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Abschied

Und endlich, damit es wieder werde wie ›früher‹, damit der wachsende Trübsinn der Großen aufhöre und weil die blauweißroten Fahnen lustiger waren als die schwarzweißroten und auch weil es so gerecht war, nach dem Verschwinden von so viel andern, die er totgeschlagen und die man zumindest von Ansehn gekannt hatte, endlich starb auch er, der nie gesehene Riese, der Krieg.

Wie er ins Leben getreten war, ob überraschend oder erwartet, daran erinnerten sich die Kinder nicht. Als er endete, waren sie überrascht von der Plötzlichkeit des Vorgangs.

Lisas Vater hatte sie gegen Ende des Vormittags mit sich auf die Plattform des Münsters genommen, dort standen sie und sahen ihn sterben. Sie vernahmen sein Röcheln und fingen seine letzten, flatterhaft irren Blicke.

Die Sonne schien, es war kalt, die weite Ebene vor ihnen silbrig bereift. Darüber lag ein eisig blauer Himmel. Nur der Vogesenkamm, der war von einer Wolke verhüllt, in der blitzte es unaufhörlich. Manchmal dauerte so ein Blitz minutenlang, und trotzdem erhellte er nicht das Dunkel, worin die Wolke die Berge mit ihren vertrauten Umrissen gefangenhielt. Oder die Berge, zu dieser Ansicht neigten die Kinder, waren gar nicht mehr da weggeschossen, aufgefressen vom Feuer. Wenn die Wolke sich verziehe, könnte man einfach nach Frankreich hineinsehen, und da man nun französisch wurde, fanden sie es recht und billig so und bequem. Indessen wurde die Wolke dichter und dichter, und sie donnerte und blitzte, und das Land mit seinen stillen Dörfern wurde immer fahler vor Schrecken. »Das sind die Amerikaner«, sagte Doktor Walter. »Sie sind frisch an der Front. Sie verschießen noch schnell ihre Munition.«

»Sie zielen nicht mehr«, betonte Robert.

»Ach so!« sagte Lisa und atmete auf.

Ihr Vater hielt die Uhr in der Hand. Ernst, doch mit einem unmerklichen Lächeln verfolgte er die Zeiger, die der festgesetzten Stunde des Waffenstillstandes entgegeneilten, als zählte er die Pulsschläge eines Sterbenden.

Das Münster bebte von den Schlägen, die ununterbrochen auf den verdunkelten Horizont herniederfielen, und das Schwanken der Plattform unter ihren Füßen verursachte den Kindern Übelkeit.

»Jetzt!« sagte Lisas Vater.

Die beiden Zeiger standen genau auf Mittag.

Im gleichen Augenblick verstummte das Dröhnen, und es blitzte auch nicht mehr in der Wolke über den Vogesen. Sie blieb unbeweglich, schmutziggrau, mit weißen Fasern am Rand, die sich im Blau des Himmels verloren. Der Doktor steckte die Uhr in die Tasche.

Aber die Stille, die jetzt eintrat, war so schrecklich, daß die Kinder sich an die Erwachsenen drängten und Lisa plötzlich erbrach.

Einige Erwachsene schrien »Hurra!« und » Vive!« Ein Spaßvogel, der Lisas Mißgeschick bemerkte, sagte laut: »Genieren Sie sich nicht, mein Fräulein. Wir tun schon seit vier Jahren nichts andres.«

Die Kinder sahen sich um. Er trug eine abgerissene graue Uniform, und sein Gesicht war ein Dickicht kohlschwarzer Haare, aus dem zwei Augen hervorbrannten.

»Schweigen Sie!« rief eine scharfe Stimme.

Der Soldat duckte sich und verschwand.

Alle Glocken läuteten, zuerst die des Münsters allein, gleich danach fielen die der andern Kirchen ein. Die Menschen auf der Plattform und die Häuser darunter standen wie begraben unter dem Geläut.

