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Erstes Kapitel

Es war an einem der ersten schönen Frühlingsmorgen. Allenthalben, auf Feldern, auf Wiesen und im Wald, waren noch Spuren des vergangnen Winters sichtbar, und der Härte, womit er lange gewütet: noch einmal hatte er mächtig im Sturm seine Schwingen geschüttelt, aber es war zum letztenmal. Die Wolken waren vertrieben vom Sturm, die Sonne durchgebrochen, und eine laue milde Wärme durchströmte die Luft. Junge Grasspitzen drängten sich hervor, Veilchen und süße Schlüsselblumen erhoben furchtsam ihre Köpfchen, die Erde war der Fesseln entledigt, und feierte ihren Vermählungstag.

Mutig trabte ein Reisender den Hügel herauf. Vertieft im Genuß der ihn umgebenden Herrlichkeit und in Phantasieen, die ihn bald vor- bald rückwärts rissen, hatte er den rechten Weg verfehlt, und nun sah er sich auf einmal vor einem Walde, den er durchreiten mußte, wenn er nicht gerade wieder umkehren und zurückreiten wollte; ein andrer Weg war nicht zu finden. Er war lange zweifelhaft.

»Jetzt wieder umkehren wäre ein unnützes Stück Arbeit. Wäre ich etwa umsonst hieher geraten? In diesen Wald kam ich ungefähr auf eben die Weise wie ins Leben ... wahrscheinlich habe ich im ganzen auch des Weges verfehlt. Und wie? wenn mir auch hier wie dort die Rückkehr unmöglich wäre? ... Sei meine Reise wie mein Leben, und wie die ganze Natur, unaufhaltsam vorwärts! ... Was mir nur begegnen wird auf dieser Lebensreise, oder diesem Reiseleben? ... Ich rühme mich ein freier Mensch zu sein, und dieser Sonnenschein, dieses laue Umfangen, die jungen Knospen, das Erwarten der Dinge, die mich umgeben, ist schuld, daß auch ich erwarte ... und was? ... War mir doch mit allem bunten Spielzeug schon längst Hoffnung und Erwartung entflohen! ... Närrisch genug wäre es, wenn mich dieser Weg auch endlich an den rechten Ort führte, wie alles Leben zum unvermeidlichen Ziel.« – Unter diesen Betrachtungen, und Spott über sich selbst, ritt er rasch weiter, fühlte aber endlich sein Pferd ermüden, auch war er selbst durchnäßt vom nächtlichen Regen. Er wünschte jetzt, bald irgend ein Obdach zu finden, um einige Zeit ausruhen zu können. – »Hab guten Mut, Schimmel! wir müssen beide weiter; billig ist es aber, daß du es jetzt nicht schlimmer habest als ich.« – Hiemit sprang er ab, machte Riemen und Schnallen am Sattelzeuge weiter, und führte das Pferd hinter sich am Zaum. Der Schimmel wieherte und stampfte, als wollte er Zeichen seiner Zufriedenheit geben. Sein Führer drehte sich zu ihm herum, stand still, legte seine beiden Hände an den Kopf des Pferdes und blickte es ernsthaft an. – »Laß dich umarmen Schimmel«, sagte er, »du bist ein königliches Tier! ein Tier für Könige! Was fehlt uns beiden, um in der Geschichte verewigt zu werden, du als ein Muster der Treue und Unterwürfigkeit, ich als ein Beispiel von menschenfreundlicher Herablassung, als daß ich einen Thron besäße, und du wärest mein Untertan? Gewiß bist du ganz verwundert und froh, und ohne Zweifel fühlst du dich überaus glücklich, gerade von mir und von niemand anders bis ans Ende deines treuen Lebens geritten zu werden! Ahndest du etwa, daß ich deine Last bloß deswegen etwas leichter machte, damit du mir nicht völlig unterlägst, und darüber zu Grunde gingest, ehe ich dich missen kann? Ich weiß es freilich, aber du sollst es nie erfahren, denn du sollst glücklich sein; du sollst, verlaß dich auf meine Wachsamkeit, gewiß nie in dem klugen Glauben gestört werden, daß du in deiner Unvernunft und demütigen Genügsamkeit ein glückliches Tier bist.« –

