Johannes Schlaf
In Dingsda
Johannes Schlaf

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Die Rezension

Eins verursacht mir zuweilen eine stille Freude: daß ich hier so gar nicht wählerisch bin.

Es ist unglaublich, was für ein höllisches Beizkraut von Tabak ich nebenan beim Krämer bekomme. Es würde mich in der Stadt zur Verzweiflung gebracht haben. Und wie schön schmeckt mir hier im Garten bei einem Buch oder draußen zwischen den Feldern meine Pfeife Paetum optimum supter solem...

Auf der Enveloppe ein Hahn auf einer Tabaksrolle, mit lang ausgespreizten, spießartigen Sonnenstrahlen herum, oder ein Reiter auf einem Pferd mit wahren Elefantenbeinen. Ein haarsträubend primitiver Holzschnitt... Ich weiß nicht, ob ihr die Sorte kennt. Kaum. Das macht, ich lebe hier in so ganz anderen Dingen. Ich bin so gleichmäßig, so ruhig, so heiter-durchsättigt von all dem schönen, sonnigen, sommerlichen Leben hier.

Jetzt seh ich erst, wie ich in der letzten Zeit meine Kraft, meine Gedanken und mein Empfinden in allerlei nebensächlichen Kleinigkeiten verkrümelt hatte. In den heikelsten Raffinements hatt ich mich verloren. Ach Gott, wer weiß, was alles! Immer von einem zum anderen. Alle möglichen Japanereien.

Aber jetzt? Wie ausgetauscht bin ich!

* * *

Ich stehe z. B. jeden Morgen um fünf Uhr auf. Sobald die Sonne über das Dach geklettert ist und zwischen der Lücke im Fenstervorhang hindurch kann und mir mit ihren goldenen Fingern übers Gesicht streichelt, muß ich heraus. Unten im Garten trink ich dann meinen Kaffee, unter einem weitüberhängenden Apfelbaum, zwischen Kohlbeeten, Stachelbeerbüschen, Stiefmütterchen, vis-a-vis einer rotaufgeblühten Nelke, die durch den ganzen Garten leuchtet, recht prätentiös über all die Rosen, die roten und gelben und weißen am Staket hin. Oben im Hofe piepsen die flaumigen Hühnerküchelchen um die Glucke herum, und der große weiße Hahn, Herr Meier, mit dem feuerroten, in der Sonne transparenten Kamm trompetet in den frischen Morgen hinein auf dem schönen, goldgelben und sammetbraunen Düngerhaufen. –

Dann streif ich durch die Felder.

Zuerst an einer Bergkante hin, unter mächtigen schattenden Buchen, Linden und Kastanien. Bläuliche Schattenflecke und goldiggelbe Lichtkringel zucken über den braunen Weg. Nach unten, den grünen Hang hinunter bis zur Chaussee, Kirschbäume und Rotdorn. Zwischen den Bäumen hindurch seh ich über weite, tauglitzernde Wiesen weg am Bache hin. Jenseits winden sich Felder kreuz und quer und bunt durcheinander die Hügelhänge hinauf. Und hier und da, zwischendurch, blitzt lang der See auf. Links liegt das Nest in dem Talwinkel in das Grün eingekuschelt, und die blauen Rauchsäulen steigen steilgerade in die Morgenluft hinein.

Dann bieg ich rechts in einen steinigen Hohlweg ein. Von beiden Seiten hängt dichter, staubiggrüner Teufelszwirn über. Oben, zwischendurch, ein langgestrecktes, tiefblaues Bandstück vom Morgenhimmel; und in den Gärten die Finken und Meisen und die Bachstelzchen, die Wippschwänzchen, trippeln vor mir über den Weg.

Und dann, auf einmal, bin ich im freien Felde.

* * *

Sonne! Sonne!

Die ganze Welt ist trunken von Sonne.

Weit die Hänge hinunter, hinauf und wieder hinunter; in die Länge und Breite und Tiefe. Weit! Weit!

Und oben: mächtig, mächtig der lerchenschmetternde Himmel mit dem großen, gleißenden Sonnenauge.

Sonne! Sonne!

Die Morgenluft wühlt in werdenden und verebbenden und wieder neuen silbrigen Wellen über die weitgedehnten Felder hin. Und jeder Gedanke ertrinkt mir in diesem goldigen, weitleuchtenden Lichtmeer. Aber über die Arme und den Körper rieselt es mir, heiß, belebend wie elektrische Ströme, und meine Brust hebt sich, und freier rühren sich die Füße. Und hinein in den sonnigen, frischen, gesunden Morgen; in die Luft, in die Sonne! Weiter, immer, immer weiter!

