Johannes Schlaf
In Dingsda
Johannes Schlaf

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Feierabend

Den ganzen Nachmittag über grub ich heute hinten im Garten, und nun hab ich gegessen, in der Laube, der vollbrachten Arbeit gegenüber, zwischen flüsterndem Weingerank, an weiß gedecktem Tisch. Milch, Eier, Landkäse, Schinken und braunes Brot. Mit einem Appetit wie ein Scheunendrescher.

Nun ist es gegen Sonnenuntergang, und vorm Schlafengehn mach ich noch meine Runde durch die Felder.

Auf der Dorfgasse schreiende Kinder. Leute vor den Häuserchen, die ihre arbeitsmüden Glieder in der Abendfrische kühlen. Auf den Höfen bellen die Hunde. Das Brüllen einer Kuh. Dumpfes Pferdegestampf und Stallgeruch.

Drüben das letzte Gehöft. Mit einem langen, windschiefen Staket streckt es sich spitz in das freie Land hinein, das sanft ansteigt. Eine Gänseschar, weiß, an der äußersten Spitze des Gartens, kreischt in die tiefe, milde Abendruhe.

Bis Mittag war heute eine drückende Hitze gewesen, dann war ein kleines Gewitter vorübergerauscht und hatte Kühlung geschaffen. Davon ist der Himmel jetzt noch mit einem dünnen, gleichmäßigen Dunst überzogen. Am Horizont über den Feldern hin verdichtet er sich zu einer breiten, blaugrauen Schicht. Dazwischen hängt die Sonne, ein mächtiger, dunkelroter Nebelball. Nach rechts und links ist eine breite, schmutzige Röte über den Himmel hingewischt.

Ein ungewisses Licht. Ein Abendsonnenschein, mehr zu fühlen als zu sehen. Nirgends ein Schatten. Und doch liegt es über dem Wegstaub wie ein zartes, lila Lichtdämmern, und in den Lüften webt es wie ein feiner Lichtdunst.

Ferner, immer ferner verklingt hinter mir das Kreischen der Gänse, das Gekläff der Hunde. Lauter und immer vernehmlicher jetzt das Schrillen der Heimchen im Weggras und überall zwischen den leise knisternden, überreifen, bronzefarbenen Getreidehalmen das Schnarren der Rebhühner aus dem weiten Dämmern. Die mild schmeichelnde Abendkühle; das scharfe, würzige Duften von den Kartoffelfeldern her, und dieses geahnte Sonnenlicht in der ganzen abendlichen Landschaft.

Die dicken Ähren nicken und beugen sich, und leise wühlt es in matten, rotgoldigen Lichtern über eine Haferbreite hin. Drüben rutscht die Sonnenscheibe zwischen den Dunstschichten hinunter. Jetzt nur noch die Hälfte, jetzt nur noch ein rotes Tupfchen – und nun ist auch das weg. Nun ganz das heimische, trauliche Dämmern über den weiten, weiten Feldern, und im Westen, schräg über den Himmel hin, die matte Röte ...

* * *

Allein. Mitten zwischen den Feldern. Ganz allein.

Ein so eigenes Gefühl, immer vorwärts, vorwärts, ziellos in das zunehmende Dämmern hineinzuschlendern mit seinen hundert geheimen Lauten.

Ab und zu zuckt es mir in den Armmuskeln von der getanen Arbeit. Über den ganzen Körper eine süße, wohlige Müdigkeit. Frei und ruhig geht mein Atem.

Allmählich nimmt es den Horizont weg, und die Nähe wird lebendig. Eine Feldmaus, raschelnd in eine Furche hinein. Das leise, flüsternde Rauschen in den schwarzen Wipfeln der Kirschbäume zu beiden Seiten des Weges.

Ein leises, metallisches Surren vor meinem Ohr, und an meine Backe weht ein feiner, leichter, ganz leichter Lufthauch.

Ich bleibe stehen. Fast erschrocken, was es ist. – Ein Mückenschwarm. Gegen das verblassende Abendrot kann ich ihn noch erkennen, wie er durcheinanderwirbelt in regelmäßigen, zuckenden Spiralen.

Und dunkler wird die Welt, und dunkler, und verschwimmt in Dämmerungen. Und weiter und weiter zieht es einen ins Einsame. Jeder Wille ist umsponnen, süß gelähmt von einem heimischen Grauen.

Fern, weit von allen Menschen!

