Johannes Schlaf
In Dingsda
Johannes Schlaf

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Dämmerstunde

Dieses Nest und immer wieder nur dieses Nest! Jawohl! ... Denn dieses Nest ist die Welt, ist alles in allem; ebensogut wie euer Berlin da oder sonst ein Erdenfleck!

Herrgott! War ich denn wirklich so naiv? Glaubte ich, es gäbe hier nur Blumen, Berge, Getreidefelder und Wiesenwässerchen? Ich könnt es mir hier im Grün und in der Sonne wohl sein lassen? Mich »erholen« und – nur erholen?

Da lag ich und wußte besser Bescheid.

Aber es gab mich doch endlich ein wenig frei, das Entsetzliche, Abscheuliche, das ich heute erleben mußte. Endlich! – Bis hierher hatte es mich verfolgt, in diese stille Dämmerstunde.

Wie wohltuend, wie beruhigend alles um mich her.

Die Abendschatten wachsen. Dunkler und dunkler. An den Wänden schieben sie sich in die Höhe, oben über die Zimmerdecke und unten über die weißen Dielen. Verstohlene Lichter spielen wunderlich hinein.

Eine Lehne glänzt aus dem Dunkel auf. Goldig schimmert ein Stück Bilderrahmen. Die Gardinenkanten werden wunderliche Gesichter, die sich dehnen und zusammenziehen. Aus Licht und Schatten wird um Schrank, Tisch und Stühle, überall um mich her, ein stillgeheimes Leben wach.

In zarten, opalfarbenen Ringen windet sich der Rauch meiner Zigarette hier vom Sofa durch die stille Dämmerung gegen das offene Fenster hin. Auf dem Tisch davor knistert und wispert es in den Papieren.

Müd verebbt das Leben um mich her in die stille Nacht hinein.

Ein fernes Hundegebell. Ein paar verzitternde Glockenklänge. Ein Ruf. Eine Fledermaus, die schwarz am Fenster vorüberhuscht mit zittrigem, weichem Flug. Ein Nachtschmetterling, der gegen die Scheibe purrt. Ein Vogelruf. Das leise, leise Rauschen unten vom Garten her. Ein verloren hergewehter Blumenduft. Zwei Sternchen, silbern aufflimmernd in dem zartlila Stück Himmel, stet und still, oben zwischen den Gardinen.

Und die köstliche, atmende Kühle...

Und die Schatten wachsen und wachsen. Und der Mond und die Sterne leuchten herein mit dem stillen Abglanz unbekannter Wellen ...

»O Trost der Welt, du stille Nacht!«

* * *

Jetzt könnt ich's auch ertragen, wieder daran zu denken. Es war mir nun wie traumhaft.

Gegen vier Uhr am Nachmittag war es gewesen, als es draußen Lärm gab. Wie ich hinaussehe, wälzt sich schreiend und gestikulierend ein Knäuel Menschen die Gasse herab. Vorweg wackelt neben dem Schulzen, der ein sehr verlegenes und ärgerliches Gesicht aufgesteckt hat, der alte Wallenser, der Dorfpolizist, in seiner verschossenen grünen Uniform, das Gewehr über die Schulter gehängt, mit seiner großen Schirmmütze und seinem gemütlichen dicken Bauch. Die hohe Obrigkeit sollte wohl wieder mal Rat schaffen ...

Schnaufend stolpert er vorwärts mit seinen kurzen Beinchen, umdrängt von der aufgeregten Menschenmasse, ganz verwirrt von den vielen Armen, die vor seiner friedlichen Schnapsnase umherfuchteln.

Und so quetschte sich der ganze Knäuel, bunt und wirr, nebenan zwischen den grellweiß gestrichenen Türpfosten durch in den Hof des Kossäten. Der Schweif Kinder hinterher, barfüßig und strubbelköpfig, blieb draußen und umlungerte die Tür.

Ich warf schnell meine Feder zwischen die Papiere, griff nach meinem Hut und machte mich hinüber ... Nun!

Auch aus Neugier ...

* * *

Wie ich auf dem Hof ankam, drängte sich alles mit vorgerecktem Hals, dickt neben der Tür zum Wohnhaus, im Halbkreis um etwas herum. Bunte Weiberröcke; schmutzige, erdfarbene Mannskleider; Hemdärmel, blendend weiß in der Sonne; zerfurchte, bronzebraun gebrannte, knochige, breite Gesichter; geballte Fäuste und ausgereckte braune Arme; Geschrei, Heulen, Fluchen, Drohen, Schimpfen und Zetern.

