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Siebentes Kapitel

Die Gesellschaft lagerte sich bequem, und Florentin fing an zu erzählen:

»Wie ein Traum schwebt mir die frühe Erinnerung vor, daß ich in meiner ersten Kindheit in einem einsamen Hause auf einer kleinen Insel lebte. In dem Hause wohnte niemand, als eine gute freundliche Frau, die Sorge für mich trug und mich keinen Augenblick verließ, und ein etwas ältlicher Mann, der die schweren Haus- und Gartenarbeiten verrichtete, und jeden Tag mit einer kleinen Barke fortruderte, und die nötigen Vorräte einholte. Es befanden sich gewiß noch mehrere Häuser auf der Insel; von diesen erinnere ich mich aber nichts, so wenig als von ihren Bewohnern. Ein paarmal kam eine schöne sehr prächtig gekleidete Dame, von zwei Herrn begleitet, mit der zurückkehrenden Barke. Diese Dame liebkoste mich zärtlich, gab mir Spielzeug und Konfekt, und ich mußte sie Mutter nennen. Einer von den Herren, der auch schön und glänzend gekleidet war, bezeigte meiner Mutter viel Aufmerksamkeit, und war sehr freundlich gegen sie, so wie sie auch gegen ihn. Dem andern Herrn, der, wie ich nachmals erfahren habe, ein Geistlicher war, begegneten beide mit Ehrfurcht. Gegen mich waren beide unfreundlich; sie schalten mich wenn ich mich zu nah an meine Mutter drängte oder nicht von ihrem Schoß fort wollte. Sie waren mir beide verhaßt, besonders der geistliche Herr, dessen Recht mich zu schelten ich immer im Herzen bezweifelte. Der Stolz und die Unfreundlichkeit der beiden Männer hatte einen so verhaßten Eindruck auf mein kindliches Gemüt gemacht, daß ich sie fürchtete, und sie niemals begrüßen oder anreden mochte, so sehr meine Mutter darauf bestand. Empfindlichen Kindern ist Härte und Unfreundlichkeit unerträglicher als jede Entbehrung, die man ihnen mit Güte und Sanftmut auferlegt.

Eines Tages kam unser alter Mann mit der Barke zurück. Er war ganz bestürzt und sprach heftig mit der Frau; diese weinte, küßte mich und stieg mit mir in die Barke. Der Mann fuhr uns an ein fremdes Ufer, wo der Anblick der vielen Menschen und Häuser mich in Erstaunen setzte. Ich ward durch viele Straßen in ein sehr großes Haus geführt, dann durch eine Menge Zimmer, in denen sich viele Menschen hin und her drängten. Die meisten waren schwarz und wunderlich gekleidet, und obgleich es so viele waren, und alle besorgt und beschäftigt schienen, so ging es doch still und feierlich zu. Mein Herz ward kalt bei dem geistermäßigen Anblick, den ich mir so gar nicht erklären konnte. Endlich gelangte ich in ein sehr großes Zimmer, dessen Wände und Fußboden schwarz behängt waren; kein Tageslicht drang hinein, ein paar Wachskerzen mit schwarz umwundenen hohen Leuchtern brannten düster. Ganz am entgegengesetzten Ende stand ein schwarz behangenes Ruhbett, auf dem eine gleichfalls ganz schwarz gekleidete Dame saß, die einen langen schwarzen Schleier über das Gesicht hatte.

Indem ich hineintrat, stand die Dame auf, und ich erkannte die Stimme meiner Mutter; der geistliche Herr bat sie ruhig zu sein, und ging mir entgegen, um mich zu ihr zu führen, ich war vor Angst und Schrecken wie im Fieber, und ich verbarg mich zitternd im Gewand meiner Wärterin. Meine Mutter mochte die Ursache meines Schreckens erraten, sie kam auf mich zu, und legte ihren Schleier zurück, so daß ich ihr Gesicht erkannte; aber ich vermißte schmerzlich den glänzenden Schmuck, den ich sonst mit solchem Ergötzen in ihren Haaren, an Hals und Ohren hatte schimmern sehen. Ich blieb lange furchtsam und ängstlich; man gab mir glänzendes Spielzeug, ich konnte mich aber nicht beruhigen. Endlich ward mir ein kleines Mädchen zugeführt, die mir freundlich zuredete, und den Gebrauch des schönen Spielzeugs kannte; man sagte mir, sie sei meine Schwester; ich spielte mit ihr, und meine Furcht verschwand beinah ganz. Dies war das erste Mal, daß ich ein anderes Kind sah, und meine Freude war sehr groß über diese neue Bekanntschaft. Nun war ich glücklich genug, nur konnte ich mich durchaus nicht an die finstern Zimmer gewöhnen, ich sehnte mich nach der frischen Luft, nach dem Himmel und den Bäumen; meine Mutter begegnete mir mit der größten Zärtlichkeit, ich liebte sie, aber ich ging doch noch lieber mit meiner Wärterin ins Freie. Meine Mutter blieb immer in diesen mir verhaßten Zimmern, sie weinte fast immer, wenn ich sie sah, und ich hörte sie oft wiederholen: mein Vater sei gestorben; aber ich konnte es nicht fassen, ich wußte nicht, wer mein Vater gewesen sei, ich hatte diese Benennung gar nicht zu brauchen gelernt. Meine Mutter sagte mir mit Tränen: der schöne Herr, der mich in ihrer Gesellschaft auf der Insel besucht hätte, wäre mein Vater gewesen. Ich weinte nun auch, und war nicht wieder zu beruhigen; die Wärterin fragte mich: warum ich denn so sehr weinte? Ich wollte es nicht sagen, man drang in mich. ›O daß der Prior nicht mein Vater war‹, schrie ich, ›so wäre der tot, und der andre Herr lebte noch!‹ – Ich erinnere mich jetzt nicht mehr, was auf diesen Ausruf erfolgte, auch nicht, ob der Prior zugegen war.

Von den Hausleuten hörte ich manchmal mit Bedauern sagen: es wäre doch sonst viel anders im Hause gewesen! Ich erkundigte mich dann bei ihnen und bei meiner Schwester, wie es eigentlich gewesen wäre? Ihre Erzählungen gaben mir ein wunderliches buntes Bild von den weltlichen Freuden, die jetzt ganz aus dem Hause verbannt, und an deren Stelle feierliche Unterredungen und Andachtsübungen getreten waren. Meine Schwester wußte nicht viel zu erzählen, außer daß die Mutter damals sehr reiche glänzende Kleider angehabt hätte.