Er ließ den Kopf des Schimmels, und stand gedankenvoll eine Weile an ihn gelehnt. Sein Auge schweifte umher, bald beschaute es die ihn noch umgebenden Gegenstände mit dem innigsten Vergnügen, bald drang es mit Sehnsucht in die Ferne. Es gab für ihn Momente, wo er sich keines drückenden und keines vergangnen Verhältnisses bewußt war. Ihm war, besonders in der Einsamkeit und im Freien, als hätte er alles, was ihm jemals weh getan, zurückgelassen, und ginge nun einer heitern Aussicht entgegen. Er konnte sich einbilden, vor einem Augenblicke gestorben, und mit dieser bessern Empfindung in ein schöneres Dasein übergegangen zu sein. –

»Welche sehnende, ahndende Hoffnung treibt mich wieder zu euch Menschen? warum ergebe ich mich denn aufs neue euren unsinnigen Anstalten? Ist es mir denn nicht bekannt, daß ich dessen, was ich bei euch suche, schon längst überdrüssig bin? ... Schön ist's hier im Wald! hier möchte ich bleiben, ... o hier, hier sollte ich bleiben! ... allein? ... ach, nicht allein! ... mit ihr! ... noch hat mein Auge sie nicht gesehn, aber ich kenne sie, ... o sie wird alles verlassen, was sie halten will, und hat sie mich gefunden, mir hieher folgen, und hier mit mir der Liebe leben. Laß dich in meine Arme fassen! komm, ruhe hier aus an diesem Herzen, das harte Schläge des Schicksals erlitten hat wie deines; laß mich deine Tränen trocknen, blick um dich! Was du verließest, war nicht die Welt: Fesseln, enge Mauern, nanntest du das die freie schöne Welt? ... Schwer hast du geträumt, o erwache, erkenne hier was du suchtest! ...«

Nicht weit von ihm fiel ein Schuß, und bald darauf hörte man ein Rufen nach Hülfe. Im Augenblicke hatte er Sattel und Bügel wieder in Ordnung gebracht, seine Träume, des Schimmels Müdigkeit, so wie seine eigne vergessen, sich aufs Pferd geschwungen und nach der Gegend hingespornt, von wo er die Stimme vernahm; er kam auf einen kleinen runden dicht umschloßnen Platz im dicksten Teil des Waldes; hier sprengte ihm hastig ein reichgekleideter Jockey entgegen, der ein gesatteltes Handpferd führte. »Retten Sie meinen gnädigen Herrn!« rief der Knabe. Unser Reisender sah nach der Gegend hin, wo der Knabe mit ängstlicher Gebärde hinzeigte, und erblickte einen ältlichen Mann, der eben im Begriff war, ein wildes Schwein abzufangen; er sah eben, wie der Mann noch einen Schritt zurücktrat, um sich mit dem Rücken an einen Baum lehnen zu können, sah ihn an eine Baumwurzel stoßen, rücklings niederfallen, und in der größten Gefahr, von der gereizten Sau zerfleischt zu werden. Im Moment sprang er vom Pferde und feuerte sein Pistol auf das Tier, wodurch er, ohne es zu treffen seine ganze Wut auf sich zog: das war seine Absicht. Das erboste Tier kehrte um und rannte auf ihn los, er zog sein Jagdmesser und fing es mit Besonnenheit und Geistesgegenwart auf. Während dessen war der alte Herr aufgestanden, näherte sich dem Reisenden, und ergoß sich in Danksagungen und Lob wegen seines Mutes und seiner Geschicklichkeit. Dieser lehnte mit Anstand beides von sich ab, erkundigte sich freundlich, ob der Gefallne keinen Schaden genommen, und da dieser mit Nein antwortete, wandte er sich nach seinem Schimmel, der noch ruhig da stand, wo er ihn gelassen. Der Mann wunderte sich über die Demut eines sonst so mutig aussehenden Pferdes. – »So eifersüchtig ich sonst auch bin, nichts von meinem Gefährten sagen zu lassen, als was zu seinem Lobe gereicht«, erwiderte der Reisende, »so muß ich dennoch gestehen, daß er diesesmal gezwungen ist, tugendhaft zu sein; das gute Tier ist erschöpft von Müdigkeit. Führt der Weg, auf dem ich hier vorbeikam, ganz durch den Wald, und wo führt er hin?« – Er hatte sich während dem wieder aufgesetzt, begrüßte den alten Herrn, und wollte zurückreiten. –

