Johannes Schlaf
In Dingsda
Johannes Schlaf

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Siesta

Ein Nichtstun ist mein Leben hier. So recht ein göttliches Nichtstun ohne Reue über verlorene, tote Stunden. Ich träume so hin, in innerster, stiller, unbewußter Fülle. So fühl ich, wie ich gedeihe; gedeihe wie der Baum in freier Luft, in der heiteren Sonne. Und nichts mag ich kennen, nichts außer diesem Gefühl.

Nachmittag ists. Ich sitze am Fenster und rauche meine Pfeife zu einer Tasse Kaffee. Beim Umrühren wirbelt sich das flinkernde Braun zusammen in unzähligen, perlmutterfarbenen Perlchen.

Der Goldrand der Tasse glitzert in der Sonne. Ein zarter Brodem zieht sich gegen das Fenster hin, an dem eine Fliege summt. Der Tabaksrauch verliert sich hinten in dem lichtdunstigen Zimmer. Vorm Fenster rankt sich das helle Weinlaub.

Zwei Kinder. Im blauen und roten Kleidchen, in safrangelben Strümpfen kommen sie die Gasse herab. Hand in Hand stolpern sie über das Pflaster. Sie haben die Stumpfnäschen in die Höhe gereckt und schwatzen laut ihren süßen Unsinn so vor sich hin in das goldige Mittagslicht hinein. Allmählich wiegt es mich ein. Ich dämmere so hinüber...

Kirchgang

Sonntag. Die liebe helle Sonne spielt, hinten im Garten. Alles ist so blank. Der Hof unten sauber gefegt. Nirgends auch nur ein Strohhälmchen. Auf den blankgescheuerten Steinplatten vor der Hoftür ist weißer Sand gestreut. Die Hühner gackeln still auf dem hellen Pflaster umher.

Aus dem Dorfe kein Laut. Nur das zweite Kirchläuten tönt durch die blaue, klare Luft herüber.

Ich habe mich in meinen schwarzen Gehrock geworfen und in jeder Beziehung Grande toilette gemacht. Denn ich muß heute schon mal mit zur Kirche. Schon um mich freizuhalten gegen alle möglichen temperamentvollen Katechisationen über Gott den Vater, Gott den Sohn und Gott den Heiligen Geist. Dergleichen kann einem sehr peinlich sein, wenn man seinen Katechismus nicht mehr so recht am Schnürchen hat. Recht qualifizierbar bin ich in dieser Beziehung meiner Umgebung hier sowieso nicht, und es ist gut, dem Mißtrauen keine weitere Nahrung zu geben. Denn warum in guten Menschen inquisitorische Instinkte wecken? Warum? – Überdies: Gott! Wie lange bin ich in keine Kirche gekommen!...

»Sind Sie parat?!«

Hinter mir hat die Tür geknarrt. Die Frau Wirtin. Ihr adrettes, rundes Figürchen glänzt von schwarzer Seide. In der Hand hält sie über dem schneeweißen, gezackten Taschentuch das Gesangbuch, mit Goldschnitt und einem goldenen Abendmahlkelch auf dem schwarzledernen Deckel. Unter der breiten Strohhutkrempe vor fragend die grauen Augen. Ich glaube, ein wenig mißtrauisch, ob ich innerlich auch so recht auf den Kirchgang vorbereitet bin und ob es mich auch ja nicht so etwas wie eine sehr zu mißbilligende Überwindung kostet, mitzukommen.

Nein! Ich bin ganz frei und unbefangen.

Hinter ihr, auf dem Flur, rosig das Töchterchen im Sonntagsstaat, sauber wie ein Teeröschen. Ich mache den Damen ein Kompliment über ihre Toiletten, das wohlwollend entgegengenommen wird.

Ob ich auch einen Zweier habe für den Klingelbeutel?

Alles in Ordnung, und nun können wir gehen.

* * *

Die Gasse hinauf ist's still und sauber. Überall ist gefegt und vor den Häuserchen weißer Sand gestreut. Hier und da blitzt eine blankgeputzte Messingklinke in der Sonne, und vor den gescheuerten Fensterkreuzen glühen die Geranien und Fuchsienblüten. Ein Mann steht breitbeinig, in dunklen Sonntagskleidern, mit blendend weißen Hemdsärmeln vor einer offenen Haustür und hat die Fingerspitzen in den Hosentaschen. Kinder, bereits im Sonntagsstaat, die Haare noch straff und starr von Wasser, sitzen in der Sonne und mühen sich behaglich mit ihren Frühstücksstullen. Die liebe, schmutznäsige Unschuld, die noch in keine Kirche zu gehen braucht!