Einigemal hörte ich den Prior meine Mutter erinnern, daß es jetzt die höchste Zeit sei, mir die Erziehung meiner künftigen Bestimmung zu geben, und mich in die notwendige Lebensart einzuführen. Meine Mutter bat ihn aber, ihr die Gesellschaft ihrer Kinder noch nicht zu nehmen, sie würde alles Versäumte wieder nachholen. Ohne daß ich den Sinn dieser Worte verstand, ängstigten sie mich mit trauriger Ahndung, die auch sehr bald erfüllt ward. Meine Mutter ward immer ernster und trüber, und bald auch strenger gegen uns. Anstatt unsrer gewöhnlichen zierlichen leichten Kleidung gab man uns häßliche Kleider von grobem Zeuge, mit klösterlichem Schnitt, und das während derselben Tage, da ich die Freude hatte, daß man die schwarzen Vorhänge aus dem Zimmer meiner Mutter nahm. Die hellen Teppiche kamen nun zum Vorschein, die prächtig vergoldeten Zierraten glänzten mir entgegen, ich war voller Freude über diese Herrlichkeiten; und nun mußte ich diese Kleidung anlegen, die mir schon an den Mönchen, die ich gesehen hatte, so widerlich war. Ich war außer mir, ich wollte es durchaus nicht leiden, keine Drohung konnte mich bewegen. Endlich zog meine Schwester mit stillen sanften Tränen an, was man von ihr verlangte, da ließ ich mir's auch gefallen. Noch mehre Schrecken erwarteten mich an diesem unglücklichen Tage.

Wir wurden zur Mutter herein gerufen; sie war im Gespräch mit dem Prior und noch einem Mann in geistlicher Kleidung, den ich nicht kannte, der mir aber einen so fatalen Eindruck machte, daß ich gewiß den Augenblick, wo ich ihn zuerst gesehen, nie vergessen werde. Er hatte ein finstres kaltes Gesicht wie der Prior, nur daß dieser, ein vollkommen schöner Mann, mit feierlichem stolzen Anstand sich sehr gut zu präsentieren wußte, auch über meine Mutter eine Superiorität hatte, die allen Ehrfurcht einflößen mußte. Der neue Ankömmling war lang und mager, von gelber Gesichtsfarbe, und hatte so durchaus etwas Jämmerliches und Demütiges. Er bückte sich bei jedem Wort, das meine Mutter mit einer Protektionsmiene zu ihm sprach, so furchtsam und ungeschickt. Mir entging nichts von dem allen, meinen Widerwillen wußte ich aber erst später zu erklären. Er ward mir als mein Hofmeister bekannt gemacht, und zu gleicher Zeit sagte meine Mutter zu meiner guten Wärterin, sie wäre von nun an die Hofmeisterin meiner Schwester, die unter ihrer unmittelbaren Aufsicht stehen sollte. Ich beneidete meine Schwester, ich wäre so gern bei meiner Wärterin geblieben. Es erfolgte jetzt ein förmliches Abschiednehmen; meine Mutter küßte mich, und führte mich zum Prior, der mir seinen Segen gab, meine Schwester ward weinend von mir getrennt, der Hofmeister empfing mich aus den Händen des Priors, der ihm Wachsamkeit und Fleiß empfahl. Er führte mich fort, ich folgte ihm halb tot vor Entsetzen und bangem Erwarten. Es war der Anfang einer unglücklichen Reihe von Jahren, der ich entgegenging.

Er führte mich in das für uns bestimmte Zimmer, es war ganz entlegen, und vom geräuschvollen Teile des Hauses entfernt. Eine große schwere Türe, am Ende eines finstern Ganges ward aufgetan. Wir traten hinein, eine kalte Luft umfing mich, ich schauderte, und derselbe Schauder überfiel mich jedesmal, wenn ich hineinkam. Das Zimmer war groß und hoch, gotisch gewölbt, die Fenster ganz oben, und zum Überfluß noch vergittert, die nackten grauen Wände nur von finstern Heiligenbildern verziert. Am einen Ende bedeckte ein großes Kruzifix einen Teil der Wand; drunter ein Tisch, worauf eine Decke und zwei große Kerzen sich befanden; gegenüber unsre Betten, zwei Tische mit Schreibezubehör, ein Repositorium mit Büchern und einige Stühle: das war alles, was diese Gruft enthielt, in der ich vier lange, bange Jahre mit meinem gespensterhaften Aufseher, unter unaufhörlichem Zwang verleben mußte. Ich mochte ungefähr zehn Jahr alt gewesen sein, als ich hineingelassen ward. Seltne spärliche Sonnenstrahlen fielen durch die kleinen Gitter, und diese vermehrten nur immer mehr meine Traurigkeit und meine Sehnsucht nach dem freien Himmel, wenn sie die gegenüber stehende Wand erhellten. Jeden Morgen beim Erwachen fiel mir das Kruzifix in die Augen, auf das oft ein solcher blasser Strahl schräg hinfiel und es so schauderhaft erleuchtete, daß ich davor zurückbebte. Ich habe mich in diesen ganzen vier Jahren an den Anblick nicht gewöhnen können; ich war froh, wenn der Himmel umwölkt war, damit ich die Strahlen nicht mehr sähe, die sonst meine größte Freude gemacht hatten. Seitdem war ich noch oft sehr unglücklich, ich habe Momente der schrecklichsten Verzweiflung erlebt; aber gegen die Bitterkeit jenes Zustandes, in dem ich die lieblichsten Jahre meiner Kindheit vertrauren mußte ... daran reichte seitdem nichts wieder! Wie grenzenlos unglücklich ein Kind sein kann, dem die Hoffnung noch nicht bekannt ist, das nichts hat, nichts kennt als den gegenwärtigen Moment, an dem es mit allen Sinnen, mit aller Kraft und Begierde seiner empfangenden Seele hängt; wenn es abhängig von fremder Laune, fremder Absicht, seine frohen Wünsche, die natürlichen Gefährten seines Alters unterdrücken muß, so daß selbst diese ihm fremd werden ... gewiß hat ein jeder dies irgend einmal erfahren: aber die meisten vergessen diesen peinvollen Zustand wieder, sobald sie darüber hinaus sind. Ja oft rächen sie sich für das ausgestandne Übel wiederum an ihren Kindern, so wie diejenigen gegen ihre Untergebenen am härtesten verfahren, die selbst aus dem Stand der Dienstbarkeit sind. Kinder werden von einer Generation auf die andre als angebornes Eigentum angesehen, das man zu seinem eigenen Vorteil, oder nach Laune, bearbeitet und benutzt. Nun, wenn es unabänderlich so bleiben muß, so ist es nur eine Inkonsequenz, daß die Eltern nicht auch über Leben und Tod ihrer Kinder zu richten haben!

