Johannes Schlaf
In Dingsda
Johannes Schlaf

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Helle Nacht

Ich lieg und liege und kann keinen Schlaf finden und mag keinen finden.

Weit steht vor mir das Fenster offen, und die klare Nacht duftet herein.

Das ganze Zimmer: so hell, so hell! Ein übernatürlich helles Zwielicht. Es hält mir die Lider weit auseinander. Ich liege ganz still. Kaum hab ich ein Gefühl von meinem Körper.

Mir ist, als säh ich alles tief, tief in mich hinein; als sah ich in alles, alles tief hinein.

Wie hingenommen bin ich in eine Offenbarung und wüßte doch nichts zu sagen, nichts zu nennen. Aber es quält mich nicht. Mir ist, als ob ich alles wüßte.

Immer bin ich doch noch der alte Träumer. Nie ein Nachtwandler zwischen Schlaf und Wachen, den es zu den Höhen zieht, zu den Gestirnen. Mir ist, als verliefe mein Empfinden mit tausend Fäden in unerkennbaren Zusammenhängen, ein seliges Verwebtsein mit allem. Die Welt so vor sich hinzuträumen ...

* * *

Wie eigen mir nur ist! –

Der viele, viele Sonnenschein den ganzen Tag über; das Tollen, Lachen und Jauchzen, die weiten, hellen Wiesen und kühlen Schatten; die weißen Wölkchen am blauen Himmel hingeflockt; am Abend der Mond hoch oben am weiten Himmel, der seine weißen Lichter auf die stillen Wege legte; der endlose Abschied am Gartentor, bis sie dann aus meinen Armen war und weiß in den dunklen Hausflur hinein; und dann der Heimweg: ihre Wärme noch an meiner Brust, an meinem Halse, an meinem Gesicht, all die selbstvergessene Lust: ich muß es wohl noch im Blute haben ...

Das muß es wohl sein.

Weit drüben, dort über der schwarzen Linde, die den mondhellen Dachfirst überragt, im silbergrünen Nachthimmel flimmert ein Sternchen.

Ihr Haus ...

* * *

Vanitas! Vanitatum vanitas!

Leise, leise klingt es in mein Ohr, anklagend, der Schmerzensruf vieler Tausende, meiner selbst. Aber fernher, ganz von fern. Verzitternd in dem milden, lichten Frieden.

Ich muß lächeln in meinem großen Glück, daß mir diese Tage beschieden sind und diese Nächte.

Vanitas! Vanitatum vanitas!

Ich muß lächeln, daß ich es so gar nicht verstehe, daß es mir ist wie ein fremder, leerer Klang; und wie lange ist's her, da rief ich's selbst in meiner Bedrängnis!

Alles hin. Alles vergessen.

Vergessen? Könnt ich dann staunen in diesem ernsten Glück, staunen wir über etwas Unermeßliches, Unbegreifliches? Nein, auch der Akkord mischt sich hinein in mein Träumen.

Nicht vergessen: überwunden ...

Das ganze Leben ein quälendes Suchen und seliges Finden solcher Augenblicke. Die Welt ist so groß und weit und tief, so unergründbar tief, und doch darf der Tag sie einem verdunkeln ...

* * *

Das schlummernde Dorf da draußen.

So ärmlich, niedrig, gemein alles, wenn es der Tag ins Helle bringt. Die staubigen Wege, die rissigen, wetterverwaschenen Lehmmauern der Katen und Ställe; die Menschen: häßlich, schmutzig in ihrem groben Arbeitskleid, niedergedrückt von der Last ihrer Arbeit; die hundert Laute emsigen Lebens; aufdringlich, wirr, verwirrend alles in seiner dürftigen Enge. Und nun weitet sich's in großen, ruhigen Linien so wunderlich in die atmende Nacht hinein ...

Wie es rauscht durch die lichte Stille und rauscht und rauscht!

Als hörte man die goldenen Welten da oben auf ihren einsamen Bahnen durch die eisige Unendlichkeit des Raumes mit der Pracht und dem Grauen ungeahnter Tage und Nächte, mit den unerhörten Wundern all ihres Lebens, mit der grausigen Öde ihres Todes.

Und hier, unter mir, mit ihnen die Erde mit all ihren geschauten und doch ebenso unergründlichen Wundern.

Und dort, unter den niedrigen, mondhellen Dächern, spinnt sich das Leben weiter. Da ringt es, Raum gebend, mit Todesschauern; da müht es sich mit seinen großen und kleinen Sorgen; da schlummern die, die sich gerecht und ungerecht, gut und böse, gemein und edel, arm und reich, schön und häßlich nennen und alle doch unter dem Zwange unerforschter Gesetze stehen, da schlummern sie, die Schönheit des gleichen Friedens auf ihren Gesichtern. Da wächst es aus heimlichen Umarmungen auf zu unbekannten Schicksalen ...

* * *

Weiter! Hin über das mondlichte Feld.

