stellen lassen, darein legte es sich, wenn sie es ihm sagte, auch sah sie es des Nachts, wenn sie von ungefähr aufwachte, drin liegen, aber es erwachte in demselben Moment mit ihr. Ebenso machte sie ihm in einer Ecke des Zimmers eine Spielanstalt, mit einem kleinen Tisch und Stühlchen, sie sah es sich dazu niedersetzen; die Spielsachen berührte es aber nicht, es spielte nur mit den Blumen, die es in der Hand hielt, oder es saß still ihr gegenüber und lächelte sie mit großen Augen an. Nur wenn sie es fassen wollte, dann ward sie erinnert, daß es eine bloße Täuschung sei, dann wich das Luftbild von ihren Händen zurück, und ließ sich ebenso wenig ergreifen, als die farbige Gestalt des Regenbogens.

   

Nach einiger Zeit ereignete sich etwas, welches das Wunderbare dieser Erscheinung zugleich erklärte und vergrößerte. Die Marquise fühlte nämlich deutliche Zeichen, daß sie guter Hoffnung sei. Die Freude des Ehepaars war ohne Grenzen, als sie dessen endlich gewiß waren. Im Taumel der Freude, ihr Gebet erhört, und sich des trostlosen Gelübdes entbunden zu sehen, eilte sie nach demselben Altare, vor welchem sie es damals abgelegt hatte, und gelobte nun an der Stelle ihr Kind, statt ihrer, dem Kloster zu weihen! Der Marquis war mit diesem Gelübde beinahe so unzufrieden, als mit dem vorigen, doch mußte er es geschehen lassen. Einen Knaben hoffte er mit Golde loszukaufen.

Neun Monate nach dem Tage der ersten Erscheinung ward sie glücklich von einer Tochter entbunden. Während ihrer Niederkunft sah sie die Erscheinung an ihrem Lager unbeweglich stehen, in dem Augenblick aber, daß ihr Kind zur Welt kam, war jene verschwunden, und sie hat sie niemals wiedergesehen.«

Juliane endigte hier ihre Erzählung, und ihre Zuhörer dankten ihr einstimmig für das Vergnügen, das diese ihnen gemacht hatte. – »Wenn ich mir jemals wünschen könnte, eine Erscheinung zu sehen«, sagte der Müller, »so wäre es eine solche!« – »Behüte mich Gott und alle heilige Engel vor Geistern!« rief seine Frau, indem sie andächtig ein Kreuz machte; »sie mögen auch sein, oder Gestalt haben, was und wie sie wollen! sie bedeuten gar zu selten etwas Gutes.« – »Eine sehr niedliche Geschichte!« sagte Eduard; »besonders gefällt mirs, daß sie so wunderbar, und doch so einfach, so wahrscheinlich ist; man versteht sie vollkommen, ohne durch eine besondere prosaische Auflösung gestört zu werden, wie es sonst bei wirklich erlebten Wundern gewöhnlich der Fall ist.« – »Und Sie sagen gar nichts dazu, Florentin?« fragte Juliane; »Sie sehen so gedankenvoll aus, haben Sie etwa gar nicht zugehört?« – »Ich habe wohl zuhören müssen«, sagte dieser, »die Geschichte zwang mich ordentlich zur Aufmerksamkeit. Mir war, als wären mir sowohl die Begebenheiten, als die Menschen darin nicht fremd; unwillkürlich schob sich mir bei jedem eine bekannte Person unter; so wie man, wenn man ein Schauspiel liest, sich die Schauspieler denken muß, von denen man es einst hat spielen sehen. Und was ich sonst nicht leicht fühle, mich hat ein leises Grauen dabei überfahren.« – »Grauen?« fragte Juliane, »diese Wirkung hatte sie doch auf mich gar nicht, da mich sonst schon bei dem bloßen Gedanken an eine Geistergeschichte schaudert; man sollte es aber schon an Ihnen gewohnt sein, daß die Dinge allezeit auf Sie ganz anders wirken, als auf andere ehrliche Leute. – Doch sehen Sie, der Tag bricht an«, fuhr sie fort, »nun dächte ich, während unser guter Herr Wirt Anstalten trifft, daß der Bote aufs Schloß geht, und die Frau Müllerin uns noch ein Frühstück bereitet, so singen Sie etwas, Florentin! Ich kann nicht verhehlen, ich bin voller Unruhe und Ungeduld, Musik wird am ersten fähig sein, diese zu täuschen.«