Und meine Augen weiten sich, und meine Nüstern dehnen sich und schnaufen die Luft ein, und mir ist, als wollt ich mit jeder Fiber das alles in mich aufnehmen, die ganze lichte, singende, weite, herrliche Welt!

Und ich stammle wunderliche, wahnselige Worte vor mich hin, die ich nicht höre. Es ist nur, als flute etwas aus meiner Seele heraus, hinaus wie überströmendes Leben, überwallende Kraft.

Und alles liegt unter mir, weit unten in der Sonne.

Die hohen Talbäume so klein, mit krausem, zitterndem Laub, und die Pflüger, wie Schnecken langsam die sattbraunen Feldbänder hinkriechend, und die kleinen Dächer und der Fluß.

Nur hoch, hoch da oben, ewig über mir, das jubelnde, golddurchblitzte Blau; weißleuchtendes Gefieder drin, dort und dort.

Und ich möchte aufschreien vor unbändiger Lust und quälender Ungeduld, und ich recke die Arme und verliere mich in Kraft und Leben.

Bis ich taumlig werde von alledem, bis es mir über die Kräfte geht und ich hinsinke in das krause Weggras, und mein trunkenes Auge sich sammelt und beruhigt an den stillen, roten, nickenden Wegnelken und dem gelben Steinklee und dem violetten Thymian, den bunten Schmetterlingen und den leise, leise summenden Hummeln. Wie betäubt lieg ich und starre vor mich hin in das kurze Gras und wage nicht, seitwärts zu blicken ...

* * *

Hier ein Grashalm, scharf an beiden Rändern von unzähligen Kristallen. Vorn an der zierlichen Spitze ein rundes, funkelndes Tautröpfchen. Das Hälmchen schwankt leise in der wehenden Luft hier oben. Und der Tropfen leuchtet. Jetzt orangen, jetzt goldig, jetzt bläulich, grün, violett, silberhell.

Halme, dünn, schlank, mit krißligen Dolden.

Wenn ich den Kopf in das kleine, krause Rasengewirr lege und die Augen etwas zusammenkneife, wanken sie wie sturmbewegte, hohe Baumkronen gegen den blauen Himmel hin und her, hin und her. Wie ein Wald von wunderlichen Fabelbäumen.

Und die Hummeln mit dem schwarzsamtenen Leib und der braunsamtenen Verbrämung, eifrig von einem Kelch zum anderen. Und dann in die Luft hinein, in den sonnigen Morgen, hinunter in das Tal, taumelnd im zackigen Flug, in der Luft schwebend wie riesige Ungeheuer.

Vor mir eine Feldnelke. Wie ich sie betrachte, ragt sie hoch, hoch über eine einsame Feldscheune weit draußen am hügeligen Horizont und taucht mit ihrer glutroten Krone in den Himmel.

* * *

Und ich atme auf, tief, einmal, wieder und wieder.

Ich stammle vor mir hin, alte, vertraute Laute. Und die fügen sich zu rhythmischem Tonfall, wie die Luft weht und stoßweise mir in die Ohren knattert, gleich flatterndem Seidenband; wie die Grashalme sich biegen und beugen, hin und her, hin und her; wie die Lerchen trillern in bestimmtem Rhythmus, der wiederkehrt und wiederkehrt, leiser, lauter, ferner, näher; wie der unaufhörliche Feldgesang der Insekten; wie die weiten Felder den Hang hinab fluten und fluten; immer, unersättlich in demselben Rhythmus. Und erstaunt lausch ich mir selbst.

Ich glaubte, ich könnte das nicht mehr.

Und wie ich lausche, ist es dieselbe alte, ewige Melodie. Immer dieselbe, unersättlich dieselbe. Fragend, sehnend, wild, beruhigt, angstvoll und glückgesättigt.

Die alte Weise. Das alte Lied.

In Ewigkeit wohl wird es gesungen werden ...

Und so lieg ich und liege, in der Sonne, im Grün. Über mir die blaue Unendlichkeit, und unter und vor mir die weite, grüne, jubelnde Welt. Und die Gedanken schweifen, bis mich ein Grauen faßt, ein wonniges und drückendes Grauen, daß ich mit ihnen so allein bin, so allein hier oben in der stillen, rätselhaft raunenden Einsamkeit ...

Und hinunter wieder, taumelnd, träumend, mit wankendem Fuß in die talfriedliche Enge der Menschen ...