»Ich hoffte, Sie würden mich nicht so schnell wieder verlassen«, sagte der alte Herr. »Sie haben sich das größte Recht auf meine Dankbarkeit erworben, es würde mich schmerzen, wenn Sie mir alle Gelegenheit rauben wollten, sie Ihnen zu bezeigen. Fügen Sie zu dem großen Dienst, den Sie mir leisteten, auch noch den hinzu, sich meiner Familie vorstellen zu lassen. Meine Gemahlin, meine Kinder würden untröstlich sein, dem Retter meines Lebens nicht ihre Freude bezeugen zu können. Komm, mein Sohn!« rief er einem jungen Manne zu, der auf einem Seitenwege zu ihnen heransprengte, vom Pferde sprang, und mit besorglicher Freude auf ihn zueilte; »hilf mir diesen Herrn erbitten, daß er sich nicht in so großer Eile von uns trennt, du verdankst ihm nichts weniger als das Leben deines Vaters.« – »O mein Vater«, rief der junge Mann, »daß ich mich gerade in diesem Moment entfernen mußte! mein Gott, Sie waren so nahe ... mein Herr«, indem er sich zu dem Reisenden wandte, »Sie haben ein kostbares Leben gerettet, verschmähen Sie nicht den Dank einer liebenden Familie anzunehmen, die durch Ihre Hülfe einem schrecklichen Unfall entging.« – »Es würde unbescheiden von mir sein«, antwortete er, »wenn ich mich länger widersetzte.« – Der alte Herr bezeigte seine Freude über diesen Entschluß in vielen höflichen und verbindlichen Worten, der junge Mann reichte ihm die Hand herüber, und sprach einiges, das den Ausdruck der höchsten Empfindung bezeichnete. Der Reisende brachte vollends alles an seinem Zeuge in Ordnung.

Jetzt eilten alle auf demselben Wege fort, auf dem er zuerst gekommen war. – »Aber wie ging es eigentlich zu?« fragte der junge Mann, »wie kommen Sie zu dem gefährlichen Abenteuer, mein Vater?« – »Ganz zufällig!« antwortete dieser. »Du weißt, daß der Jäger schon seit einigen Tagen angewiesen ward, das Lager aufzusuchen, weil die Klagen über Verwüstungen sich täglich mehren; es war aber bis jetzt noch immer nicht geschehen. Zufällig entdeckte ich es, da ich eben einen Vogel aufnehmen wollte, den ich heruntergeschossen. Ich bezeichnete den Ort, um ihn dem Jäger anzuzeigen, und ging etwas näher hin zum Lager, weil die Alte nicht dabei war; in dem Augenblick kam sie aber aus dem Dickicht, wo der Schuß sie aufgeschreckt hatte, und gerade auf mich los.« – Und nun erzählte er ferner in prächtigen Ausdrücken den ganzen Hergang, und was der Fremde so glücklich ausgeführt hatte. Der junge Mann suchte sich zu entschuldigen, daß er sich so weit von ihm entfernt; und nun erzählte auch der Jockey seinen Schrecken, als er Ihre Gnaden hätte fehlschießen sehen; wie er gleich nach Hülfe gerufen habe, und dem fremden Herrn begegnet sei, und wie auch dieser fehlgeschossen; wie er dann in großer Angst umhergeritten, um den jungen gnädigen Herrn zu suchen, den er endlich auf dem Berge am Ende des Waldes gefunden, wo die Aussicht nach dem Schloßgarten frei sei.

Während dieser weitläuftigen Erzählungen, die alle nacheinander gehört wurden, die niemanden etwas Neues lehrten, und wovon doch keiner ein Wort verlieren wollte, und die alle mit den größten Lobeserhebungen für den Fremden anfingen und endigten, war dieser still und nahm auf keine Weise Anteil daran.