Das heißt, küssen möcht ich sie deshalb doch nicht, wie weiland Werther des Amtmanns Gören ...

Eine Frau, aus einem niedrigen Fensterchen heraus oder über eine regenverwaschene Halbtür hinweg, die Kirchgänger zu mustern.

Zu drei gehen wir, mitten in der Gasse, andächtigen Schrittes hinauf.

Da ist die Frau Ortsvorsteher. Da das Fräulein vom Gute. Sie trägt sich ein wenig zu auffällig nach der neusten Mode. Sie besitzt ein sehr verwöhntes Spitzhündchen, ist sehr in der Marlitt und Werner belesen, und ihr Lieblingsbuch sind Geroks »Palmblätter«. Im übrigen ist sie hübsch und, wie man sich im Vertrauen mitteilt, vom »Herrn«, dessen Frau zurzeit in Karlsbad ist, viel zu sehr verwöhnt ... Da ist die Frau Gutsbesitzer Soundso. Ah! Und die Frau Amtmann mit ihren beiden Töchtern und dem Herrn Sohn, der in den Ferien da ist! Man hebt die Blicke und grüßt. So geht's dem Geläute entgegen, das immer deutlicher wird. Nun den Kirchberg hinauf. Die Frau Wirtin keucht ein wenig und bleibt ab und zu stehen, uns auf die schöne Aussicht aufmerksam zu machen, die man nach beiden Seiten über die hellen Hügel und Felder hin hat. Zwischen den grünen Gräbern, zwischen denen ökonomisch Kantors Hühner nach Käferlarven und Würmern picken, drängen sich die dörflich bunten Sommertoiletten.

Die Kirchtür. Zu beiden Seiten, in Schneeballbüschen halb versunken, schief, zwei steinerne Ritter, über welche die Sonne ein Netzwerk von bläulichen Schattenflecken schaukeln läßt. Aus dem niedrigen, weißgetünchten Torgang weht es einem kühl entgegen. Oben versummt der letzte Glockenton. Drinnen setzt mit einem scharfen Ruck die Orgel ein.

Die Kirche dehnt sich in einem sonnigen Dunst. Querdurch, von den Fenstern schräg über die weißen Kirchstühle hin, legen sich drei breite, sonnige Lichtbalken.

Die Frau Pastor mit ihren sämtlichen Töchtern.

»O bitte! Nach Ihnen!«

* * *

»Eins ist not, ach Herr, dies ei-neee ...«

Die Schuljungen oben auf dem hellblau gestrichenen Orgelchor schreien aus vollem Halse, daß es einem mit Messerschärfe durch alle Nerven fährt, und dazwischen macht sich der Tenor des Herrn Kantor vernehmbar. Über die Kirchstühle in sanftem, schwebendem Säuseln der Diskant der Gemeinde, hier und da übertönt von einem altväterlichen Tremolo oder einem ungefügen Grundbaß. Bei den Fermaten das Fauchen und Arbeiten der Orgel.

Einen Augenblick stehen wir nebeneinander im Kirchstuhl über all den bunten Hüten und krummen Rücken. Die Damen verrichten sehr andächtig ihr Gebet. Aber ich merke wie zwei Blicke meine Hände streifen: ein scharfer und ein erschreckter. Ich muß still in mich hineinlachen, lege die Fingerspitzen ineinander und senke den Kopf.

Ein Rauschen, Räuspern und das Blättern der Gesangbücher.

Und nun darf ich mich mit gutem Gewissen umsehen.

* * *

Ich habe eine Anwandlung von Ironie, über die ich mich aber sofort ärgere. Und im nächsten Augenblick überschleicht es mich mit hundert heimlichen Erinnerungen, und nun vertraut sich mir das alles mit hundert Heimlichkeiten. Viel Umstände haben sie mit ihrem Gotteshaus nicht gemacht. Ein mäßig großer, weißgetünchter Raum wie eine große Scheune.

