Johannes Schlaf
In Dingsda
Johannes Schlaf

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Lektüre

Die wunderbaren Stunden, wenn ich nachmittags mit einem Buche hinaufschlendre in die Waldeskühle! Denn einige Lektüre hab ich mir doch mit hierhergebracht. Wenigstens so pro forma. Man ist doch nun einmal ein zivilisierter Mensch.

Aber gleich gesagt: Dostojewski, Zola, Ibsen, Tolstoi usw. hab ich zu Hause gelassen. Ein paar Bände Goethe, das »Wunderhorn«, den »Simplicissimus«, den »Jobst Sackmann« und noch einiges Deutsche der Art hatte ich mir diesmal in meinen Reisekoffer gesteckt. Alte Liebe rostet nicht ...

Ich weiß nicht: aber es geht mir immer wieder das Herz auf über alledem, wenn ich mich in den Sackgassen der Fremde so recht abgemüht und herumgeschunden habe. Und wenn ich so in den alten Büchern lese, in dieser Umgebung und jetzt, wird mir gleich wohler.

Muttersprache! – Alt, veraltet: ja! Meinetwegen! Aber doch: der Geist ist derselbe; er trägt auch mich. Auch heute noch! – Und es ist mir, als wolle das alles weiterwachsen, neue Triebe treiben, neu sich offenbaren. Es bleibt am Ende doch so: man fühlt nur seine Gefühle, spricht nur seine Sprache. Das ist Pflicht. Das ist Notwendigkeit.

Die wunderbaren Stunden!

Die Gassen liegen still und öde. Die Leute sind draußen auf den Feldern oder drin in ihren Werkstätten. Ein paar Fliegen, ein paar Schwalben, die Luft in seinen Wellenlinien an den Häuserchen und über dem stillen Laub der kleinen Vorgärten hinflirrend in dem heißen, hellen Nachmittagslicht: das ist alles. Drüber der Himmel mit schneeweißen, in einem seinen Silberduft verschwimmenden Flockenwölkchen. Ab und zu, von dem Hügelland oben schräg vor dem Ausgang der Gasse her, ein kühlendes Lüftchen.

Noch ein halbes Stündchen Weg über die grünwelligen Hügelhöhen hin, und ich stehe zwischen dem Vorgestrüpp an den alten, stillen Eichen hin ...

Hoch oben in den mächtigen Wipfeln spielt die Sonne. An den dicken, grauborkigen Stämmen liegt es in goldigen, saftiggrünen, lila und violetten Lichtern.

Tief aus dem blaudämmernden Grunde, fern, weithin verhallend in der nachmittagsstillen Einsamkeit, der gelle Schrei eines Vogels.

Morsches Geäst und Reisig knickt unter meinen Schritten in das weiche Waldmoos hinein, und die Dornen der wilden Rosen zupfen an meinen Kleidern.

Ein Getier, das durch Farne, Moos und hohes, wogendes Waldgras hinraschelt. Wuchtende, leise sausende Schwingen über mir hin. Eine Krähe, ein mächtiges schwarzes Tier, die schräg über das Gestrüpp zu dem Vorlande hinstrebt.

Und nun verlier ich mich zwischen den alten Stämmen, hinein in das kühle, bläuliche Dämmern ... O hier! Hier! ... O Einsamkeit! Waldeinsamkeit!

Mein Ruheplätzchen!

Tief im Walde drin haben die Eichen ein Stück grünen Hang frei gelassen. Im Kreise stehen sie herum, hoch und still, mit ihren breiten, wetterzerklüfteten Wipfeln. Zwischen den Stämmen das wunderliche Dämmern. Zitternde Sonnenlichter lassen hier und da ein Stück Stamm draus hervorleuchten und fallen in goldigen, magischen Tropfen auf die Haselnußblätter drunter. Alles andere verschwimmt, nach hinten, in Ungewissen nebeligen Konturen. Unten an den Stämmen Haselnußgebüsch und wilde Rosen. Hohes, lichtgrünes Gras über die ganze Lichtung. Bunte Waldblumen leuchten in der Sonne draus vor. Ein fortwährendes, leises, metallisches Gesumme von Waldbienen, Hummeln und Käfern. Bald laut, bald leise. Ferner, näher. Oben über allem, als eine freie Flucht aus dieser walddämmernden, rätselhaften Beengtheit, die blaue Himmelstiefe.

Hier unter dem Haselbusch ist das Gras noch niedergedrückt. Das ist mein Plätzchen.

Ich lasse mich nieder.

Das Schrillen eines Raubvogels. Das Pochen eines Spechtes. Aus dem tiefen Grund, rieselnd, ein Waldwässerchen. Hin und wieder ein Luftzug, der ein Laubgewisper unvermutet weckt.

Ich klappe mein Buch auf und fange an zu lesen.

Ja, nun ist es doch wieder so ein gelbbroschierter Franzose, der heute früh unversehens auf meinem Tische lag. P. Bourget: Le Disciple.

Eine Einleitung. Ich überfliege sie. Eine Litanei gegen die Dekadenz. Der »jeune homme de 1889« wird vor zwei Zeittypen gewarnt: dem »homme cynique et volontiers jovial«, dessen »religion tient dans un seul mot: jouir, und vor dem anderen, »qui a toutes les aristocraties des nerfs, toutes celles de l'esprit, et qui est un épicurien intellectuel et raffiné«.