Die weiten Ährenwogen nicken und knistern unter der Last ihrer Reife und verschwimmen in den Lichtglast hinein. Aus der braunen Erde falten sich Pflanzen und Kräuter mit stiller, wohliger Kraft hinauf, hinauf in das Licht, in die Luft. Nächtliches Getier geht auf seinen verborgenen Pfaden in Furchen und Feldern über Wiesen, durch wispernde Sträucher, über dämmernde Wege, oder ruht im Frieden schwarzer Schlüfte. Und die einsamen Hügel draußen im Land: nur der lichte Himmel weit drüber hin, und der Nachtwind frisch über die Gräserchen und Blümchen, und aus dem Tal herauf rastlos das Rauschen der Mühlen. Die Wiesen, mit wallenden weißen Nebeln drüber und flinkerndem Tau. Die glitzernden Wässerchen rieseln hindurch zu den Bächen, zu den Flüssen, den Strömen, weiter, weiter in ferne, endlose, monddämmernde Meere. – Durch die Nacht der Wälder das Brausen unzähliger Wipfel und hundert heimliche Laute. Oben auf den ragenden Kronen der weiße Glanz, zwischen Ästen und Zweigen, am bebenden Laub, an den alten Stämmen hinspielend, nieder auf Gräser und taufunkelnde Blumen.

Hin über Länder und Meere, über Gefilde, Weiler und Dörfer, Städte, Seen und Berge. Hin über die weite Erde bis zu all den Tiefen und Höhen, die noch kein Mensch erreichte, die viel zu gewaltig sind für unser armes Gehirn, vor denen selbst unsere Träume zurückschrecken ...

* * *

Flaches Land im Monddunst.

Soweit man blicken kann, am Horizont hin mächtige Häusermassen in bläulichem Dämmer, wie ein Gebirge breit in den Himmel hinein. Häuser, Häuser und Häuser. Und es wächst und wächst und dehnt sich weiter und immer weiter, beängstigend weit in das Land hinein. Oben drüberhin ein roter Lichtdunst, der sich im breiten Halbkreis schmutzig und trüb in die sternfunkelnde Klarheit dehnt.

Hier gibt es keine Nacht. Nimmermüde rauscht hier das Leben durch die breiten, hellen Straßen. Millionen und aber Millionen rastloser Kräfte: hier kreuzen sie sich in tausend und aber tausend Verfeinerungen.

Das Elend der Vorstädte. Lange, endlos lange Straßen mit schnurgeraden, öden Fassaden, wie Mauern glatt und grau. Unzählige Fensterlöcher, viele rot die ganze Nacht hindurch. Wie viel Jammer, Verzweiflung, Elend, Müdigkeit, Erniedrigung dahinter! Wie viel Zukunft! Rächende Zukunft, großgezogen in Träumen und Hoffnungen, bis der Tag kommen wird, an dem aus unsäglichen Greueln eine neue Welt sich erhebt. Eine neue Welt! ...

Immer sicherer gestaltet sie sich heraus aus unseren Wünschen, aus unseren Visionen, aus unseren unabweislichen Bedürfnissen.

Und wir? Wir sind die Verkündiger und Hindeuter. Das ist unser unausweichbares Schicksal! Verkündiger und Hindeuter, wenn wir den Todeskampf absterbender Generationen in uns erleben; deren Schuld ihre Schwäche ist, ihre Müdigkeit, ihre tausend Raffinements; Verkündigte und Hindeuter, wenn es in uns lebendig wird von Ahnungen der Zukunft ...

Müde, leidend, hoffend, ahnend und besitzend arbeiten wir alle an der Zukunft und – sind Zukunft ...

* * *

Du schöne, freudige Welt der Zukunft! Daß ich an dir nicht zu verzweifeln brauche! Daß meine Seele kräftig und gesund ist, dich zu hoffen, dich zu ahnen, durch die Greuel hindurch, aus denen du erstehen wirst!

Du schöne, freudige Welt! Ein neues, adliges und selbstsicheres Geschlecht, das sich verwandt fühlt über die Erde hin, soweit Menschen leben! Das keine Kaste, kein Rassenhaß, keine Religion trennt! Das Taten, Erkenntnisse, Empfindungen kennt, nie geahnt! ... Und dann? ... Und dann? ... Wieder neue Taten, Erkenntnisse, Empfindungen? ... Und so fort bis zu unerforschlichen Vollendungen? ...

Sterben und Werden! Ewig! – Das ist alles! – Mehr ergründet sein Verstand. Doch unser Empfinden durchbebt es mit wunderbaren Schauern vor den unergründlichen Mächten ...

* * *

Ich liege und liege und kann keinen Schlaf finden und mag keinen finden. Eine Stunde nach der anderen geht vorbei, vorbei.

Ein frischer Luftzug rührt das Laub draußen und bebt in den Gardinen. Allmählich, leise wechselt das Licht. Und nun liegt es wie ein verlorenes Frühdämmern drüben über den Bäumen, auf dem Tisch vorm Fenster, an den Wänden hin. Oben verbleichen die Sterne am klaren Himmel. Von den Höfen her krähen die Hähne, und unten im Garten zwitschern die Stare ins Morgengrauen.

Ich hör alles wie in einem schwindenden Traum. Und nun deutlicher, bestimmter, wie es rings um mich her erwacht in den hellen, aufsteigenden Morgen hinein. Und die frohe, kräftige Sicherheit des Tages kommt über mich. Eine süße Müdigkeit drückt mir die Augenlider. Noch ein paar Stunden Schlaf; dann wird mir mein Frühstück schmecken, und dann werd ich mich draußen der lieben Sonne freuen, offen den Freuden und Leiden des Tages, geschickt beide zu ertragen; und Stunden werden kommen. Stunden, da sie mir beide gering sind ...


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