Der Müller und seine Frau gingen hinaus, um zu tun, was sie verlangt hatte. »Nun fangen Sie an«, sagte Juliane, »die Guitarre werden Sie nicht brauchen können, sie hat wahrscheinlich sehr von der Nässe gelitten.« – »Es tut nicht viel«, sagte Florentin, »sie wird noch immer gut genug sein, Takt und Tonart ungefähr drauf zu bemerken, mehr braucht es nicht. Doch was verlangen Sie für ein Lied?« – »Singen Sie, was Sie wollen, nur etwas Neues und Kluges!« – Nach einem kurzen Besinnen sang er folgende Strophen:

»Mein Lied, was kann es Neues euch verkünden?
Und welche Weisheit, Freunde, fordert ihr?
Der Hohen meine Jugend zu verbünden,
Dies, wie ihr wißt, gelang noch niemals mir.
Noch Neu, noch Alt wüßt ich je zu ergründen;
Das Schicksal gönn' im Alter Weisheit mir.
Wir irren alle, denn wir müssen irren,
Gelassen mag die Zeit den Knäul entwirren.

Der Waldstrom braust im tiefen Felsengrund,
Gar schroffe Klippen führen drüber hin,
Die furchtbar hängen überm finstern Schlund;
Wer strauchelt, dem ist sichrer Tod Gewinn!

Ein Müder wankt am Geist und Gliedern wund
Daher, schaut bang hinab, kalt graust der Sinn:
Am Felsen spielt ein Kind, sorglos bemühet
Ein Blümchen pflückend, das am Abgrund blühet.

Oft mühten sinnreich Dichter sich und Weise,
Das Leben mit dem Leben zu vergleichen.
Am glücklichsten geschah's im Bild der Reise!
Ein Tor eröffnet Armen sich, wie Reichen;
Früh ausgewandert auf gewohntem Gleise
Sieht er die Dämmrung kaum dem Licht entweichen,
So treibt der Wahn, ihm dürf's allein gelingen,
Rastlos in nie erreichte Fern zu dringen.

Es türmen Felsen sich in seinen Wegen,
Des Mittags Strahlen glühn auf seinem Haupt,
In Wüsten Sands muß sich der Fuß bewegen,
Ein Ungewitter naht, der Sturmwind schnaubt,
Wo kommt ein sichres Dach dem Blick entgegen?
Es seufzt nach Ruh, wem stolzer Mut geraubt;
In später Nacht, nach tausendfältger Not
Kömmt er ans Ziel – und dieses ist – der Tod!

Der Jüngling tritt, von Ahndung fortgezogen,
Zur Schwelle hin, die in das Leben führt.
An seiner Schulter tönt der goldne Bogen
Der Göttin, so die Welt ihm hold verziert,
Der Phantasie, die ihn auf kühnen Wogen
Sanft fortreißt, ihn mit bunten Bildern rührt.
Wenn er dann so nach schönen Träumen hascht,
Wird unbewußt vom Glück er überrascht.

Gebt acht, gebt acht, Gelegenheit ist flüchtig.
Nicht leicht ihr Stirnenhaar im Flug zu fassen.
Obgleich zu nützen sie ein jeder tüchtig,
Dem's klug gelang, sie nicht entfliehn zu lassen,
So ist dem Würdigen sie nie so wichtig,
Daß er von ihr sich mag bestimmen lassen.
Doch was hilft Mut, was mächtiges Bestreben
Dem Schiff, das tollen Stürmen preisgegeben?

So mancher hat gefunden, was zu suchen
Er gleichwohl nicht verstand, was zu gewinnen
Vergebens er, und mühvoll wird versuchen;
Mißlingen droht dem treulichsten Beginnen.
Wie viele hört man dann ihr Los verfluchen
Und klagen: ›Glück! o mußtest du zerrinnen?‹
Was traut ihr müßig auf des Glückes Gunst?
Natur sei Vorbild, Leben eine Kunst!

Wer hebt des Künstlers Mut in Kampf und Leiden
Als ferne Ahndung hoher heilger Liebe?
Was lehrt ihn schellenlaute Torheit meiden
Als eignes Glück der süßen zarten Liebe?
Wo ist ein Port für Hohn und böses Neiden,
Als in den Armen frommer, treuer Liebe?
Und wird des Helden Stirn in Myrtenkränzen
Der Nachwelt schöner nicht, als Lorbeer glänzen?«