Man kann doch, dachte er, in der Welt nicht einmal mehr zu seiner Lust, oder weil es einem gerade in den Weg kommt, ein Tier erlegen, oder man muß dann viel Langeweile dafür erleben! Zu seinem Glücke ist der gute mann gerettet worden: ist es meine Schuld, daß sein leben an meinem Spiele hing? Den weitläuftigen Dank könnten sie einem größeren Verdienst aufsparen ... Ich hätte die größte Lust von der Welt, ihnen das mit eben dem Pathos vorzutragen, wie sie einander die wundervolle Begebenheit. Bei Gott! mich machen diese Leute sehr ungeduldig. Der feierliche, umständliche, höfliche Alte! der empfindsame exaltierte Knabe! Repräsentanten ihrer Zeit und ihres Standes, ... wenn ich ihre Porträte zu einer Ahnengalerie zu machen hätte, so malte ich den ersten, wie er mit großer Devotion ein von Pfeilen durchbohrtes Herz darbringt, und den andern in erhebenden und rührenden Betrachtungen vertieft über ein Büschel Vergißmeinnicht. Es ist das Lächerlichste von der Welt, außer ich selbst, der ich mich verleiten lasse, ihnen zu folgen, und mich in Prozession aufzuführen ... Was will ich dort? Was ich nun schon hier bis zum Überdruß anhören mußte, etwa mir von der ganzen Familie wiederholen lassen? Oder bilde ich mir nicht schon wieder ein, ein geheimer Zug im Innern meines Herzens ziehe mich hin? ... Ich war mein eigner Narr von jeher. –

Der alte Herr unterbrach sein Selbstgespräch. »Der Name eines Mannes«, fing er an, »kann uns zwar wenig mehr lehren, als wovon uns der erste Anblick und sein ganzes Benehmen unterrichtet: indessen, haben Sie keine Gründe den Ihrigen verschwiegen zu halten, so möchte ich Sie ersuchen, uns damit bekannt zu machen. Mir sind die besten Familien unsers Landes auf eine oder die andre Weise bekannt ... so wie ich selbst den meisten nicht unbekannt sein werde«, setzte er mit einer Art von Selbstbewußtsein hinzu. »Mein Name ist Graf Schwarzenberg, ich bin General in Diensten des Kaisers. Dieser junge Mann Eduard von Usingen, ein Sohn meines verstorbenen Freundes, und bald mein geliebter Sohn, Gemahl meiner Tochter.« – »Ich heiße Florentin.« – »Der Name war mir bis jetzt nicht bekannt.« – »Ich bin ein Fremder.« – »Ihre Bekanntschaft ist mir überaus wert, ich darf voraussetzen, daß Sie mein Haus als das Ihrige ansehen werden; als Ausländer dürften Sie einmal sich in dem Fall befinden, Gebrauch davon zu machen.« – »Ihr Anerbieten«, erwiderte Florentin verbindlich, fordert meine ganze Dankbarkeit; ich wünschte nur diesesmal schon Gebrauch davon machen zu können.« – »Wie so?« – »Ich will meine Reise durch Deutschland abkürzen, und auf dem kürzesten Wege zum nächsten Hafen, wo ich mich nach Amerika einschiffen will, um den englischen Kolonien dort meine Dienste anzubieten.« – »Nach Amerika?« rief Eduard. – »Ihr Vaterland hält Sie nicht?« fragte der Graf. – »Wo ist mein Vaterland?« rief jener in wehmütig bitterm Ton; gleich darauf halb scherzhaft: »Soweit mich mein Gedächtnis zurückträgt, war ich eine Waise und ein Fremdling auf Erden, und so denke ich das Land mein Vaterland zu benennen, wo ich zuerst mich werde Vater nennen hören.« – Er schwieg, und sein Blick senkte sich trübe und ernst.