Aber Sonne! Sonne! – Von allen Seiten Sonne, Licht und Luft, und über wippendem Laub draußen der blaue Himmel. Von der blättrigen Decke herab hängt an einer langen, gegliederten Eisenstange ein schwarzverstaubter Kronleuchter mitten über den Köpfen der Gemeinde. Unter den Holzbrüstungen der Chöre mit ihrem plumpen Schnitzwerk in Glaskästen vertrocknete Totenkränze mit weißen, moirierten Schleifen; und mit starren, staubigen Falten ein paar vergilbte, gänzlich zerfetzte Fahnen. Hinten, wo der Raum in einen lichtdunstigen Spitzbogen zusammenläuft, steht in ärmlicher Pracht der kleine Altar. Zwischen den beiden Kerzen das schwarze Kruzifix mit dem vergoldeten Christus dran. Ihre stillen Flammen verbleichen in dem grellen Sonnenlicht. Davor die mächtige Bibel, aufgeschlagen, mit leuchtendem Goldschnitt, und dahinter ein gänzlich verdunkeltes Gemälde, das die Kreuzigung darstellt. Nur ein paar Gewänder leuchten noch grellbunt aus dem Dunkel vor, und schwefelgelb in der Mitte die beiden Schacher mit immensem Muskelwerk, und zwischen ihnen der dürre, verrenkte Leib des Erlösers. Ein schwarzes Altartuch reicht mit schmalen Silberfransen bis auf die rissigen, verwaschenen Steinfliesen herab. Oben, in der Nähe des Altars, die hölzerne, graublau gestrichene, ganz schmucklose Kanzel, zu der von beiden Seiten Treppen mit grobgeschnitzten Geländern hinaufführen. Dahinter an den fahlen, weißen Wänden lange, dunkle Gemälde. Verdiente Pfarrherren aus früheren Zeiten. Aus all dem Schwarz leuchten nur ihre roten Gesichter, die Hände, die goldenen Schnallen ihre Bibeln hervor und vor allem die weißen Beffchen.

Ach! Mir ist zumute wie nach sämtlichen drei großen Festtagen des Jahres auf einmal! Zwischendurch aber ist es mir, als hört ich Rauschgold knittern und als röch ich angebrannte Wachskerzen, Fichtennadeln und buntlackiertes Spielzeug. Als ständ ich zur Christmette mit frostroter Nase oben auf dem Chor, vor mir, auf der Brüstung, in blecherner Tülle das brennende Wachsstöckchen, und jauchzte mit den anderen in den jubelnden Trompetenschall hinein, über all die roten, in einem Lichtglanz von tausend Kerzen strahlenden Gesichter, und als hört ich die Stimme des Pastors: »Freuet euch mit mir, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids!«

Wie zutraulich nah einem das alles ist.

Was man für eine wunderliche Wegstrecke zurückgelegt hat von da bis hierher! ...

* * *

Die Orgel lärmt ein frohlockendes Nachspiel herunter. Ein allgemeines Räuspern, Rauschen, Husten und Scharren. Die letzten Strophen hindurch hatte sich der Gesang eben noch so hingeschleppt, unter allerlei Püffen oben vom Orgelchor her.

Man erhebt sich.

Vorn steht schon der Herr Pastor mitten vor dem Altar, und über dem Goldschnitt seiner Bibel wölbt sich seine breite Brust. Schön von der Sonne beleuchtet sein rotwangiger Lutherkopf, die sauberen weißen Beffchen unter dem runden Unterkinn. Mit altgewohntem, zuverlässigem Pathos verliest er die Liturgie. Die Gemeinde und oben die Jungens antworten prompt nach jedem Satze, wenn sich seine runden, weißen Hände mit dem Buche senken und seine kleinen Augen mit dem unerschütterlichen Blick des Gottesmannes sich zum Chor erheben.

Ein Zwitschern. Hell und fein geben es die Wände wieder. Ein Rotkehlchen, das sich hinten durch die offene Tür hereinverirrt hat und nun ängstlich an den sonnigen Fenstern hinflattert: erschreckt von dem Gesang und dem Orgellärm. In langen, ängstlichen Kreisen zirpt es jetzt um den Altar, und nun setzt es sich ermattet auf die vergoldete, blitzende Dornenkrone des Heilandes, mitten über dem ernsten, gesunden Antlitz des Herrn Pastor.

Gestern abend hab ich ihm drüben einen Besuch gemacht. Er wohnt in einem großen, gelben Hause neben der Kirche mitten im Grünen. Weit im Kreise überblickt man die ganze Landschaft. Er hat mir seinen Obst- und Gemüsegarten gezeigt, seine Blumenbeete und seinen Hühnerhof mit dem großen, schattigen Nußbaum in der Mitte. In einem leeren, gefegten Ziegenstall hatten sich seine drei Jüngsten eine gute Stube eingerichtet. Die Öffnung über der Halbtür war mit einem alten Gardinenfetzen verhängt. Die Puppen und zwei zahme, weiße Hühner waren die Kinder. Nachher haben wir oben in der Pfeifenkrautlaube dicht an der Mauer bei Zigarren und Kaffee um die schlimmen, gottvergessenen Zeiten und die Nuditäten auf der Schloßbrücke zu Berlin herumgeplaudert. Die Sonne glitzerte in den weißen Tassen, auf der Zinnkanne und in dem braunen Trank, und der Rauch unserer Zigarren zog sich schräg in die Landschaft hinein ... Ein schöner, stiller, sonniger Winkel!