Florentin war von seinem eignen Gesänge nach und nach so begeistert, daß ihm Reime und Gedanken je mehr je leichter zuflössen, und die beiden wären es nicht müde geworden, zuzuhören, wenn er auch noch länger fortgesungen hätte. Die Müllerin unterbrach aber seinen Gesang und ihre Aufmerksamkeit, indem sie das Frühstück herein brachte. Zu gleicher Zeit kam auch der Bote mit der Nachricht zurück, der Wagen und die Bediente der Gräfin würden in weniger als einer Stunde anlangen. Er hatte am jenseitigen Ufer einen Reitknecht vom Schloß zu Pferde angetroffen, der ihn bei seiner Überfahrt erwartete. Dieser hatte ihn gefragt, ob er nicht etwa drei Herren in Jagdkleidern gesehen hätte, denen zwei Hunde gehörten, die er vor der Tür der Mühle liegen sähe? Da er nun gleich gesagt, daß sie alle drei in der Mühle eingekehret seien, und dort übernachtet hätten, und daß er eben abgeschickt sei, um den Wagen vom Schloß zu holen, so habe ihm der Reitknecht befohlen, nur wieder zurückzugehen, und der Herrschaft zu sagen, daß er sogleich den Wagen, der im Dorfe warte, nach der Mühle schicken würde.

Juliane hatte wieder ihre Kräfte gesammelt; die Nachricht, daß sie in kurzer Zeit abgeholt würde, machte sie völlig heiter und gut gelaunt. Um Eduards Stirn schwebte eine Wolke, die Julianens ganze Heiterkeit nicht völlig zerstreuen konnte. So oft sie ihre Ungeduld, nach Hause zu ihren Eltern zu kommen, äußerte, stieg sein Unmut beinah bis zur Bitterkeit. – »Mein geliebter Freund«, sagte Juliane, »es hilft Ihnen zu nichts, daß Sie Ihre Vorwürfe nicht aussprechen, sie sind sichtbar auf Ihre Stirn geschrieben; aber wie sie auch erscheinen sind sie sehr ungerecht; Sie sollten die angenehmen Stunden nicht mit Mißmut endigen!« –

Das Frühstück war kaum verzehrt, als der Wagen mit der Kammerfrau der Gräfin Eleonore kam, die ihr Wäsche und Kleider mitbrachte. Juliane erkundigte sich nach ihren Eltern. Sie hatten die Nacht in erschrecklicher Angst zugebracht, erzählte die Kammerfrau: der Graf wollte sich trotz dem Ungewitter selbst aufmachen, um sie aufzusuchen, durfte aber die Gräfin nicht verlassen, die sich sehr übel befunden, und bei jedem starken Blitz ohnmächtig ward. Im ganzen Schloß blieb alles die Nacht über auf, und sobald das Gewitter nur etwas nachgelassen, mußte die Kammerfrau mit dem Wagen nach dem Dorfe fahren, weil sie vermuteten, daß die jungen Leute nach dieser Seite zu gewandert wären, der Reitknecht mußte unterdessen zu Pferde das Gebirg und die Gegend durchsuchen. Er war auch gleich, nachdem er dem Kutscher die Mühle bezeichnet, aufs Schloß zurückgeritten, um es zu melden, daß sie glücklich gefunden wären.

Juliane war gerührt über die Angst, die sie ihren Eltern gemacht hatte, und eilte sich umzukleiden, um so schnell als möglich wieder zu ihnen zu kommen. Florentin und Eduard beschlossen, zu Fuß zurückzugehen, sie konnten auf dem weit nähern Fußweg doch noch früher als der Wagen auf dem Schlosse ankommen. Sie nahmen freundlich Abschied von ihren guten Wirten, die es als eine Beleidigung ansahen, als man davon sprach, ihnen ihre gehabte Mühe und Unkosten zu bezahlen. Juliane zog einen kleinen Ring vom Finger und gab ihn der Müllerin zum Andenken, um einigermaßen ihre Erkenntlichkeit zu bezeigen.

Der Graf und Eleonore kamen ihrer Tochter eine große Strecke entgegen, die beiden Freunde ergötzten sich die Freude zu sehen, mit der sie empfangen ward, und mit der sie aus dem Wagen in die Arme ihrer Eltern stürzte, als ob sie Jahre lang getrennt gewesen wären. Juliane wurde mit Fragen bestürmt und mußte es feierlich ihrem Vater versprechen, niemals wieder seine Einwilligung zu einer ähnlichen Unternehmung zu fordern.

So endigte die abenteuerliche Wanderung. Obgleich ihnen keine andere als gewöhnliche Begebenheiten zugestoßen waren, so war sie ihnen doch wichtig geworden. Sie hatten auf diesem kurzen Wege, den sie mit einander gewandert, tiefere Blicke in ihr Inneres zu tun Gelegenheit gefunden als sie in einem Jahre langen Nebeneinandergehen in der großen Welt vermocht hätten. Juliane hatte die Erfahrung ihrer Abhängigkeit gemacht, und mußte es sich gestehen, daß sie es nicht so unbedingt wagen dürfe, außer ihren Grenzen, und ohne ihre Bande und ihre erkünstelten Bequemlichkeiten fertig zu werden.


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