Es hielt schwer, eh ich mich bewegen ließ, bei meinem Hofmeister zu bleiben, der im Hause allgemein der Pater genannt ward. Ich sträubte mich aus allen Kräften dagegen. Endlich ward mir im Namen meiner Mutter notifiziert, daß ich mich durchaus fügen müßte, sonst sollte ich sogleich ins Kloster der Benediktiner, wohin ich durch besondere Vergünstigung des Priors nun erst in vier Jahren zu gehen brauchte. Er hätte aus Gewogenheit für mich und meine Mutter es erlaubt, daß der größte Teil meines strengen Noviziats in ihrem Hause unter der Aufsicht des Paters vergehen dürfte, und für diese Gunst sollte ich doppelt gehorsam und dankbar sein.

Mein Schrecken war übermäßig, als ich erfuhr, daß ich zu den Benediktinern sollte. Der Prior hatte mich einmal im Kloster herumgeführt, mir die Ordnung, Einrichtung und Gesetze erklärt, und trotz dem, daß er mir alles aufs schönste und unter vielen Schmeicheleien vortrug, konnte doch nichts den Abscheu überwinden, den ich mit der größten Heftigkeit gegen Kloster und Mönche faßte.

Er war sonderbar, dieser Haß, denn ich kannte ja die Welt noch nicht, und wußte nichts von ihren Freuden. Aber es war mir immer, als spräche etwas in meinem Innern zu mir: es gibt noch viel schöne Dinge, aber weit von hier! Doch alles, was ich einwenden mochte, half nichts, wollte ich diese vier Jahre noch im Hause meiner Mutter bleiben dürfen, so mußte ich mir alles gefallen lassen; und nun war es beschlossen, daß sowohl ich, als meine Schwester zum Kloster bestimmt wären, und daß wir, dieser Absicht gemäß, schon jetzt unsre Lebensart daran gewöhnen sollten.

Anfangs wurde ich und meine Schwester täglich zu meiner Mutter geführt, nach und nach wurden aber diese Besuche immer seltner, meine Schwester blieb meiner alten Wärterin ganz überlassen, und ich war allein mit dem Pater. Nur an seltnen Festtagen durften wir zur Mutter kommen; auch fanden wir immer weniger Trost bei ihr, sie bezeigte uns zwar viel Liebe, besonders mir; aber sie selbst ward täglich trüber, und den Andachtsübungen immer mehr hingegeben. Mein einziger Trost war meine Schwester, die ich aber nie sprechen konnte als im Garten, wohin mich der Pater regelmäßig jeden Abend führte, wo sie sich dann auch mit ihrer Hofmeisterin einfand; dies war die einzige frohe Stunde, die ich den ganzen Tag hatte; und auch diese war beschränkt, denn der Pater verließ mich keinen Augenblick, und gelang es uns auch, uns allein zu unterhalten, so verging sie unter gegenseitigen Klagen. Das arme kleine Mädchen jammerte besonders sehr über die häßliche Kleidung, die ihr nicht stehen wollte, ich tröstete sie oft, wenn ich weniger übel gelaunt war, und einigemal versicherte ich ihr sogar als eine Prophezeiung, ich würde es, wenn ich erst älter wäre, gewiß ändern, und ich wollte sie frei machen, sobald ich frei wäre. Darauf wußte sie aber niemals etwas zu sagen, sie sah mich mit großen Augen an, und es schien als glaubte sie mir nicht, was mich denn nicht wenig verdroß.

Meine Tage füllten trostlose Studien, die alle darauf abzweckten, mich zu meinem künftigen Stande geschickt zu machen; das kanonische Recht, geistliche Gebräuche, Kirchengeschichte, kurz alles was in dieses Fach gehört: mein armes Gedächtnis ward mit diesen toten Dingen bis zur Zerstörung gemartert. Das Beste, was ich davontrug, war die Kenntnis einiger alten, und der deutschen Sprache; der Pater war ein Deutscher von Geburt, und liebte seine Sprache. Der Prior, der als ein gelehrter Mann bekannt war, hatte es über sich genommen, meine Studien zu dirigieren. Er kam jede Woche einmal und untersuchte meine Fortschritte, es war daher leicht zu begreifen, daß der Pater sein Bestes an mir versuchte. Mit der größten Strenge hielt er mich an, mir Sachen einzuprägen, die ich, Gott sei Dank, in kürzerer Zeit vergaß, als ich zu ihrer Erlernung gebraucht hatte; zur Erholung wurde mir verstattet in den Legenden die Geschichte der Heiligen und Märtyrer zu lesen, deren Gemälde an den Wänden hingen. Auch versuchte ich es oft, mit der Feder die Umrisse dieser Bilder nachzuahmen, welches mir immer gut gelang; mit einiger Anleitung hätte ich vielleicht ein Künstler werden können. Gewiß ist es aber, daß Kinder von lebhaftem Geiste gegen die Dinge, wozu man ihnen durch frühe Gewöhnung eine Neigung zu geben sucht, grade dadurch einen Widerwillen bekommen; nur auf schwache, furchtsame Gemüter vermag die Gewohnheit etwas. Der Abscheu gegen mein Leben und meine Bestimmung nahm mit jedem Tage zu, da alles, was mich umgab, mich bis zur Ermüdung darauf hinwies. Freiwillig und lebensmüde hätte ich sie vielleicht einst selbst gewählt.

Alle erwachsenen Leute erschienen mir nicht allein mürrisch und hart, sondern ganz unverständig und blind, ihre Befehle und Verbote sinnlos und abgeschmackt. Darin ward ich besonders durch einen Zufall aus dem ersten Jahre meines widrigen Lebens bestärkt; ich war nämlich einmal mit meiner Schwester im Zimmer meiner Mutter, sie wollte unsre Fähigkeit im Lesen prüfen. Zufällig war kein andres Buch in der Nähe, als ein Gedicht, das meine Mutter eben gelesen hatte. Ich las einige Verse, in denen das Glück der Kindheit gepriesen ward; meine Mutter war mit der Fertigkeit, womit sie gelesen wurden, zufrieden, und rühmte, indem sie sich zum Pater wandte, die Schönheit der Verse, und die rührende Wahrheit des Inhalts; der Pater stimmte laut mit ein. Schwache Geschöpfe, die in solcher Abhängigkeit leben müssen, glücklich zu preisen, zu beneiden, das war zu toll! Ich ward ganz wütend, weinte, und war durch nichts zu bewegen, noch weiterzulesen, und mußte die Strafe für meinen Eigensinn, wie sie es nannten, erleiden, deren Ungerechtigkeit mich nur noch mehr empörte, und meine Verachtung gegen die geringe Einsicht meiner Vorgesetzten noch vergrößerte. Wie seufzte ich nach dem Moment, mich von den hartherzigen, unverständigen Tyrannen loszumachen, sie nicht mehr fürchten zu dürfen! Ich suchte in den Augen meiner Schwester eine Übereinstimmung mit diesem Gefühle, ohne sie zu finden; das Kind war durch meine erlittne Strafe erschreckt, und las gedankenlos, was man ihr aufgab, mit allem Eifer, bloß um den Beifall der Mutter zu erhalten; ich hatte Mitleid mit ihr, aber mein Zutrauen zu dem schwachen Kinde war verschwunden.