Ich zwängte mich durch bis in die vorderste Reihe, halb betäubt von dem Lärm, wie sie erklärend auf mich einschrien und losgestikulierten, halb erstickt von dem Schweißgeruch so vieler Menschen in der glühend heißen, drückenden Prallsonne.

Und da sah ich's denn, das Furchtbare, Scheußliche, über alle Beschreibung Entsetzliche ...

Dicht neben der Tür auf einer sauber gescheuerten Wassereimerbank lehnte ein Wesen gegen die gelbgestrichene Hauswand, ein Wesen ... O Herr mein Gott! Dieses mit fahlgelber, dreckstarrender Haut und stinkenden Lumpen umschlotterte Scheusal war nun ein Mensch, ein menschliches Wesen! – Im Schädel – ein mit Haut überzogener Totenschädel – tief in den dunklen, runzligen Höhlen ein Paar rote, triefende, gegen die Hundstagssonne zwinkernde Augenritzen. Ein tief eingesunkenes, zahnloses Maul. Auf dem halbkahlen Kopfe, der über und über von dickem Schmutz und schuppigem, blutigem Schorf starrt, ein paar weiße Haarsträhnen in die Stirn mit den tief eingesunkenen Schläfen. In den Kleidfetzen dicker Stallmist und fauliges Stroh. Der eine Ärmel ist ganz herausgerissen, so daß der runzlige, stockdürre Arm bloßliegt. Unten vor, kraftlos baumelnd, ein Paar entsetzlich abgemagerte, nackte, verkrüppelte Füße. Und das alles hell und grell in der erbarmungslosen Sonne, so daß sich jede Einzelheit aufdrängt ...

Ich erfuhr: Das arme Wesen war die Mutter des Kossäten. Es war bekannt, daß es die arme Frau schlecht hatte. Sie war zu zäh und war doch, kindisch und blöde in ihrem hohen Alter, zu nichts mehr zu gebrauchen, überall im Wege. Sie wollte nicht früh genug sterben. Und sie hatte sich doch ihr ganzes mühseliges Leben hindurch gehörig abplagen müssen und Ruhe reichlich verdient, ein bißchen Ausruhen in ihrem Alter ...

Seit langem hatte sie niemand mehr zu sehen bekommen. Das war weiter nicht aufgefallen, denn die paar Leute, die hier ein und aus gingen, hatten keine Zeit, sich nach ihr zu erkundigen, und auch kein Interesse. Da hatten aber vor kurzem eine Magd und ein Knecht im Nachbargarten, wo sie sich gegen die Nacht hin Stelldichein gaben, plötzlich ein merkwürdiges, unerklärliches Winseln und Wimmern gehört. Immer wieder und wieder. Mehrere Abende hintereinander.

Zuerst hatten welche gemeint, es »spuke«, weil es mit dem alten Gehöft sowieso nicht »seine Richtigkeit« hatte. Aber schließlich waren doch Nachforschungen angestellt worden, und da hatten sie das arme Wesen in seinem dumpfen Kellerloch entdeckt.

Und nun lag es da in der hellen Sonne ...

Ich beobachtete den Kossäten und seine Frau. Er, leichenblaß bis unter die schwarzen Haare, mit breiten zuckenden Kinnladen und trotzigen kleinen Augen, die unstet hin und wider gingen; die wulstigen Lippen fest zusammengepreßt. Ab und zu zuckte er mit dem Kopf zurück, wenn ihm eine Faust zu nah gegen das Gesicht fuhr. – Sie, eine große, knochige Person, breitschultrig und breithüftig, ein wahres Arbeitstier, strotzend von Gesundheit und Kraft. Sie stierte mit vor Angst dummen quellenden Augen hin und her, bewegte lautlos die Lippen und zitterte über den ganzen Körper. Hin und wieder machte sie eine schützende Bewegung gegen ihren Mann hin, wenn die Leute zu nahe gegen ihn andrängten.

In der Haustür die Kinder. Ein halberwachsener Junge und ein Mädchen in stummer, erstarrter Angst, und auf der sonnigen Türschwelle saß mit ausgespreizten, nackten Beinchen im roten Röckchen ein pausbackiges Krausköpfchen, ein Dreijähriger, der aus vollem Halse in den Lärm hineinschrie. Hinten, aus der Hoftorecke her, zu all dem Aufruhr das wütende, heisere Gekläff des Hofköters, der wie rasend an seiner Kette hin und her sprang.