Bescheiden drang der andre nicht weiter in ihn, und unter Gesprächen verschiednen Inhalts, die bedeutend genug waren, gegenseitig ihre Begierde zu näherer Bekanntschaft zu reizen, langten sie im Park an, der durch eine bloße Weißdornhecke vom Walde getrennt war; sie überließen hier ihre Pferde dem Knaben. »Meine Gemahlin«, sagte der Graf, »hat durch diese Hecke einen Teil des Waldes als Park erklärt, oder zur Freistatt für die Hirsche und Rehe, die, vom Jäger verfolgt, sich hieher retten; denn hier darf weder der Huf eines Pferdes, noch das Anschlagen der Hunde oder ein Schuß gehört werden. Allenfalls läßt sie sich ein fröhliches Jägerstückchen gefallen, damit sie mich bei meiner Zurückkunft von fern höre.«

Sie gingen den Weg gerade durch den Park auf das große hohe Schloß zu, das in den Zeiten der alten Ritter erbaut zu sein schien, über eine Zugbrücke durch einen großen Vorhof, wo ihnen am Gitter zwei Frauen entgegenkamen: ein Mädchen von außerordentlicher Schönheit zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren, und die andre eine ebenfalls sehr schöne Frau, die ihre Mutter zu sein schien. Florentin gewann Fröhlichkeit und Zutrauen beim Anblick der beiden Schönheiten, die ihm der Graf als seine Gemahlin und seine älteste Tochter vorstellte.

»Du lässest uns lange warten heute!« rief die Gräfin ihnen entgegen. – »Dafür meine Liebe, wird dir ein werter Gast zugeführt. Heiße Herrn Florentin bei dir willkommen. Und unsre Kleinen? sie werden ja wohl nicht weit sein?« – »Sie erwarten noch immer im Garten des Vaters Ankunft. Therese war mit einer langen Kette von Blumenstengeln beschäftigt, mit der sie dich festmachen will, damit du nicht immer von ihr gehest.« – »Du siehst mich nun wieder, meine Liebe, unverletzt und am Leben (es hätte leicht anders sein können), und du ahndest nicht, wem du es verdankest?« – »Nächst der Güte Gottes, meinem Gebete und deiner Tapferkeit wüßte ich nicht –« – »Verdankst du es dem jungen Helden hier: komm, ich erzähle dir hernach alles umständlich.« – »Sein Sie mir noch einmal und herzlich willkommen!« sagte die Gräfin, und reichte dem Fremden freudig die Hand, die er küßte. Während dem war auch Juliane wieder näher gekommen, die sich nach der ersten Begrüßung einige Schritte mit Eduard entfernt hatte, der ihr lebhaft etwas erzählte, und dem sie, soviel Florentin wahrnehmen konnte, mit Teilnahme zuhörte. Jetzt ging sie auf ihn zu: »Unser guter Engel führte Sie auf diesen Weg!« flüsterte sie leise und schüchtern errötend.

Eben kamen die Kinder aus dem Garten herzugesprungen, zwei Knaben und ein Mädchen; der Lärm, das Getümmel und Schäkern ward allgemein. Die Kleinen umwanden den Vater mit ihren Ketten und zogen ihn mit ihren Händchen zur Treppe. Der Alte gab sich dem Mutwillen der Kinder ganz hin, und die andern folgten. Es kamen noch einige Hausgenossen hinzu, und man ging zur Tafel.

Florentin fühlte sich leicht und wohl bei der allgemeinen Heiterkeit und der gutmütigen Laune, die durch nichts unterbrochen ward. Man begegnete ihm wie einem längst Bekannten, wie einem Hausgenossen. Die Unbefangenheit der Frauen bei seinem Empfang, die wenigen bedeutenden Worte, der herzliche Ton, der Blick von dem sie begleitet waren, hatten ihn leichter zu bleiben bewogen, als die dankbaren Einladungen der Männer. Auch mußte das offne, zutrauliche, arglose Benehmen der Eltern, Kinder, Geschwister, Hausgenossen, Domestiken gegen einander wohl jeden Zwang und jedes Mißtrauen verscheuchen. Nicht leicht konnte man eine Familie finden, in der so wie in dieser jedes Verhältnis zugleich so rein und so gebildet sich erhielt, die ganz durch einen gemeinschaftlichen Geist belebt zu sein schien, indem jeder einzelne zugleich seinem eignen Werte treu blieb. Hier zum erstenmal bemerkte Florentin die wahre innige Liebe der Kinder zu den Eltern, und die Achtung der Eltern für die Rechte ihrer Kinder. Keiner verleugnete sich selbst, um dem andern zu gefallen, es bestand alles vollkommen gut neben einander. Eben so stimmte alles Äußere zusammen. Allenthalben blickte durch die glänzende etwas antike Pracht die Bequemlichkeit und Eleganz anmutig durch: gleichsam der ernste Wille des Herrn, durch die gefälligere Neigung der Hausfrau gemildert. Ein allgemeines Wohlsein war ringsum verbreitet, eine gewisse Reichlichkeit und unbesorgte Ordnung. Nichts von dem Spärlichen neben der sinnlosen Verschwendung, was man so oft wahrnimmt, wo einseitiges Bestreben nach einem erzwungenen Glanze das übrige armselig erscheinen macht.