Der Eindruck dieser Begebenheit haftete unauslöschlich in meinem Gemüt; ich war seitdem überzeugt, mehr Verstand zu haben, als die mich beherrschten, und sie betrügen zu dürfen. Weil sie stärker waren und ihre Stärke gegen mich anwandten, so glaubte ich meinen Verstand, als die einzige Waffe, wodurch ich ihnen überlegen wäre, gebrauchen zu müssen. Ich suchte auf jede Weise meine Unabhängigkeit in meinem Innern zu erhalten, je mehr ich meine Handlungen und mein äußeres Leben nach ihrem Willen ordnen mußte. In jeder Meinung ging ich geflissentlich von der ihrigen ab, es war mir genug, daß jene etwas fest glaubten, um starke Zweifel in mir dagegen zu hegen, und grade das Entgegengesetzte anzunehmen. Da ich nun meine Freidenkerei sorgfältig verbergen mußte, so hielt ich mich heimlich für den Zwang schadlos; jeder Akt von Unabhängigkeit, auch der allerunbedeutendste, erfüllte meine Seele mit einem geheimen Triumph, und daß ich nicht gleich auf der Stelle für meine Unwahrheit von Gott bestraft wurde, befestigte mich in meiner Überzeugung. So lebte ich, in anscheinendem Frieden, innerlich in beständigem Krieg mit meinen Vorgesetzten, dachte auch, sie verachteten mich ebenso, wie ich sie, und suchten mich nur zu überlisten.

Wie ward ich nun überrascht und erschüttert, als ich bei einer Krankheit, die ich aus Stolz einige Tage verbarg, der ich aber endlich unterliegen mußte, die Zärtlichkeit meiner Mutter und die Sorgfalt meines Hofmeisters für meine Genesung gewahr ward! Es waren die Blattern, die mit gefährlichen Symptomen herausbrachen. Einige Tage lag ich in heftigen Fieber ohne Bewußtsein; in dem Augenblick, als ich endlich zu mir kam, und noch ganz entkräftet die Augen aufschlug, war das erste, was ich unterscheiden konnte, der Anblick meiner Mutter, die auf ihren Knieen lag, und mit heißen Tränen und geängstigtem Herzen Gebete für ihr Kind zum Himmel schickte. Ich machte eine Bewegung, sie kam zu mir, ich sah sie bleich und ihre Kleidung und Haare zerstreut und nicht in der gewöhnlichen Ordnung; ich erkundigte mich nach der Ursache, da hörte ich: sie wäre in den Nächten meiner Lebensgefahr nicht von meinem Bette gewichen, und hätte sich auch am Tage nicht von mir entfernen wollen, um gehörig auf ihrem Bette zu ruhn, oder sich umzukleiden. Ihre Freude, als sie gewahr ward, daß ich meine Besinnung wieder erlangt hätte, und sie mich wieder ruhig und zusammenhängend sprechen hörte, auch der Arzt versicherte, ich sei jetzt außer aller Gefahr, war unbeschreiblich, und bewegte mich tief. Mein Zustand schien mir selbst höchst abschreckend und ekelhaft; doch hielt er weder meine Mutter noch meinen Hofmeister ab, mir alle möglichen Dienste selbst zu leisten, und Erleichterungen zu verschaffen. Sie verließen mich fast keinen Augenblick, begegneten mir mit nie erfahrner Freundlichkeit, und suchten mir sogar durch kleine Spiele diese Leidenszeit zu verkürzen. Trotz meiner körperlichen Schmerzen war ich zum erstenmal vergnügt; mein Herz erweichte sich gegen diejenigen, die ich für meine Feinde gehalten hatte, und die mich jetzt so freundlich und zärtlich behandelten. Mein Vergehen, sie als Feinde betrogen zu haben, fiel schwer auf mein Gewissen; es drängte mich, mich ihnen zu entdecken, und sie selbst um die Auflösung meiner Zweifel zu bitten. In dieser Aufwallung von frommer Treuherzigkeit legte ich eine vollständige Beichte in Gegenwart meiner Mutter und des Paters ab; heiße Tränen entfielen meinen Augen bei dem Bekenntnis meiner Sünden! Der Moment war entscheidend, denn jetzt hing es von ihnen ab, mich auf immer für sich zu gewinnen. Die Idee vom Kloster ausgenommen, war ich zu allem bereit, was von mir gefordert würde; ja auch zu diesem hätte ich mich vielleicht verleiten lassen, wenn sie mich mit weniger sichtbarer Absicht behandelt hätten; aber sie verstanden mich nicht, dies rettete mich.

Während meiner Beichte waren beide sehr erschreckt, wegen der Tiefe meiner Ruchlosigkeit, wie mein Hofmeister sich ausdrückte, meine Mutter aber wegen meines weltlichen Hanges zur Unabhängigkeit, der durch keine geistliche Übung und Anstrengung zu unterdrücken sei. Während meiner Genesung ward ich mit Schonung behandelt, nur mußte ich mehr noch als vorher, Gebete hersagen, und sonst allerlei von mir verachtete Dinge vornehmen. Mit unbeschreiblicher Geduld verrichtete ich alles, bloß aus Gefälligkeit für die Menschen, die mich liebten, und die ich beleidigt hatte. Daß sie mir mein Unrecht nicht fühlen ließen, hatte ihnen mein ganzes Herz wiedergewonnen.