* * *

Das erste Haus, eine kleine weißgetünchte Kate, an einen laubigen Hügel gelehnt, sich duckend zwischen aufgeschichtetem Birkenholz und Dünger, flachsköpfige Kinder in bunten Kittelchen vor dem schwarzen Türloch, knallrote Geranien und Fuchsien auf den grünen Fensterbrettern, macht mich wieder zum verständigen Menschen. Ich bin sogar imstande, über die Gasse weg dem dicken Krämer einen »guten Morgen« zuzurufen, wie er in der Ladentür steht und in die Morgenluft hineinschnüffelt. Nein, er dankt mir ganz normal! Es ist unmöglich, daß man mir so etwas wie den verrückten Engländer anmerkt. In so einem kleinen Klatschnest wäre das auch in mancher Hinsicht fatal.

Für alle Fälle ist es auskömmlicher, man merkt mir gar nichts an, gar nichts, so wenig wie möglich, wes Geistes Kind ich bin. Ganz kann ich mich sowieso nicht verleugnen, und ich weiß, daß mich dieser infame Tütchendreher mit Wonne bei meinen Einkäufen übervorteilt. Wer weiß, was für Lapsus ich mir sonst noch in meiner göttlichen Unbewußtheit zuschulden kommen lasse. –

Fidel pfeif ich mich die Gasse hinab und habe dabei so meinen Spaß, wie sich allerlei Gedankenwerk in meinem Schädel zusammenkreiselt. Sicher werd ich heute noch was zusammenleimen, was die ganze Morgenherrlichkeit wiederholt, kindlich, kindisch stammelnd, trotz aller Mühe und zerkautem Federhalterende.

Ach ja! –

Und dann wieder die Rezensenten im Winter. Wie sie mir alle meine Gebresten vorfingern werden. Da merkt man erst wieder mal, was für ein kapitaler Ignorant man ist ... Ja, ja, die Rezensenten! –

* * *

Mit dieser, allerdings etwas flüchtigen Berücksichtigung einer gewiß nützlichen Menschensorte tret ich in mein Zimmer ein.

Ein lichtgrau tapezierter quadratischer Raum voll Sonne und Luft. Ein weißes Bett, ein Waschtisch, ein geblümtes Sofa mit einem weißen Hundefell davor, ein braun gebeiztes Regal mit ein paar Büchern und umständlichem Rauchutensil, ein paar Stühle, ein paar kolorierte Stiche à la Neuruppin, ein einziges, breites Fenster mit weißen Gardinen. Davor gerückt ein großer Tisch. Viel weißes Papier darauf im wirren Durcheinander und dazwischen ein Tintenfläschchen. Die Sonnenstrahlen huschen drüberhin und schillern in dem Wasserglas mit den vier »gloire de Dijon«. Und draußen ein wippender, schaukelnder, sattgrüner Laubtumult. Dahinter bläulich die Hügel.

* * *

Nun?

Hier: feierlich, würdig, reserviert, mit einer gewissen Andacht hergelegt, ein Kreuzband. Richtig! Eine Zeitung!

Na?

»Allen, die sich Menschheit, Leben und Poesie von Grund aus verekeln lassen wollen, sei dieses Buch bestens empfohlen. Es häuft Häßliches, Schmutziges und Niedriges bergehoch. Nichts als Schmutz, Elend und Verkommenheit, körperlich wie geistig. Ebenso wie jener schönfärbende, falsche Idealismus, welcher alles in erborgten Schimmer kleidet, ist ein Todfeind aller Poesie jene sogenannte Wahrheit, die alle Krankheiten, seien sie des Leibes oder der Seele, auf die Gestalten häuft und die Augen schließt, um nichts Lichtes zu sehen. Nur der Wechsel von Licht, Halblicht und Dunkel gibt den Schein der Körperlichkeit in Kunst und Leben« usw. usw. »Schmutziges«? »Niedriges«? »Idealismus«? »Wahrheit?« »Halbdunkel«? »Schatten«? »Poesie«?

Ja, da haben wir ja wieder mal die Jacke gründlichst vollgekriegt!

Und wie viel kluge Worte der Mann hat! Daß doch der liebe Gott für so viele schöne, saubere Redensarten gesorgt hat!

O du heilige, böse Natur! Du meine glückliche, unglückselige Liebe! Warum läßt du mich die Worte und klugen Maßstäbe vergessen? Weshalb bist du mir im »Kleinen« wie im »Großen«, im »Geringen« wie im »Bedeutenden« immer dieselbe, immer die gleiche, immer und überall und vor allem das große, süße, schauerliche, erhabene und lockende Problem? Längst bist du ja in säuberliche Grade und Werte verrubriziert. Daß du doch immer und überall so wunderbar bist und es mich vergessen läßt!