Jetzt betrachtete Florentin auch die Schönheit der beiden Frauen mit großer Bewunderung. Julianens Gesicht gehörte nicht zu den regelmäßigen Schönheiten, die man anstaunt, aber deren Mangel an Lebhaftigkeit kalt läßt: das feine Spiel der sprechenden Züge, die so sichtbar alles abspiegelten, was in ihrer Seele vorging, war unwiderstehlich anziehend und liebenswürdig. Sie war im vollkommensten Ebenmaß gebaut, obgleich nicht sehr groß; ein wahrer Reichtum an lichtbraunen Haaren umfloß in vielen Locken und Flechten das schön geformte Köpfchen und den weißen Nacken; an den aufblühenden Busen schloß sich in weichen Umrissen der schlanke Hals, der oft mit anmutiger Schalkhaftigkeit sich seitwärts neigte, und dann sich wieder frei und stolz erhob. Eine blühende Farbe, ein schön geformter Arm, eine länglichte Hand, durch deren Weiße die Adern bläulich hindurchspielten, zarte Finger, die sich in ein fein getuschtes Rot endigten; der helle und doch biegsame Ton ihrer Stimme; der kleine Eigensinn in den nah zusammenstehenden Augenbrauen und in dem etwas aufgeworfnen Munde; die Anmut im Spiel der leicht entstehenden und verschwindenden Grübchen in Wange und Kinn; große dunkelblaue Augen, die bald voll Seele und frohem Leben blitzten, bald tränenschwer, wie taubenetzte Veilchen sich unter die langen seidnen Wimpern senkten, bald mit kindlicher Unbefangenheit vertrauend in ein andres Auge schauten, bald mit großer, beinah zurückschreckender Hoheit um sich her schauen konnten; besonders das Feine, Zarte und doch Entschiedne und Mutwillige, gleichsam Durchsichtige, woraus ihr ganzes Wesen geformt zu sein schien: alles das waren ebenso viele Bezauberungen, von deren vereinigter Macht Florentin nicht ungerührt bleiben konnte. Auffallend war es ihm, wie ihr Bau und ihre Reize bei der beinah noch kindlichen Jugend doch schon so vollkommen aufgeblüht prangten; dieses Wunder glich einem Werk der Liebe, an deren Hauch sich diese junge Knospe eben zu entfalten schien.

Auch Eleonore war eine sehr schöne Frau. Ihn dünkte, wie er ihre hohe, etwas reichliche Gestalt erblickte, über die der Ausdruck der Milde, der innern fröhlichen Ruhe, der mütterlichen Liebe und des Segens verbreitet war, als sähe er ein Bild der wohltätigen Ceres: alles an ihr, sogar die runden Hände trugen das Gepräge dieses Charakters. In ihre schönen blauen Augen sah man wie in einen wolkenlosen Himmel, die blendend weiße Stirn umgaben freundlich blonde Haare in kleinen Ringeln; man konnte sie nicht ansehen, ohne vergnügt zu werden, und jedes Leiden lächelte sie tröstend aus der Menschen Brust.