Ihr Betragen veränderte sich aber, je mehr ich wieder an Kräften zunahm. Mit der möglichsten Strenge ward ich beobachtet; zu unaufhörlichen, mir verabscheuungswürdigen Übungen angetrieben; nicht die allergeringste Freiheit ward mir verstattet; im Hause der Mutter mußte ich vollkommen so leben, als im Kloster; dabei zeigte man mir unaufhörlich das größte Mißtrauen. Ich fühlte mich hier so rein, war es mir bewußt, daß ich durch meine Aufrichtigkeit vielmehr ihr Zutrauen hätte erwerben sollen; ich fand jene so klein, so unedel in ihrem Mißtrauen, und mich so unwürdig behandelt, daß mein Entschluß wieder aufs neue fest ward, mich zu befreien. Wie? und wann? das sah ich, unerfahren und kindisch wie ich war, durchaus nicht ein. Der Zufall kam mir zu Hülfe.

Wir machten unsern gewöhnlichen Spaziergang im Garten; der Prior kam dazu und nahm unsre Aufseher auf die Seite, um etwas mit ihnen zu überlegen; ich blieb mit meiner Schwester in einem bedeckten Gang allein. Auf einmal hörten wir auf dem Hof nebenan einige Stimmen und Pferdegetrappel; neugierig, wie jeder Eingekerkerte, guckten wir durch eine ziemlich große Öffnung der Planke, die unsern Garten von jenem Hofe trennte. Ich erblickte einen Jüngling, der sich in muntrer militärischer Tracht eben auf ein schönes Pferd schwang, und vom Hofe herunterritt. Er war nicht mehr zu sehen, und alles still um uns. Ich betrachtete bald mich, bald meine Schwester. Das Bild des leichten schlanken Jünglings, wie er sich auf das rasche Pferd schwang, einen reichgekleideten Knaben hinter sich, schwebte mir noch immer vor Augen; mein Zustand kam mir ganz unleidlich vor; ich weinte heftig, ich war außer mir, und in einem Zustande von Verzweiflung. Meine arme Schwester versuchte mich zu trösten; es gelang ihr aber nicht eher, bis sie mir versprach, sie wollte ihr möglichstes tun, mich mit dem Jüngling bekannt zu machen.

Wirklich gelang es ihr einige Tage darauf, ihn durch die Planke zu sprechen, und ihn zu bitten, den andern Tag in derselben Stunde wieder an dem Ort zu sein, zugleich sagte sie ihm von meiner Begierde, ihn zu sprechen. Sie gewann ihre Hofmeisterin für mich, die mir noch immer sehr gewogen war, öffentlich aber nichts für mich tun konnte.

Den andern Tag, als wir im Garten waren, entfernte sie sich um die bestimmte Zeit mit dem Pater und meiner Schwester, die nur unter der Bedingung nicht dabei zu sein, sie in ein so gewagtes Unternehmen hatte hineinziehen können. Ich blieb allein am bestimmten Ort, der Jüngling erschien bald darauf, nicht wenig neugierig auf eine so abenteuerliche Zusammenkunft. Mit wenigen Worten, und ohne Zeitverlust, sagte ich ihm kurz die Ursache, warum ich seine nähere Bekanntschaft wünschte, bei welcher Gelegenheit ich ihn zuerst gesehen, und welche Hoffnung ich gleich beim ersten Anblick von ihm gefaßt habe; zugleich machte ich ihn mit meiner ganzen Lage bekannt. Er nahm auf der Stelle den wärmsten Anteil an meiner Not, beklagte mich, versprach mir seine Hülfe und seinen Rat in allem, was ich unternehmen wollte, und gewann mein ganzes Herz durch sein edles Wesen. Er bestärkte mich in meinem Vorsatz, mich mutig zu widersetzen, vorher aber sollte ich zu erlangen suchen, daß wir freundschaftlich zusammen umgehen könnten. Wir trennten uns, da ich die Stimmen der übrigen vernahm, mit dem gegenseitigen Versprechen, uns bald wiederzusehen.

Ich hatte neuen Mut durch diese Bekanntschaft gewonnen; und die erste Wirkung davon war die, mich nicht ferner zu verstellen; jetzt verachtete ich meine Unterdrücker mehr, als ich sie fürchtete.

Den andern Morgen sagte ich dem Pater in einer ordentlichen Anrede: ich dankte ihm für seine bisherige Bemühung, der er aber von nun an überhoben sein sollte, weil es mit meinen Studien vollkommen aus wäre! Wollte er mich aber etwa zum Studieren zwingen, so würde ich sogleich zu meiner Mutter gehen und es ihr selber sagen, daß ich unter keiner Bedingung ins Kloster gehen, noch auch die geistlichen Studien weiter fortsetzen wolle; ich sei fest entschlossen und ganz bereit, mich jeder Begegnung auszusetzen, um mich frei zu machen. Der Pater war wie aus den Wolken gefallen, als er mich diese Sprache führen hörte, und wollte einiges versuchen, mich wieder zum alten Gehorsam zu bringen; da er mich aber unwandelbar entschlossen sah, nahm er plötzlich eine ganz andre Miene an. Der arme Teufel mochte wohl fürchten, seine gute einträgliche Stelle, und die künftige Versorgung, die ihm der Prior zugesagt hatte, zu verlieren, wenn ich mich meiner Mutter entdeckte; er wußte, diese würde den Fall sogleich dem Prior mitteilen, der dann vor allen Dingen einen andern Hofmeister für den rebellischen Knaben herbeischaffen würde; eine Veranstaltung, die zuerst den Pater zu seinem eignen Nachteil hätte betreffen müssen. Nach einigem Bedenken fragte er mich nach meinem Plan, sagte viel zu seiner Verteidigung: wie ich ihn verkennte, wie er mich im Herzen immer bedauert hätte, und mir aufrichtig zugetan sei; da es ihm aber aufgetragen wäre, mich so zu behandeln, so hätte er seine Pflicht doch tun müssen. Verlassen wollte er mich aber auf keinen Fall, und hier würde Gott es ihm verzeihen, wenn er, im Zweifel über seine Pflicht, seinem Herzen folgte; und was der Worte mehr waren. Sobald ich nur merkte, daß es sein Vorteil sei, mir nichts in den Weg zu legen, hörte ich nicht weiter darauf. Alles was er für mich tun könnte, sagte ich ihm, wäre, mir die Erlaubnis zu geben, daß ich den Sohn unsers Nachbars, des Marchese, besuchen dürfte, mir auch unverzüglich und insgeheim ein Pferd und eine anständige Kleidung für mich anzuschaffen, dies alles dann dem jungen Manfredi zu überbringen, und soviel möglich mir zum Ausgehen zu verhelfen.