Nur die dunkelnden Felder in der Runde.

* * *

Dort schiebt es sich über den Horizont in die Höhe, ein roter Kreisabschnitt. Breit, riesig, daß es einen erschreckt. Und immer höher und immer runder wächst es herauf und wird ein mächtiger Halbkreis. Und nun steht eine ungeheure Scheibe rot auf dem Horizont. Wie ein nie gesehenes, rätselhaftes, plötzlich an das Firmament gezaubertes neues Gestirn.

Der volle Mond.

Zwischen zergehendem Dunst hebt er sich und steigt langsam empor in das freiere Blau, und sein Licht fängt an, mit silbrigem Glast sich hinzuweben über die weiten, stillen Felder.

* * *

Hier, auf kühler Höhe, schwarz, mit seinen dunkelroten Fensterlöchern, mitten im einsamen Land, ein Schachthaus. Drinnen, dumpf, das Stöhnen und Keuchen einer Maschine. Hier oben der freie Nachtfrieden, und da unten, tief unter meinen Füßen, mühen sich Menschen in enger, dunstiger Finsternis.

Ein paar hundert Schritt weiter ein Tagesschacht. Steil, mit schwarzen, riesigen Wandflächen senkt er sich in die dunkle Tiefe. Fern aus dem stillen Grunde kommt es herauf wie ein Rieseln und Kluckern von verborgenen Gewässern. Dies und das ewige Schrillen der Heimchen sind hier die einzigen Laute. Drüben, auf der anderen Seite, mir gegenüber, ein Stück Staket, das sich schwarz gegen den Himmel abzeichnet, und ein paar kümmerliche Bäumchen, und hintereinander drei niedrige Wagen, mit denen am Tage allerlei Schutt aus dem Schachte heraufgefördert wird.

Überall dick schwarzbrauner, von unzähligen Radspuren durchfurchter Kohlenstaub. Drüberhin wird es jetzt lebendig von einem feinen Glanz, und neugierige Lichter dringen mit breiten Streifen hinein in die schwarze Tiefe.

Am Tage ist hier oben und da unten ein lautes Leben von hundert fleißigen Menschen, Peitschen knallen, die schwergeladenen Wagen knarren in ihren Achsen, die Fuhrknechte brüllen und fluchen. Die Kohlenwagen rollen und klirren über die Schienenstränge.

Und jetzt das öde, lastende Schweigen.

* * *

Der Dunst hoch oben am Himmel ist zergangen vor dem aufsteigenden Mond her, der nun goldig leuchtend über den hellen Feldern steht. Es ballt sich da oben zu weißen Wölkchen und dehnt sich hin zu milchigen, dünnen Streifen, zwischen denen Sterne flimmern.

Dort ein umgekippter Kohlenkarren, die eisernen Räder schief nach oben; das Mondlicht drauf mit stilleuchtenden Reflexen. Ich schreite hin und setze mich und blicke von hier über das mondlichte Land hin.

Und alles, was ich dachte und je gedacht habe, und alles, was ich litt und was mich freute: es wird ein einziges Empfinden, es verdichtet sich zu einem unaussprechlichen Gefühl, zu einer unsagbaren, stillheiteren, wonnigen Sehnsucht: einer wollüstigen Sehnsucht zu sterben ...

Ich kenne sie. Ich kenne sie ganz genau. Willenlos nimmt sie mich hin.

Ein wunderbares Träumen und Sehnen, wer weiß wohin? Mir ist, als ob es mich hinnähme in rätselhafte Weiten.

Was ist es? Rausch? Lebendigstes Leben?

Glück! Glück! – Zuviel Glück! Ein böses, gefährliches Glück! ...

Zuviel Glück: denn das Unsagbare benennen, es festzuhalten, es auskosten in flüchtigen Symbolen, ist allein erträgliches Glück und erträgliches Leid. Darin leben wir alle, wie wir sind, was wir sind ...

Stimmen. Dunkle Gestalten gegen den hellen Himmel hin. Eine Schar Bergleute vom Schachthause her. Es ist mir wie eine Befreiung. Talabwärts geh ich ihnen nach zum Dorf hinunter.

Vor den ersten Häuserchen unten singen sie zu einer Ziehharmonika. Die dünnen Klänge verklingen über die Felder, über die nun weit, weit der Mond leuchtet.

Ah! Ich bin müde zum Umfallen!

Werd ich schlafen! ...


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