Wer sich nach dieser vielleicht etwas zu ausführlichen Beschreibung ein deutliches Bild der beiden schönen Frauen machen kann, wird es nicht unnatürlich von Florentin finden, daß er seine Reise und seinen Plan etwas weiter hinausschob, und recht gern die Einladung des Grafen annahm, noch einige Zeit bis nach dem Hochzeitfeste bei ihnen zu verweilen. Es war ihm jetzt schauderhaft, an seine Einsamkeit zu denken, die ihm vor wenig Stunden noch so lieb war. Hätte er auch seinen ersten Vorsatz treu bleiben wollen, der Einladung der wohlwollenden Eleonore, und dem schmeichelnden Blick Julianens war nicht zu widerstehen, und so versprach er zu bleiben.

Nach der Tafel wurden einige schöne Pferde vorgeritten, Florentin lobte sie, und der Graf freute sich, einen Kenner in ihm zu finden. Die Gräfin führte sie nun nach dem Park, wo sie ihnen einige neue Anlagen zeigte, die unter ihrer Aufsicht gemacht wurden. Man ging auf dem Rückwege durch das große schöne Dorf am Fuße des Hügels, worauf das Schloß lag. Auch hier verbreitete Wohlhabenheit und Reichtum sich wie Segen vom Himmel herab. Voll Ehrerbietung, ohne Furcht und ohne knechtische Erniedrigung wurden sie von den Landleuten, die ihnen begegneten, begrüßt. Gesundheit und Vergnüglichkeit leuchtete auf jedem Gesicht, Ordnung und Reinlichkeit glänzte ihnen aus jedem Hause entgegen. Schöne fröhliche Kinder tanzten auf dem Rasenplatze im Schein der untergehenden Sonne; dem Fremdlinge ward das Herz groß, ihm war, als fände er hier die goldne Zeit, die er auf ewig entflohen geglaubt.

Man kam aufs Schloß zurück, nachdem sie im Vorbeigehen die schönen weitläuftigen Wirtschaftsgebäude und einige innere Einrichtungen besehen hatten. Florentin freute sich kindisch an allem, was er sah, und besonders an der freundlichen und leichten Ordnung, mit der alles geleitet wurde. Er hatte, was dahin gehört, immer in so trauriger und widerwärtiger Gestalt gesehen, daß er es für erdrückend und Geist ertötend halten mußte: aber wie ganz anders fand er es hier! Jetzt erkundigte er sich mit Teilnahme beim Grafen nach mancherlei, was ihm fremd war. – »Wollen Sie sich nicht gleich«, sagte dieser, »an den großen Meister selbst wenden, dessen Schüler auch ich bin? Alles was Sie gesehen haben, was Sie hier freut, ist das Werk meiner Eleonore, mich hat sie erst zu dem Geschäft einigermaßen gebildet. Eigentlich leben wir wie unsre deutschen Väter: den Mann beschäftigt der Krieg, und in Friedenszeiten die Jagd, der Frau gehört das Haus und die innere Ökonomie.« – »Glauben Sie nur«, sagte Eleonore, »der Mann, der jetzt eben so kriegerisch und wild spricht, muß manche häusliche Sorge übernehmen.« – »Es geziemt dem Manne allerdings«, erwiderte der Graf, »der Gehülfe einer Frau zu sein, die im Felde die Gefährtin ihres Mannes zu sein wagt.« – »Wie das? darf ich erfahren?« fragte Florentin. – »Nichts, nichts«, rief die Gräfin, »hören Sie nicht auf ihn! Er wird Ihnen bald eine prächtige Beschreibung meiner Taten und Werke zu machen wissen, die darauf hinauslaufen, daß ich ihn zu sehr liebte, um mich von ihm zu trennen. Wollen Sie mein Schüler in der Ökonomie werden, Florentin? dann setze ich mich zur Ruhe und übergebe Ihnen das Hauswesen.« – »Es soll ja den Frauen angehören.« – »Nun gut, so wählen Sie unter den Töchtern des Landes und leben hier in Frieden.« – »Das Recht zu beidem werde ich erst mühevoll erringen müssen, Gräfin Eleonore, jetzt suche ich die Ferne und den Krieg.« – »Bravo!« rief der Graf; »auch bekömmt die Ruhe nicht eher, bis man ihrer bedarf.« – Eduard schien hier in einiger Verlegenheit, Juliane blickte liebevoll zu ihm hin. Das Gespräch nahm eine andere Wendung, und man ging in einen Gartensaal, wo sich bald alles wieder versammelte, was sich von der Gesellschaft nach der Tafel zerstreut hatte.