Er versprach alles, nur sollte ich Sorge tragen, daß er mich nicht verlassen dürfte; ich gab ihm mein Wort, und von dem Augenblick schwur er mir ganz ergeben zu sein. – Ich traute ihm viel zu leicht: wahrscheinlich hätte er mich bei der nächsten Gelegenheit verraten, wenn er Zeit dazu gefunden hätte, aber es nahm schneller eine gute Wendung, als ich selber hoffen durfte. Ich ging sogleich zu meinem jungen Freunde, der Pater begleitete mich, damit es im Hause keinen Verdacht erregte, wenn man mich ohne ihn ausgehen sähe. Zu meinem Freunde ließ er mich aber allein, nachdem wir einen Ort verabredet hatten, wo wir uns jedesmal wieder antreffen wollten. Die Freude, die wahrhaft kindische Lust, als ich nun im Zimmer meines lieben Manfredi war, und in Freiheit mich mit ihm unterhalten konnte, beschreibe ich euch nicht. – Ich machte ihm bekannt, wie weit ich in der Insurrektion gekommen wäre, und daß er nun das Pferd, was mir der Pater verschaffen würde, versorgen, und meine Kleider bei sich verbergen möchte, die ich dann immer bei ihm anlegen wollte, so oft wir zusammen ausritten; denn daß ich gleich zuerst wollte reiten lernen, versteht sich von selbst, mein guter Manfredi wollte mein Meister sein. In unsern heißen Köpfen fand dieser ganze Plan nicht die geringste Schwierigkeit, mein Freund versprach mir alles, was ich verlangte; was am Ende daraus werden sollte, das wollten wir ein andermal überlegen, in diesem Augenblick hatten wir vor aller Herrlichkeit keine Zeit dazu. Ich war bei meines Freundes Fechtübungen zugegen, und sogleich ward beschlossen, auch ich sollte heimlich teil daran nehmen. Jetzt wußte ich bestimmt, daß ich Soldat werden wollte, und Manfredi bestärkte mich in diesem Vorsatz. Ich lief ganz voll von allem, was ich gesehen, und betäubt von tausend Empfindungen zu meinem ehrwürdigen Hofmeister, den ich antrieb mir das Nötige herbeizuschaffen.

Als ich das nächste Mal zu Manfredi kam, fand ich seinen Vater bei ihm, und er stellte mich diesem so vor, daß ich merken konnte, er hätte ihm von mir etwas gesagt. Ich war ängstlich, ich hatte noch immer eine gewisse Furcht vor allen erwachsenen, älteren Leuten, als den Feinden der jungen. Der Marchese flößte mir aber bald Zutrauen ein, er begegnete mir freundlich und mit Schonung. Als ich einigen Mut gefaßt hatte, fragte er mich nach den genauern Umständen meiner Geschichte, Manfredi hatte ihm nur das Allgemeine davon mitgeteilt. Ich erzählte nun meine Lebensart, klagte über den Zwang zu Studien, die mir Langeweile machten; daß ich zum Kloster bestimmt, aber entschlossen wäre, mich bis in den Tod zu widersetzen; daß an dieser Härte und diesem Zwang niemand schuld wäre, als der mir fatale Prior, der Beichtvater meiner Mutter, dem sie nicht allein das Heil ihrer Seele, sondern auch die Führung aller weltlichen Dinge anvertraut hätte. ›Ja‹, rief ich mit dem größten Affekt, ›ich will lieber den Tod als das Kloster! ich will die abscheulichen Mönchskleider nicht länger tragen! ich will nicht aussehen wie diese Mönche, und nicht werden wie sie; dazu hat man mich schon seit der zarten Kindheit gewöhnen wollen.‹ Ich klagte sogar mit der größten Bitterkeit, daß mir schon angekündigt wäre, mir in den nächsten Tagen die Haare abzuscheren, die ich, eitler törichter Weise, zu sehr liebte. Bis jetzt hatte sie meine Mutter trotz der Vorstellungen des schrecklichen Priors immer noch erhalten, weil sie selbst sie liebte; nun sollten sie aber herunter, weil sie befürchtete, ihr Herz zu sehr an diesen weltlichen Schmuck zu hängen. –

Sie lächeln, Juliane, über die Wärme, mit der ich dieser kindischen Eitelkeit erwähne! Sie können aber wohl schwerlich denken, wie entsetzlich mir die Idee war, ebenso auszusehen wie die Mönche mit ihren geschornen Köpfen: meine Haare hielt ich noch für das einzige, was mich von dieser verhaßten Klasse unterschied, das Seil, das mich noch in gewissem Sinn an die Welt knüpfte, die ich durchaus nicht verlassen wollte, die ich erst wollte kennen lernen; diese Haare sollte ich nun lassen!« – »Nun, lieber Florentin«, rief Juliane, »halten Sie sich nicht auf, was sagte der Marchese zu Ihrer tragischen Erzählung?« – »Dem Marchese schien sie Vergnügen zu machen, er lächelte einigemal mit Bitterkeit, als ich vom Einfluß des Priors auf meine Mutter sprach. In der Folge erfuhr ich, daß er durch die Einmischung der Geistlichen in Familienangelegenheiten schon eine schreckliche Zerrüttung bei einem seiner Freunde erfahren, und seitdem allem was zum Mönchstume gehörte, den unversöhnlichsten Haß geschworen habe. Er ist sowohl durch seine Herkunft als durch sein Vermögen von großem Einfluß, und gebraucht diesen so viel er vermag, und mit der größten Vorsicht und Klugheit, um allen Orden zu schaden, wenigstens ihrem zu großen Einfluß entgegenzuarbeiten.