Aber da ist auch schon die erste Störung.

Eine Eintagsfliege kribbelt mit analphabetischer Respektlosigkeit über die sauberen schwarzen Zeilen.

Jetzt macht sie Halt. Mit ihren spinnwebfeinen Füßchen trippelt sie auf einem »nihiliste délicat« herum.

Ich sehe ihre feinen Flügelchen mit dem zarten Perlmutterglanz. Ihr dünnes, lichtgrünes Körperchen krümmt und windet sich zierlich auf und nieder. Die Äugelchen: wie goldene Stecknadelknöpfchen. Ihre zarten, langen Fühlfädchen vibrieren hin und her, nach oben, nach unten, nach den Seiten. Mit aufgestütztem Ellbogen lieg ich lang im Grase vor dem Buche und betrachte das Tierchen, minutenlang, und fange an zu träumen und so vor mich hinzudämmern. Ach was, lesen!

Ich wälze mich einen Schritt von P. Bourget, dem Warner, fort, lege mich auf den Rücken, die Hände unterm Genick, und sehe geradeaus in den Himmel hinein.

Diese herrliche Stille!

Ich kann hören, wie mir das Blut in den Ohren rollt. Sie wiegt mir jeden Gedanken ein.

Ein paar Schmetterlinge, sich umtaumelnd, flattern in das blendende Blau hinein. Um ihre schwarzsamtenen Flügel zieht es sich wie ein goldglühender, feiner Saum. Manchmal blitzt das tiefrote Tupfchen oben auf den Schwingen. Ein Flügelklatschen und Sausen. Ein Flug Waldtauben in zierlichen, langen Spiralen über die Lichtung hin ins Gehölz hinein.

O Einsamkeit!

O, ich werde wieder fromm! Wie ich es damals war, als meine Mutter mich einen freundlichen alten Mann kennen lernte mit einem Gefolge von Engeln und Elfen, Königen, Rittern, Märchenprinzessinnen, weisen Frauen, Feen und Fabeltieren, welcher der »liebe Gott« hieß. Ihm gehörte die ganze Welt. Tief, tief unten die blaudämmernden Gründe mit rauschenden Unterweltswassern, mit rotglühendem und smaragdenem Gestein, mit unermeßlichen Schätzen, die weithin durch die nächtigen Schlüfte blinken, von den Erdgeistern bewacht. Die ganze Welt konnte man mit ihnen gewinnen. Und ihm gehörte die weite, lichtfrohe Erde mit Städten und Dörfern und Burgen, Feldern und Strömen, Wäldern und rieselnden Quellen. Und auch die Wunderquellen, zu denen nur die Sonntagskinder gelangen. Unter vieler Gefahr für Leib und Seele. Aber wenn man von ihnen getrunken hat, wird man sein Lebtag nicht krank und weiß alles in der Welt. Die Sonne oben war sein Auge, und das helle, goldige Licht über die Erde, über Bäume und Bäche, Blumen und Gräser hin: so lachte er.

Wieder fromm! Wie damals; und doch anders ...

* * *

Und nun kommt diese unerklärliche Stimmung über mich. Ganz Lauschen bin ich, ganz Sehen, ganz Fühlen. Sonnenschein, wehende Luft, rieselnder Quell, Laubgeflüster, Bienensummen. Nichts bleibt von mir übrig als ein unaussprechliches Lust- und Kraftgefühl ...

Ich springe auf und stopfe meinen Franzosen in die Tasche. Hier durchs Gebüsch und vorwärts auf den wildesten Pfaden, immer vorwärts in die schöne, grüne, lebendige Welt hinein.

Die Zweige rascheln an mir hin, an meinen Kleidern, an meinem Gesicht, meinen Händen. Es ist mir wie eine Liebkosung.

Zwischen den alten Stämmen ruf ich mir jauchzend das Echo wach.

O eine Bitte! Eine dringende Bitte!

Man hat's doch heute überall »so herrlich weit gebracht«. Möchte nicht einer von unseren gewiß höchst ehrenwerten Grüblern, Wissenschaftlern, Lumpensammlern der Weltgeschichte und bestpatentierten Erfindern irgendeine Botanisiertrommel zusammenmathematisieren, in der man ein bißchen, ach! nur ein winziges bißchen von dieser freien, fröhlichen, schaffenskräftigen Waldstimmung einigermaßen wohlkonserviert heruntertransportieren könnte in die so gescheite und, ach! so enge, enge Welt?

Na?! Sämtlichen Humanitätsdusel und sämtliches neunmalkluge Gebildetsein wollten wir freudig dafür dreingeben, o heiliger Homunkulus!...

Ach ja, wenn man nur Zeit hätte, auf individuelle Wünsche Rücksicht zu nehmen!...

Man wird mich günstigstenfalls vertrösten und die Petition einstweilen ad acta legen...

* * *

Ein paar Stunden sind hin. Und nun ist es gegen Abend, und ich stehe wieder draußen auf den Hügeln.

Und da steh ich und freue mich wie ein Kind, wie schön das Abendrot da oben über dem dunkelnden Wald hinleuchtet.

Hat man nun wohl bei so widerborstigen Sympathien das Zeug zu einem »décadent«, zu einem »homme fin de siècle«?

Ich glaube, ich werde mein Lebtag beim besten Willen nicht gescheit genug dazu sein...


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