Es überlief mich. Zwischen den Kindern durch flüchtete ich mich über die stille, heiße Gasse hierher in mein Stübchen.

* * *

Ja, und da lag ich nun: betäubt, verwirrt, wieder einmal ratlos erschauernd vor den »dunklen Abgründen menschlichen Leidens und Lebens« ... Wieder einmal lastete es auf mir, bleischwer mit Mißmut, Ekel und Verzweiflung, und zwischen meinen hämmernden Schläfen brannte die alte, böse Frage »Wozu?« Wie heißt es doch? »Ein Narr wartet auf Antwort« ...

Schön! Aber vor allem: Was nun?

Soll ich mich abwenden – so stellt sich für mich als Künstler die Frage – mich abwenden und mich in irgendein Idyllchen flüchten, das ich dem Leben abdestilliere aus Mondschein, Fliederduft und Gelbveigeleinliebe, und zeigen, wie »schön trotz alledem« die Welt ist und wieviel des »Erhebenden« sie »immerhin so nebenbei« noch biete? Daß auch das Wirklichkeit ist?

Soll ich mir mühsam zu eigener und fremder »Beruhigung« eine superkluge Erklärung zurechtspintisieren aus rätselhafter Verkettung von »Schuld« und »Sühne« und an eine »wohlweise Weltordnung« verweisen?

Soll ich mit Schwarz und Blut ein »soziales Nachtstück« zusammenbrauen, eine »moralische Forderung« draufetikettieren und einen pathetisch optimistischen Appell an die besser zu unterrichtende Menschheit erheben?

Ach ja!

Vor allen Dingen indessen eine frische Zigarette.

Ja! Und da siel mir auf einmal in meiner stummen Not ein alter Freund ein, der mir immer sehr merkwürdig gewesen war.

Er war ein sehr sonderbares Menschenkind in Anbetracht dieser Zeitläufte.

Er gehörte mit zu unserem Kreis.

Warum hatten wir ihn eigentlich in unsere Bekanntschaft hineingezogen? Ja, warum? Es war uns allen später eine Zeitlang ein psychologisches Problem gewesen.

Wir unsrerseits nämlich waren damals sehr, sehr klug. Wir hatten die Welt erkannt. Wir hatten einen Zukunftsstaat erbaut, gründlich überall aufgeräumt, sogar die Frauenfrage gelöst, na usw. Man weiß ja!

Ja! Und die schönen Exempel waren alle glatt und ohne Rest aufgegangen. Wunderbar hatte alles geklappt ... Später kamen wir allerdings dahinter, daß es mit alledem doch noch so seine eigene Bewandtnis hatte, und nun staken wir, wie sich das heutzutage gehört, gründlich in allen möglichen Sackgassen und suchten uns mit Stoizismus, Ironie, Zynismus und anderen schönen Dingen leidlich durchzuschlagen ...

Und er nun: er war so wunderbar – wie soll ich nur sagen? – dumm?

Aber nein; dazu besaß er zuviel Mutterwitz. Nein! Nur ein bißchen »zurückgeblieben«, ein bißchen »altmodisch«. Aber im ganzen ein so prächtiger Kerl, urteilten wir. Bestimmt ließe sich aus dem was machen. Zwar, es würde ein Stück Arbeit kosten, denn von den heutigen Zeitläuften hatte er kaum eine dunkle Ahnung, und von unserem dekadenzierten Stadium war er nun gar noch himmelweit entfernt.

Nein! Er war uns wirklich ein Rätsel! Wie kam es nur, daß er uns – anzog? Daß er uns so interessierte? Am Ende war es sein unverwüstlicher, leichter Sinn, seine überschäumende Fröhlichkeit oft? Eine Fröhlichkeit, so recht aus einem freien Herzen heraus?

Ja, das vielleicht. Denn diese Fröhlichkeit war uns allen ein Rätsel.

Und nun zertrümmerten wir ihm seine Ideale. Mit einer wahren Wollust. Es zog uns förmlich dazu. Wer weiß, was? ... Keine Ruhe ließen wir ihm. Wir wollten ihn »aufrütteln«, zum »Bewußtsein seiner Lage« bringen, ihn zu einem »lebendigen Menschen« machen; lebendig: so nach unsrer Fasson.