Er fragte mich, wozu ich entschlossen wäre, und was ich zunächst tun wollte? Ich entdeckte ihm mein Verständnis mit dem Pater, und wie ich, sobald mich Manfredi in den notwendigsten Stücken würde unterrichtet haben, gesonnen sei, davonzugehen, und im Auslande Soldat zu werden. Mit dem letzten war der Marchese zufrieden, aber die Heimlichkeit wollte er nicht billigen. Er drang darauf, mich meiner Mutter zu entdecken. Ich erinnerte ihn, wie meine Mutter so ganz von ihrem Beichtvater abhinge, und daß ich von diesem ja auf keine Weise etwas hoffen dürfte. ›Gegen jeden Mann von Ehre‹, setzte ich keck hinzu, ›und der mit gleichen Waffen gegen mich ficht, werde ich offen und ohne Rückhalt handeln und sprechen, aber gegen diese Menschen halte ich die List für erlaubt, sie ist mein einziger Vorteil gegen sie.‹ Den Marchese belustigte wahrscheinlich mein kindischer Eifer, denn er ließ mich eine gute Weile deklamieren. Endlich sagte er: ›Nun gut, mein junger Freund! beruhigen Sie sich nur. Sie haben recht, Sie dürfen sich nicht aussetzen, ich werde Ihre Sache führen, hoffentlich soll es mir gelingen Sie frei zu machen, nur versprechen Sie mir, nichts ohne mein Vorwissen zu unternehmen.‹ Ich versprach alles, was er wollte, in der Freude einen Beschützer an den Vater meines Freundes gefunden zu haben. Jetzt gedachte ich auch meiner armen Schwester, die, wie ich mir einbildete, in derselben angstvollen Lage seufzte. Der Marchese erkundigte sich näher nach ihr; da nahm Manfredi das Wort, und beschrieb ihre rührende Schönheit, ihre Sanftmut und Geduld mit einiger Wärme. Der Marchese hörte ihn ernsthaft an und sagte dann: ›Es tut mir leid, für Ihre Schwester kann ich nichts tun; Familienverhältnisse machen es für die Töchter oft zur Notwendigkeit den Schleier zu nehmen, und nach allem, was mir Manfredi sagt, scheint sie sich recht gut in dieses Schicksal zu fügen.‹ Ich wollte ihm vom Gegenteil überzeugen: – ›Nein, nein‹, fuhr er fort, ›es geht nicht an, für Ihre Schwester läßt sich nichts tun, und es wäre sehr gut, wenn ihr junge Herrn ihr nicht Hoffnung machtet, und sie von dem Wege ablenktet, den sie gehen muß. Was aber Sie betrifft, verhalten Sie sich ganz ruhig, Sie sollen bald frei sein. Ein Jüngling sollte niemals zum Kloster bestimmt werden, so lange man noch Köpfe und Arme in der Welt braucht, und so lange es Armeen gibt.‹

Ich folgte dem Marchese, und blieb ruhig auf meinem Zimmer, beim Pater wurden meine Aufträge widerrufen, und ihm nur empfohlen ein wachsames Auge auf das zu haben, was bei meiner Mutter vorginge, und es mir zu hinterbringen. Einige Tage darauf kam er besorgt zu mir, und erzählte: er wäre zu meiner Mutter gerufen worden, wo er den Prior gefunden hätte; beide hätten mit Heftigkeit geredet, indem er hineingetreten sei, und ihn scharf befragt: wo ich den Marchese gesprochen hätte? und bei welcher Gelegenheit? Er, der Pater, hatte sich dann völlig entschuldigt, und versichert er wüßte von nichts, er wollte mich aber darnach fragen. Dies wäre ihm gestattet worden, und nun wollte er sich bei mir erkundigen, was er berichten sollte? Es ward nun geschwind etwas ersonnen, das ziemlich glaubwürdig klang, und wobei der Pater zugleich von jedem Verdacht frei blieb, und alles allein auf mich fiel. Er gab mir zugleich Nachricht von einigen ernsthaften Unterredungen, die meine Mutter mit dem Prior gehabt, endlich ward ich vorgerufen; der ehrwürdige Pater empfahl mir noch einmal sein Heil, und nun trat ich nicht ohne Herzklopfen und bange Erwartung in meiner Mutter Zimmer.

Hier hatte ich einen schweren Auftritt zu überstehen. Ich ward genau aber ohne Strenge vernommen; dann wandten sowohl meine Mutter als der Prior jede Überredung, jede Schmeichelei an, mich zu bewegen, daß ich mich freiwillig zum Kloster entschließen sollte. Meine Mutter weinte, bat, rief mir jede Erinnerung ihrer mütterlichen Zärtlichkeit ins Gedächtnis zurück, beschwor mich mit aufgehobenen Händen, mit den rührendsten Gebärden, ihr alles was sie je für mich geduldet hätte durch diesen einzigen Entschluß, der das ewige Heil meiner Seele und ihrer eigenen sicherte, zu belohnen. Ich war wie gepeinigt, konnte nicht sprechen, nur durch meine Liebkosungen suchte ich sie zu beruhigen; im Schmerz, die Frau, die ich ehrte, so leiden zu sehen, und um meinetwillen, aus Sorge für meine ewige Seligkeit so leiden zu sehen, konnte ich durchaus meinen Widerwillen nicht wieder finden; halb war ich erweicht, und wirklich in Gefahr nachzugeben; in dem Augenblick fing aber der Prior an, mit seiner fetten Stimme, die mir in den Tod zuwider war, mir die großen Vorteile der Abgeschiedenheit von dieser verderbten zur ewigen Verdammnis lebenden Welt vorzuzählen, und mir mit allen Höllenstrafen für meine Widersetzlichkeit gegen meine Mutter zu drohen. Da fiel mir mein guter Manfredi ein, und sein vortrefflicher Vater, und daß ich, wenn ich standhaft bliebe, ein Pferd haben und Soldat werden sollte; dies brachte mich zu mir selbst, und ich war gerettet. Dem Prior antwortete ich nicht, aber meiner Mutter mit einer für mein Alter seltnen Entschlossenheit und Festigkeit.

Wie es der Marchese angefangen hatte, begreife ich noch jetzt nicht; denn ich weiß gewiß, er hat mit meiner Mutter selbst nicht einmal gesprochen: kurz, ich ward befreit, und das Resultat aller Überlegungen und Unterredungen war, daß ich nach einer nicht sehr entfernten großen Stadt, in die adeliche Militärschule daselbst geschickt ward, um mich dort in den nötigen Übungen geschickt zu machen, eh ich in Dienste treten konnte. Mein Hofmeister, auf den nicht der geringste Verdacht fiel, bekam die Versorgung nun noch früher, als er gehofft hatte, er tröstete sich also für meinen Verlust, und mir war es auch nichts Geringes, ihn so auf gute Art los zu werden. Der Abschied ward mir leicht; meine arme Schwester grämte sich aber recht herzlich, daß ich mich von ihr trennen mußte. Das arme Kind war nun ganz den Menschen überlassen, die sich der Schwäche ihres Charakters bedienten, um sie nach ihrer Willkür zu lenken. Sie fühlte ihre Abhängigkeit, aber diese drückte sie nicht so wie mich; doch ich konnte es mir gar nicht denken, daß sie nicht ebenso unzufrieden sein müßte. Beim Abschied steckte ich ihr einen Zettel zu, ich riet ihr darin mir zu schreiben, wenn ich ihr helfen sollte, ihre Hofmeisterin würde mir zuliebe gewiß ihre Briefe bestellen.