Dir ist es gleich: für mich ist es kein Spaß. Denn ich muß in der »talfriedlichen Enge der Menschen« wohnen. Ja, wenn man so vergeßliche Triebe hat!

O du lachendes, freudiges Morgenlicht! ...

Und ich lache in die schöne Welt hinein und lache und lache ...

Gut! Weg damit!

Die niedliche Hand aber, die mir mit so unschuldiger Andacht diese prätentiöse, mürrisch-mißvergnügte Zeitungsmißgeburt auf meinen Tisch gelegt hat, wird heut abend warm in meiner liegen. Heut abend. –

Und alles bleibt beim alten.

Trotz alledem und alledem ...

Einsamkeit

Eine Stelle fand ich heut in meinem Notizheft, die ich mir neulich einmal aus irgendeinem Drama ausgezogen hatte.

»Auf allgemeines Verlangen: es wäre ungeheuer angenehm,« sagte da einer, »wenn all dies Gewäsch von Freiheit und Ehre und Selbständigkeit und Sittlichkeit und Verantwortung und Berufensein und Wahrheit bald ein Ende hätte. Sehen Sie, wir werden ganz verrückt davon! – All die dicken Worte und feisten Redensarten!«

O ja! – Nun, ich lache auch über »all die dicken Worte und feisten Redensarten«. Denn hier bin ich gut im Sickern.

Das Kreisblättchen, das alle Wochen dreimal hierherkommt, ist ungefährlich. Und sonst ...

»Weit! Weit
Liegt die Welt hinab.
Ein fernes Grab.
O holde Einsamkeit!
O süße Herzensfreudigkeit!«

Einsamkeit! Einsamkeit!

Ach, ich könnt es nur so herausjauchzen! Nun leb ich erst! Das war's, was ich brauchte, als ich hierherging! Nicht mich zerstreuen, nicht »erholen«: zu mir selbst kommen wollt ich.

Jahre überblick ich. Das Neue des Tages, der Zeit stürzte auf mich ein, von allen Seiten.

Es hat mich begeistert: es hat mich geängstigt und müd gemacht.

Ich habe mich an ihm bereichert: das war meine Begeisterung, mein gieriges Aufnehmen, all die Wonne dieser Jahre.

Ich hab es von mir abgeschieden: Ach! all die schlimmen Stunden, wo es mich fast verrückt machte, wo ich in Ermattung und Stumpfheit, in Verwirrungen und fiebernden Erregungen mich verlor!

Und nun! Nun find ich mich wieder. Nun werd ich mir bewußt, was das alles zu bedeuten hatte.

Man kann sich nicht verlieren. Man kommt immer zu sich selbst zurück. Und ich? Bereichert. O ja! Bereichert! ...

»O holde Einsamkeit!
O süße Herzensfreudigkeit!«

Aber nicht die »blaue Blume« will ich hier suchen gehen, alter Tieck! hier in walddämmernder Einsamkeit: mich selbst will ich fühlen und entfalten. Ich brauche keinen romantischen Hexenspuk und keine »blaue Blume«, die mir die Herrlichkeiten der Welt auftut! Ich bin ein Kind meiner Zeit! – Frei will ich sein, was ich geworden bin, hier – und dort, wo ich es geworden bin, wo dieselben Kräfte spielen wie hier. Nicht das »Hier« ist besser als das »Dort«, und nicht das »Dort« als das »Hier«. Überall ist die Welt wunderbar. Überall die gleiche, eine ... Ich brauche keine »blaue Blume«. Die blaue Blume ist mein fühlendes, lebendiges Herz.

In Luft und Licht will ich mich baden, das tausendfältige Leben der Natur hier in der Einsamkeit fühlend mitleben, wie ich es – »dort« nun mitleben werde. Nicht nach Wundern will ich suchen, die mich erlösen sollen von dem, was täglich mich umgibt, sondern fühlen, bis in mein tiefstes Herz hinein erschauernd fühlen, wie das und alles ein Wunder, ein unaussprechliches Wunder ist! ...

Nicht mit Metaphern und Hyperbeln will ich die schöne Wunderwelt verrenken und mir darauf etwas zugute tun und anderen zumuten, daß sie sich dabei etwas zugute tun sollen: die Welt ist nicht zu verschönen! Sie ist schön, so wie sie ist. Und wenn ich »Licht« sage oder »Mücke«, »Blume« oder »Baum«, »Werden« oder »Vergehen«, so bebt mein Herz von unerhörten Wundern ...

Das ist meine ganze Weisheit, in schlimmen Tagen erkämpft, in der Einsamkeit erkannt ...


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