Und er schloß sich uns an. Mit einer innigen Wißbegier. Er las unsere Lektüre. Er nahm auf, rastlos. Er war einer der unseren, gab uns recht. Er hatte eine ungeheure Hochachtung vor uns und unsrer Klugheit ...

Ja, und das war eigentlich das Endresultat unsrer Bemühungen, diese Hochachtung ...

Und auf einmal kam es uns zur Klarheit, daß das doch ein recht spärliches Endresultat sei. Wir waren verblüfft. Denn wir merkten – vielleicht besser als er – was dahinterstak, daß er sich nämlich in unsrer Welt nicht wohlfühlte. Nun, das ging uns ja aber eigentlich auch so. Aber, aber...

Ja! Er war schweigsam, still, gedrückt. Er hielt sich einsam.

Immerhin, das konnte ein Übergangsstadium sein. Es blieb am Ende noch abzuwarten, was dabei herauskam.

Aber, nein! Es kam nichts heraus. Nicht ein bißchen Ironie, nicht ein bißchen Zynismus der Welt gegenüber; kein »Mark«, keine »Männlichkeit«.

Wir waren nun wirklich ärgerlich, sehr ärgerlich. Er war einfach zu dumm. Wir hatten uns eben in ihm getäuscht.

Eine Zeitlang gönnten wir ihm noch ein nachsichtiges, lächelndes Mitleid, wie einem Kinde. Dann aber fing er an, uns mit seinem Schweigen seltsam zu bedrücken. Nun, und schließlich »überließen« wir ihn einfach »seinem Schicksale«. –

Später indessen lernte ich ihn verstehen, und da hatte ich im weiteren Verkehr mit ihm die Empfindung, daß er uns vollkommen verstanden und uns mit unserem Ideenkrimskrams still so in Bausch und Bogen in sich verarbeitet hatte.

Er war ganz umgewandelt, und doch der alte, dasselbe große Kind.

So war es mit ihm. Er war überhaupt nicht totzukriegen. Das Leben mochte sich alle mögliche Mühe geben, sich bei ihm in Mißkredit zu bringen: es gelang ihm nicht. Er war wie ... wie Gras war er. Man mag allen möglichen Schutt, Müll, Scherben und Steine draufschütten: es dauert nicht lange, so bricht es mit tausend fröhlichen Keimen ins Freie, wo die Schmetterlinge spielen, der Himmel lacht und die liebe Sonne scheint. Geradeso unverwüstlich war er auch ...

Immer wieder und wieder, soviel er auch erfaßte und in sich aufnahm, und was er auch kennen lernte: immer wieder brach ein vertrauendes, erschauerndes Erstaunen vor der Welt bei ihm durch, der großen, herrlichen Welt, die man nie auskennt, nie! ... Das war kennzeichnend für ihn. Er war der Welt gegenüber immer wie ein Kind, mit einer unverwüstlichen Lebensfreudigkeit, einem unverwüstlichen Respekt vor dem Leben. Er maß nicht nach Gut und Böse, Schön und Häßlich. Er maß das Leben überhaupt nicht: er lebte es.

Er erfaßte alles und durchdrang alles mit einem warmen, lebendigen, starken Gefühl. Diese Gefühlskraft war wie ein frischer Lebenssaft in ihm, der ihn geistig immer wieder ausheilte ...

* * *

Und wie ich ihn mir so recht vorstellte, da wurde es mir mit einem Mal wohler zumut. Ich merkte auf einmal: alles das, was ich heute erlebt hatte, war ja nicht bloß der eine Mißton, den ich zuerst vernahm, sondern ein wunderbares Zusammenklingen von unendlich vielen Tönen, die hinüber verlaufen ins Unendliche, in das große Unbekannte, das, wenn man es in sein Fühlen aufnimmt, Lust und Leid beruhigend zusammenrinnen läßt in ein wundersames, erschauerndes Erstaunen ...

Meine Nerven, die es möglichst bequem haben wollten und mußten, hatten sich wieder mal chokiert gefühlt, das war im Grunde alles ...

Ach du, mein lieber Junge! – Wir sind so geistreich heutzutage! ... Ja, entsetzlich! – Aber mit der Galle, mit unserem dicken Blute, unseren zimperlichen Nerven.