Jetzt erwartete mich aber noch eine große Freude: Manfredi kam, und kündigte mir an, daß er mit mir reise. Er war zwar älter als ich, und hatte seine Übungen schon vollendet, da der Marchese ihn aber so jung nicht zum Regiment schicken wollte, so hatte er in die Bitte des Sohns gewilligt, in meiner Gesellschaft sich noch in manchen Dingen vollkommner zu machen, und mich auch, da ich so völlig ohne Welt war, und man mich auf eine so unverzeihlich nachlässige Weise ganz allein reisen ließ, dort einzuführen, und meine Studien zu dirigieren. Auffallend war es in der Tat, wie man mich nach der strengsten Aufsicht plötzlich mir selbst überließ, ohne Führer, ohne Ratgeber, als ob ich von nun an für vogelfrei erklärt wäre. Man hielt mich von dem Augenblick an wahrscheinlich für einen Raub des Satans und jede Sorgfalt für ganz unnötig.

Der Marchese billigte gleich den Vorsatz seines Sohns, und befestigte ihn noch darin. Meine Erziehung schien ihn zu interessieren. In der Folge glaubte ich zu bemerken, daß es ihm auch darum zu tun war, Manfredi von meiner Schwester zu entfernen; damals fiel es uns aber beiden gar nicht ein, wir freuten uns herzlich beisammen zu sein, und waren dem gütigen Marchese dankbar für seine Wohltaten. Ich war damals etwa vierzehn oder fünfzehn Jahr, Manfredi einige Jahre älter. Es war in derselben Jahreszeit, in der wir jetzt sind, daß ich zuerst die schöne Welt frei betrat, an der Hand meines guten Manfredi.« – »Ach«, rief Juliane, »ich schöpfe endlich freien Odem! Ich fand keinen Ausweg für Sie, und ängstete mich gewaltig, Sie endlich dennoch unter den Mönchen zu sehen; es wollte mir gar nicht deutlich werden, daß Sie nun hier sind, und kein Mönch haben werden müssen.« – »Florentin«, fiel Eduard ein, »hat so gut erzählt, man mußte es ganz aus den Augen verlieren, daß es eigentlich seine Geschichte sei!« – »In der Tat«, sagte Juliane, »ich hätte nie geglaubt, daß er so zusammenhängend und in einem Strome fort reden könnte.« – »Ich kann nicht finden, daß ich so gut erzählt hätte, denn anstatt die einfache Geschichte geradeweg zu erzählen, bin ich in den Konfessionston hinein geraten. Es ist die Erinnerung meiner Kindheit, die einzige Epoche meines Lebens, die mich interessiert, die mich so schwatzhaft gemacht hat. Zum Glück ist es hier nun aus, denn ich bin es selbst müde.« – »Wie? Aus?« – »Ja, aus! denn was mir nun noch zu erzählen bleibt, ist des Erzählens kaum wert, und läßt sich in ein Dutzend Worten ungefähr fassen; nämlich die eine, bis zur Ermüdung wiederholte Erfahrung: daß ich eigens dazu erkoren zu sein scheine, mich in jeder Lächerlichkeit bis über die Ohren zu tauchen, immer nur von einem Schaden zum andern etwas klüger zu werden, mich immer weniger in das Leben zu schicken, je länger ich lebe, und zuletzt der Narr aller der Menschen zu sein, die schlechter sind als ich.« – »Nicht so gar bitter, lieber Florentin«, sagte Eduard freundlich; »vergessen Sie nicht, daß dieses mehr oder weniger das Schicksal aller Jünglinge ist, nur wirkt diese Allgemeinheit verschieden auf die verschiedenen Gemüter.« – »Ja wohl, aber eben das ist es«, sagte Florentin, »daß es grade auf mich so und nicht anders wirken mußte! Ist denn diese Verschiedenheit nicht eigentlicher das Schicksal zu nennen, als die äußern Begebenheiten?« – Juliane unterbrach ihn: »O lieber Florentin, nur einige von Ihren Erfahrungen, wie Sie sie nennen, erzählen Sie noch, ich bin sehr begierig zu hören, wie man Sie so oft hat zum besten haben können, man muß es doch eigen angefangen haben.« – »Auf die einfachste Weise von der Welt, das sollen Sie hören.

Manfredi und ich waren unzertrennlich während unsers Aufenthalts auf der Akademie: noch liebe ich ihn immer herzlich, und ich wünschte wohl, wir träfen noch einmal im Leben zusammen, wir waren uns gewiß echte Freunde, obgleich wir, dem Äußern nach, eben nicht für einander paßten: ich war immer wild, ausgelassen, einigermaßen tollkühn und roh; er hingegen sanft, liebend, von schöner Gestalt, und edlem Gesicht, feinem Anstand, tadellosen, wahrhaft altadelichen Sitten, strengen Grundsätzen über die Ehre; und doch zog uns diese Verschiedenheit vielmehr gegenseitig an. Er konnte am ersten mich von irgend einer Ausgelassenheit zurückführen, dagegen konnte ich sicher auf ihn rechnen, wenn es darauf ankam, irgend etwas Rechtes auszuführen, oder wenn meine Ehre zu retten war. Hatte ich zu irgend etwas mein Wort gegeben, so half er es lösen, wenn auch mit Lebensgefahr. War es aber vollbracht, so mußte ich oft die ernsthaftesten Verweise wegen meiner Unbesonnenheit von ihm hören. Von niemand hätte ich sie ertragen, als von dem, der den Mut und die Liebe hatte, alles für mich zu wagen. O du mein guter Genius, der du meine Jugend, mein schönstes Dasein schütztest, warum haben wir uns trennen müssen? Seitdem, mein Manfredi, wandre ich einsam und in der Irre.« – Florentin sagte diese letzten Worte mit einer vor Rührung erstickten Stimme, er hob sein Auge mit Wehmut empor, dann schwieg er, in Gedanken verloren. Eduard nahm seine Hand; Florentin blickte ihn an und sah Tränen in seinen Augen glänzen, er warf sich in seine Arme: – »Ich verstehe den Vorwurf dieses Händedrucks, mein guter Eduard! Nein, ich bin jetzt nicht mehr allein, nicht mehr in der Irre! ich habe wieder ein Herz gefunden, das verdient neben dem Andenken an meinen Manfredi zu stehen! Ich bin dein, Eduard, auf immer!« – »Ewig dein, mein Florentin!« – Sie hielten sich in fester Umarmung umschlossen. – »Schließt mich nicht aus, aus eurem Bunde«, sagte Juliane, »auch ich bin euer!« – Eduard umarmte sie zärtlich; sie beugte sich gegen Florentin, er berührte freundlich lächelnd ihre Stirn mit seinen Lippen.


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