»Heilig! Heilig! Heilig ist der Herr Gott Ze-ba-oth!
Alle Lande, alle Lande, alle Lan-deee
Sind seiner Ehre voll!«

Oben schreien jetzt wieder die Jungens, und die ganze Gemeinde stimmt jauchzend ein, denn nun braucht man nicht mehr zu stehen, und es kommt die Predigt.

Das Rotkehlchen hat sich wieder aufgemacht und schwirrt verzweifelt an einem der Fenster auf und nieder.

Der Herr Kantor läßt den Jubel der Heerscharen sich noch ein paar Takte hindurch ausjauchzen, so daß man hinreichend Zeit findet, sich zurechtzusetzen, zu schneuzen, die Brillen zu rücken und das Zwischenlied aufzuschlagen, und dann lenkt er mit einem gewandten Schnörkel zu der neuen Melodie über. Drei Strophen, und nun steht der Herr Pastor wieder oben auf der Kanzel.

* * *

Stehend wird der Text angehört und nun: »Im Herrn Geliebte!« ...

Neben mir, ganz allein auf einer weißen Seitenbank unter dem Seitenchor, sitzt Kramers Knecht im bläulichen Halbschatten. Er sitzt vornübergebeugt mit seinem breiten, von der schweren Wochenarbeit niedergezwängten Rücken.

Zwischen den knorrigen, rotbraunen Fingern hält er das dicke, altfränkische Gesangbuch andächtig vor sich auf den dicken, knochigen Knien. Aus der schwarzen Halsbinde heraus sein braunes, verrunzeltes, frisch rasiertes Gesicht, blau angelaufen um das Kinn herum, ein schwarzes Stück Schwamm auf die Backe geklebt, weil der Barbier ihn geschnitten hat. Seine strohblonden, graumelierten Haare sind mit Wasser glatt an den kleinen Spitzkopf angekämmt, in die niedrige Stirn hinein und an den Seiten, hinter den abstehenden, großen, biederen Ohren vor, über die Schläfe hinweg. Aus dem breiten, runzligen Munde blinken die Zähne hervor. Seine kleinen, wasserblauen Augen starren, unter den dicken, hellblonden Brauen vor, zu dem Pastor hinauf. Jetzt blinken seine weißen Wimpern, der Kopf nickt. Die Lider werden schwerer und schwerer. Jetzt fallen sie zu. Er ist eingeschlafen.

Oben erzählt der Herr Pastor von Maria und Martha, die andachtbeflissen zu des Herrn Füßen saßen. Sein schöner, ruhiger Baß tönt in schmeichelnden Perioden über die Gemeinde hin. Warm und goldig liegt die Sonne zwischen den stillen Kirchstühlen. Meine Frau Wirtin hat ihr rundes Gesicht seitwärts geneigt und schnauft leise durch die Nase. Die Frau Amtmann, das Fräulein vom Gute: eins nach dem anderen riskiert sein Nickerchen; einen nach dem andern um mich her wiegt das gute Gotteswort in wohlverdienten Schlummer.

* * *

»Amen!«

Der Herr Pastor schneuzt sich vernehmbar. Dreimal hintereinander. Über die Kirchstühle hin geht ein Rauschen. Und nun: »Es hat dem Herrn über Leben und Tod gefallen, die Frau Rosine, Marie, Susanne Küntzel im 56. Jahre ihres Alters hinwegzurufen aus diesem Jammertal« usw. Ein stummes Gebet. Der Segen über die stehende Gemeinde hin: »Der Herr segne euch und behüte euch! Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch und gebe euch seinen Frieden! Amen!« – Amen! Amen! Amen! ... Das Kirchengebet. Der letzte Vers. Und nun strömt es hinaus in den warmen, sonnigen Mittag ...

Zu Hause gibt es ein Süppchen »Hören Sie?«, den pp. Sonntagsbraten, ein deliziöses Kompott von frischen Kirschen, und zu allem ein goldiges, sanftmütiges Moselweinchen ...


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