Wir wollen das Leben unter allerlei prätentiöse, philanthropische, psychologische und was weiß ich noch alles für Maßstäbe zwängen, wir »Künstler von heute«, und wir kriegen doch nicht einen Millimeter darunter, ohne daß es nach beiden Seiten weit überragt.

Wir tun uns was zugute, wenn wir ein Stück Leben zu irgendeinem Rechenexempel sophistisch spitzfindig verzwickt haben.

Wir schreien über »blöde Nachahmung«, wenn nicht geistreich aus- und untergedeutelt wird, wenn das quellende Leben nicht mit irgendwelchen »Fragen« malträtiert wird, sondern wenn einer sich begnügt, sein lebendiges Herz hinzuhalten und die tausend und aber tausend Stimmen, die das winzigste Stück Leben redet, widertönen zu lassen ohne weitere Neunmalklugheit und sonstiges Brimborium; wenn einer der »schweren Not der Zeit« gegenüber sich einen gottlos himmlischen Leichtsinn bewahrt hat.

Und doch, wer doch so wäre wie du! Wer doch heute so sein könnte! Einfältig wie ein Kind und mitfühlend doch alles wissen, verstehen und widertönen lassen, von Herz zu Herzen reden könnte, wie du das konntest! ...

Zwischen Papieren

Ein Gewitter, das sich während der Nacht um unseren Talkessel herum austobte, hat sich in einen Regen aufgelöst. Seit frühem Morgen schon raschelt er ununterbrochen in langen Fäden vom sackgrauen Himmel herunter und läßt mich nicht aus dem Zimmer.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und höre auf die stille, behagliche Musik draußen: das Rascheln der Blätter, das Plätschern der kleinen Gießbäche an beiden Seiten des Fahrwegs die Gasse hinunter in trüben, milchkaffeefarbenen Wirbeln. Dazwischen das Geschrei der Jungens, die sich, die Hosen bis zu den Hüften hinaufgekrempelt, in den breiten Lacken und Pfützen verlustieren, auf denen Hunderte von Blasen aufhüpfen und wieder verschwinden. Der Pudel meiner Wirtin hat sich neben mir auf dem Teppich zusammengekuschelt und schnarcht leise, und von der Wand her tackt die Uhr. Ich freue mich meiner Filzsocken, meines Hausrockes und meines Nasenwärmers.

Lang reck ich die Beine unterm Tisch und gähne, weißt du, so in einer angenehmen Lässigkeit, in behaglicher Langenweile.

Was nun gleich anfangen?

* * *

Vielleicht schreiben? Wieder einmal irgend etwas schreiben? Ich ziehe mir ein Bündel Manuskripte vor, knote das bunte Fädchen drumherum auf und fange an zu suchen.

Vielleicht dies oder jenes Angefangene weiterführen, zu Ende bringen? Aber cui bono? –

Der Wahlspruch eines Freundes fällt mir ein, auch so eines glückseligen Faulpelzes, wie ich jetzt einer bin.

Cui bono? Daß Gewisse dann nachher wieder einmal Gelegenheit zu einer heilsamen Lungengymnastik bekommen?

Oder mir etwa zulieb? – Nein! – Ich find es wirklich gedeihlicher, in dieser friedsam eingezäunten Welt runde Backen zu bekommen. Man muß doch auch für den Winter wieder etwas zuzusetzen haben!

Es macht mir aber doch Lust, so in dem papierenen Kram umherzublättern. Was liest man nicht alles zwischen den Zeilen! Aus dem Sicheren heraus einem da so zuzuschauen, wie er sich müht und abquält, mir selbst.

Schreiben! Cui bono? – Ja, du prächtiger, gescheiter aller Junge, der du so ein unübertrefflicher Lebenskünstler bist: bei einem guten Essen, bei einem klugen Weibe, auf deiner Chaiselongue unterm japanischen Schirm mitten zwischen allerlei lustigem Krimskrams bei einem vernünftigen Buch oder einer träumerischen Zigarre oder in unserem vertraulichen Kreise.

Cui bono? Die schöne Welt auf ein paar schändlichen Papierwischen schamlos zu verhunzen? Neunmal hast du recht! Ein Unsinn ist's, ein Fieber, ein Wahnsinn! Ich begreife mich selbst nicht ...