Juliane setzte sich zum Fortepiano, Eduard und einige andre griffen nach andern Instrumenten: ein recht gut besetztes Konzert war bald zustande gebracht. Juliane spielte vortrefflich, und Eduard war Meister auf dem Violoncell. Eleonore fragte Florentin, ob er nicht musikalisch sei? – »Ich liebe die Musik als die größte Wohltäterin meines Lebens«, erwiderte er; »wie oft hat die Himmlische die bösen Geister zur Ruhe eingesungen, die mich drohend umgaben! Und so bin ich, wenn Sie es so nennen wollen, musikalisch, soviel die Natur mich lehrte, bis zur Kunst habe ich es noch nicht gebracht.«

   

Mit diesen Worten nahm er eine Guitarre, stimmte sie, machte einige Gänge, und sang Verse, die er aus dem Stegereif dazu erfand. Er besang den Strom, der dicht unter den Fenstern des Gartensaals vorbeifloß, das Tal, den Wald, das hohe entfernte Gebirge, von dem die Gipfel noch von den Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet waren, da sie selbst schon lange aufgehört hatte, sichtbar zu sein. Dann sang er von seiner Sehnsucht, die ihn in die Ferne zog, von dem Unmut, der ihn rastlos umhertrieb, und endigte sein Lied mit dem Lobe der Schönheit, unter deren Schutz ihm die Morgenröte des Glücks schimmere, und bei deren Anblick jedes Leiden in seiner Brust in die Nacht der Vergessenheit zurücksinke.

Hier hörte er auf und legte die Guitarre nieder. Seine Worte, die frei und ungebunden und doch sinnvoll und auserwählt, bald groß und ruhig wie der Strom, den sie besangen, dahinflossen, bald kühn mit dem Gebirge sich über die Wolken erhoben, bald wie Abendschein lieblich flimmerten, dann die Schmerzen und Freuden seiner Seele so wundersüß darstellten; seine schöne, reine, akzentvolle Tenorstimme, deren Töne bald von ihm gelenkt zu werden, bald ihn zu übermeistern schienen; die ganz kunstlose Begleitung die immer mit seinen Worten genau übereinstimmte, und seine tiefsten Gefühle, das, was keine Worte auszusprechen vermögen, in die Brust der Zuhörer hinüberströmte: – mit seinem kühnen, halb nachlässigen Anstande, mit der Begeisterung auf dem edlen Gesicht, – es war so wunderbar und ergriff die Zuhörer so seltsam, daß sie ganz hingerissen von der Erscheinung, noch immer in Staunen und Horchen verloren waren, wie er schon eine Weile die Guitarre niedergelegt hatte.

Juliane unterbrach die augenblickliche Stille. »Jetzt ist es an uns, Eduard«, rief sie; »Sie haben es vortrefflich gemacht, Florentin, aber nun sollen Sie auch uns loben müssen.« – Sie suchte unter den Musikalien, die Gräfin setzte sich zum Fortepiano, und begleitete Julianen und Eduard. Sie sangen ein komisches Duett mit vieler Laune und in echt italienischer Manier. Julianens Stimme war überaus süß und schmeichelnd, und sie wußte sie wie eine geübte Künstlerin zu gebrauchen; auch Eduard hatte eine schöne sonore Baßstimme und sang sehr angenehm. Bei der Wiederholung des Duetts begleitete Florentin den Gesang, abwechselnd bald wie eine Flöte bald wie ein Waldhorn singend, es gefiel allen, und die Fröhlichkeit und das Lachen nahm kein Ende. Es wurden nun Erfrischungen gereicht, man scherzte und vergnügte sich bis tief in die Nacht.

»Gute Nacht«, sagte die Gräfin; »ich hoffe, Ihr Entschluß, einige Zeit bei uns zu verweilen, wird Sie nicht gereuen, wenn Sie erfahren, daß Sie es alle Tage ungefähr wie heute bei uns finden. Lassen Sie sich Ihr Schlafzimmer anweisen, und sein Sie morgen früh nicht der Späteste.«


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