* * *

Wie unschuldig sie dastehen, die perlenden, glatten Sätze in ihrer sauberen, reinlichen Schwärze! Als wäre nichts gewesen, gar nichts gewesen! Als wären sie das leichte, müßige Spiel müßiger Stunden!

Ach, ich kenne ihre Geschichte, die Geschichte jeden Satzes, jeden Wortes!

Mit welch neunmalverfluchtem, töricht vergossenem Schweiß sind diese paar lumpigen Zeilen da erkauft! Wie viel Anläufe, wie viel saueres Ringen, wie viel Verzweiflung und Entmutigung! Wie viel fiebernde, wilde Freude! Und wer dankt einem das alles? Wunderlicher Wahnsinn! ...

Wie viel Wonnen! So schmerzlich in ihrer Überfülle! Wenn ich ein Stück Leben endlich gefaßt hatte, wenn ich es selbst war und schrieb und schrieb, bis ich am Abend zusammenbrach wie ein übermüdetes Lasttier. Wenn es mir nachts den Schlaf raubte, mit bunten Träumen, mit lebendigen Gesichten, bis der erste Morgen rot über den grauen Mietkasernen aufdämmerte! ...

Wie viel Ermattungen! Zeiten, wo es bei vergeblichen Anläufen mich durchfuhr: du kannst nichts mehr, bist tot, abgeschmackter als der fadeste Ignorant, einfältiger als der blödeste Idiot! Zeiten, wo mich die vier Wände meines Zimmers engten wie ein Grab; wo es mich tagelang durch die Straßen trieb, daß ihr rauschender Lärm, ihr wirres, wunderliches Leben meine Verzweiflung übertäube, wo ich neidisch hinter einem jeden Philister herschlich, der im dumpfen Gewohnheitsgleis sein tägliches Pensum heruntergehaspelt hatte. Wie ich ihn achtete und mich so niedrig, so unnütz fühlte! ... Bis dann wieder das andere kam! – Und so fort und fort!

Ja ja! Die alte Geschichte! – Aber ich meine nur: keiner wird ja gescheit von uns, keiner! Von uns geistigen Luxusmenschen...

* * *

Hier sind ein paar Dinger, die nach allerlei Rezepten riechen. Jetzt spür ich erst, wie? –

Wie sie einen in die Irre führen können, diese stumpfnüstrigen Stichwortfabrikanten, die ihre blöde Freude und Befriedigung ihrer Eitelkeit finden, wenn sie jeden Sprößling, wie in einem botanischen Garten, gleich mit einem Täfelchen verschimpfieren!...

Sehr lehrreich, ja! – Mit einem dumpfen Wust von Namen und Redensarten im Schädel geht man davon.

Aber wer hat so recht seine warme Herzensfreude gehabt, wie ein jeder Schoß aus der nährenden Erde hervorgekeimt ist, wie er sich zweigte, seine Rinde sich bräunte, wie er in der Sonnenwärme, genährt von Luft, Licht, Wärme und Frühjahrsregen, saftige Knospen schwellen ließ, Blättchen und Blätter entfaltete und in rosiger Blüte stand? Wen kümmerts?

Wenn sie sich nur zu Haufen scharen und ein rechtes Geschrei erheben können, hinüber und herüber. Und wenn nur nicht Hunderte dabei in die Brüche kämen, weil sie einer Redensart zulieb sich selbst und die liebe Natur verhunzen.

Beiseite gehen und lachen! In der Einsamkeit sich selbst finden und stark werden! ..

* * *

Früher gab es eine Zeit, wo der Dichter der Seher war, Prophet, Priester.

So nannten ihn die naiven Menschen eines naiven Zeitalters, und religiöse Weihe wohnte ihm bei.

Wir lächeln darüber, wir, »les soldats les plus convaincus du vrai«, wir Arbeiter und Experimentatoren, Positivisten, Objektivisten und Dokumentensammler in unserer werktagstolzen Bescheidenheit.

Es ist nicht zu deuteln: die Alten meinten's, wie sie's sagten. Unser Verstand aber ist klar und unsre Einsicht reifer. Wir sind so schlicht, und jedes Pathos macht uns lachen.

Ach, ach! Ob man nicht aus seiner Not eine Tugend macht? Wie ist's mit dem Fuchs und den Trauben?

Hier in meiner stillen Einsamkeit kommen mir so allerlei Gedanken.

Wenn ich jetzt so in all dem Papierkram blättere, mich hier als kaltblütigen Positivisten finde und dort, wie ich ein gut Stück mit den Psychologen und Moralisten gegangen bin, merk ich erst so recht, wie ich doch getappt und getappt bin. Oft meint ich, ich hätte ein Ganzes, Rundes: und nun ist es Stückwerk.

Ach wir, die wir prompt unsre Analyse vollziehen und selbstbewußt hinzufügen: keine Hexerei!

Zwischendurch spür ich aber doch, wie ein Verborgenes, Niedergehaltenes sich regte und frei werden wollte und wohl auch hier ein Zweiglein trieb und da. Etwas, das keine Selbstzufriedenheit kennt gegenüber dem alten, wunderbaren Rätsel, das nur mit einem beseligt: mit einem frommen Staunen ...

Und ich weiß nicht: das gibt mir jetzt einen Trost, als könnte ich damit noch eine große, schöne Zufriedenheit in der Zukunft finden.

Etwas Ganzes, Rundes herausschaffen aus einem gesunden, kräftigen Empfinden, aus einer umfassenden, sicheren Stimmung herausgestalten, die einen trägt und treibt vom Beginn bis zum Ende. Die Welt wiederzugeben, wie sie Empfindung und treibendes, quellendes Leben in einem geworden, ohne zu deuteln und zu urteilen, zu verdammen und zu preisen. Kein kluges, kaltes Beobachten: mit seinem Empfinden aufgehen mitten im Leben, es selbst werden. Farbe sein, Ton, Licht, eigener und fremder Schmerz, eigene und fremde Lust, jede Leidenschaft, wie sie in schlichter, natürlicher Kraft sich äußert. Ganz selbst und doch seiner selbst entledigt sein: das ist das Pathos, mit dem einen die Welt erschüttert und sänftigt wie mit einem Schauer.

* * *

Hier halt ich erste Versuche in den Händen, Gedichte. Wie unbehilflich die Form! Die Empfindung, die hervor will, sucht nach Halt und klammert sich an, da und dort, in ihrer rührenden Unfreiheit, wie sie noch im Leben umhertappt, ihrer selbst sicher zu werden.

Und doch eine so schöne Zeit! Wie lebendig mir das alles war!

Und da muß ich so denken, wie alles Spätere, so sachlich es sich auch gebärdete, im Grunde hier, in diesem Boden, seine stillen, tiefen Wurzeln hatte.

Alles, mögen sie's benamsen, wie sie's wollen, ist im Grunde doch ein Gedicht, Lyrik.

* * *

Wie ein Abschließender komm ich mir vor hier über diesem vergilbten, bunt bekritzelten Papier und so oft während dieser herrlichen Tage. Freier, ruhiger seh ich in die Zukunft.

Eins weiß ich sicher. All die Stichworte und Redensarten, die mich lästig umschwirrten wie Mückenschwärme: sie sollen und werden mich nicht irremachen.

Mensch will ich sein, Mensch und vor allem Mensch! Leben will ich, leben und Leben erraffen; ganz zum Leben tüchtig werden! Nichts soll mir gelten, als mein eigener, freier Trieb! Fühlen will ich mit jeder Fiber und jedem Nerv, wie über den Tag weg und sein wirrendes Getriebe in Liebe, Haß und Leidenschaft die tausend Kräfte der Natur wunderbarlich durcheinander walten. –

Vorm Fenster fangen an die Spatzen zu zwitschern, und das Geriesel an den Scheiben verstummt.

Bündel zu! Weg mit dem papierenen Krempel!

Draußen wird die Welt hell! ...

Nach einem Begräbnis

Ich kam von meinem Spaziergange zurück und bummelte noch aus lieber Langerweile über den Gottesacker. Vor dem frisch zusammengeschaufelten Grabhügel blieb ich stehen.

Vorhin, als ich in die Felder hinausging, hatt ich den Zug gesehen. Vorweg gingen die Kurrendejungen, mit schwarzen Radmänteln und runden, groben schwarzen Filzhüten. Über ihren Köpfen schwankte in der Sonne das vergoldete Kruzifix auf seiner langen schwarzen Stange langsam dem Zuge vorauf. Sie sangen »Jesus, meine Zuversicht«, und dazwischen läuteten von oben die Glocken. Es war eine »ganze Leiche« gewesen. Man unterscheidet hier bei Begräbnissen »ganze Leichen« und »halbe« und solche, die gar nicht zählen. Bei den »ganzen« gehen alle Kurrendejungen mit, und jeder kriegt zehn Pfennig; außerdem wird geläutet. Bei den »halben« geht nur die Hälfte der Jungen voran. Nun, und die, welche gar nicht zählen, haben den Vorteil, daß sie in einem soliden Eilmarschtempo ohne weiteren Sang und Klang dem lieben Himmelreiche überliefert werden.

Im übrigen: man sollte doch wirklich allgemein die Leichenverbrennung einführen. Denn der Gedanke, daß das da unten, der alte, gute, dicke Meister Loebe, dem ich vor vier Tagen noch bei beiderseitig bestem Befinden ein Stück Sülzwurst abgekauft habe, in ein paar Wochen ein würmerwimmelnder, grünlicher Klumpen Dreck sein wird, ist wirklich ein wenig fatal. Ich hoffe, ein vielfach bewährter Fortschritt wird auch bei dieser Kleinigkeit das Seinige tun und sorgen, daß man künftig beim Lied vom Ende von derlei unappetitlichen Vorstellungen nicht mehr peinlich berührt werde. Immerhin wäre das eine nicht zu unterschätzende Konsequenz. –

* * *

Der alte, gute, dicke Meister!

Wie mag sich seine unsterbliche Seele, die ihm der Herr Pastor vorhin imputiert hat, gefreut haben, als sie das Ehrengeleit seiner Mitbürger sah! Denn sicher ist es ihr nicht gleichgültig gewesen. Sie war eine reputierliche Ratsherrnseele und hielt etwas auf Repräsentation.

Vier Trauermarschälle, mit langem Flor hinten an den Zylindern herunter, Zitronen in den Händen und lange schwarzumflorte Stäbe. Zwölf Sargträger, ein braun polierter, solid gefügter Bohlensarg mit Kränzen, Blumenkronen und langen Palmzweigen. Und hinterher tout le monde ...

Der alte, gute, dicke Meister!

Ich will nicht davon reden, mit welch liebevoller Sorgfalt sein Phlegma geräucherte Schweinsköpfe zu überzuckern wußte und wie durchaus korrekt seine Leberwürste waren: nur, daß ich die angenehme Gewohnheit entbehren soll, ihn Morgen für Morgen zu begrüßen, wenn er mit seiner gewaltigen weißen Schürze und seinem roten Gesicht vor der Ladentür mitten zwischen den beiden blitzblanken Messinghaken in der Frühsonne strahlte: was für eine Lücke in meinem Tagesprogramm! –

Der Selige! –

* * *

Ich riß mich los und ging weiter.

Von der Kirche her klang die Orgel.

Aus der Kirchtür quoll eine Staubwolke in die Nachmittagssonne heraus. Es war Sonnabend und wurde gefegt. Ich blieb stehen und lauschte.

Der Kantor entschlüpft zuweilen nachmittags dem Spektakel seiner sechs Rangen und spielt ein Stündchen zu seinem Privatvergnügen auf der Orgel. Wenn's mir paßt, schleich ich mich wohl mal hinein, drücke mich in irgendeinen Kirchstuhl so, daß ich ihn beobachten kann, und hör ihm zu.

Nämlich sein Spiel ... Es liegt etwas in seinem Spiel, etwas, etwas ... Hm! – Etwas, das einem ein so eigenes Gefühl in der Herzgegend schafft, das mich förmlich in meine verschwiegene Kirchstuhlecke drückt.

Ob er sich seiner Gabe bewußt ist? Ich habe ihm nie angemerkt, daß er viel Wesens davon macht. Er meinte nur einmal, daß er »für sein Leben gern Musik studiert hätte«. –

Es sind so merkwürdige Augenblicke!

Anfangs hör ich noch, wie die Bälge fauchen und wie das alte, stockige Gestell gar nicht parieren will; wie die Auskehrfrau vor der Tür mit einem alten Weibe einen Diskurs macht zwischen ihrer Arbeit, und ich muß an seinen kahlen Schädel, an seine sechs Gören, an seine Abcschützen und sonstigen Quark denken; aber dann kommt es über mich mit einer süßen, seligen Unruhe, und ich vergesse alles. –

Und heute hab ich sogar meinen alten, guten, dicken Meister Loebe vergessen, den gesegnetsten der Männer ...


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