Und was die Kinder bei dem ›Jetzt‹ des Doktors empfunden hatten, das wiederholte sich für die ganze Stadt. Noch nie war es so still wie nun, als die Glocken auf hörten zu läuten.

 

Und über den verwesenden Krieg hinweg kam der Friede geschritten mit tausend Fahnen und Fanfaren. In jeder Gasse lag der Leichnam des Krieges. Durch jede Gasse marschierten, ohne zu stocken, die tausend Fanfaren und Fahnen. Sie hielten alle stundenlang in der Kälte aus, um ihn zu begrüßen, Bonaparte und Kléber, die Schwarze mit der roten Rose, Lucie Schön und die alberne Hämmerle, der Flügelmann der Ägypten-Armee, der zugleich der Schlachtenlärm und die Sultanstochter selber war. Endlich spürten sie wieder wie in den verschollenen Tagen des Kriegsbeginns den Stachel im erhitzten Gemüt, doch als steile Flamme jetzt und Maßlosigkeit, die sie lustvoll verzehrte. Sie standen vor ihren Eltern, schwangen kleine blauweißrote Fahnen und schrien und polterten, wie sie nie hatten schreien und poltern hören, nicht einmal damals, als sie nach dem Einsatz der schweren Artillerie, der den Sieg bei den Pyramiden entschied, vor dem Gebrüll der Sieger davongelaufen waren. Ein- oder zweimal blickte Bonaparte sich nach Eva um. Sie war nicht da, die Blonde mit der weißen Rose, die für ihn hätte sterben wollen. Sie war mit ihrer Familie vor den Franzosen aus dem Land geflohen. Er vermißte ihre stolze Haltung, ihr frisches Lächeln, das nur ein halbes Lächeln war – eine Knospe, die, noch ganz voller Tau, sich unter der ersten Sonne öffnet. Lisa schwang ihr Fähnchen, drehte sich, sprang, öffnete sich gleichsam mit wilden Gebärden und schrie aus vollem Hals. Sie war herrlich wie eine Furie, und die vorbeimarschierenden Soldaten sahen sie an, lachten und machten ihr Zeichen. Bald darauf sperrte ihre Mutter sie ein, weil sie sich innerhalb einer Woche mit drei verschiedenen Offizieren verloben wollte.

Robert schrieb an Eva, erhielt aber keine Antwort. Wahrscheinlich wohnte sie nicht mehr im Karlsruher Hotel, das sie ihm als vorläufige Adresse angegeben hatte. Vielleicht auch hielten die deutschen Revolutionäre Post und Eisenbahn besetzt. Robert sah in ihnen Nachfahren der Jakobiner und wünschte ihnen einen saftigen Thermidor. Darin wußte er Bescheid. Revolutionen wurden gemacht, um einem Bonaparte in den Sattel zu helfen.

Und eines Tages dann waren die Gassen wieder die alten, zuweilen leer, zuweilen still wie ein Friedhof. Der Friede trug Alltagskleider und trat leise auf.

Die Ärzte waren voll beschäftigt mit der Bekämpfung der Grippe, und Doktor Walter mußte einen Vertreter bestellen. Denn am gleichen Tag, an dem seine Frau in das harte, eiskalte Grab hinabgelassen wurde (der Winter mit seiner klaren Strenge und Unnachgiebigkeit, die wie bewußte Feindschaft wirkte, erhöhte noch die Grausamkeit des Vorgangs), legte er sich selbst zu Bett und stand nicht mehr auf. Wieder mußten die Totengräber zu den Spitzhacken greifen, um die tiefgefrorene Erde aufzureißen und den Sarg mit Lisas und Ferdinands Vater neben den Sarg der Mutter zu stellen, worauf das entsetzliche Poltern der hartgefrorenen Erdbrocken auf den Sarg zum zweitenmal in ihre Ohren drang.

Lisa schrie auf und stürzte in die Arme einer Frau, die unbeweglich dastand, mit einem Gesicht so hart wie die gefrorene Erde, und jetzt ihre Arme um sie schloß wie im Traum.

Das war Tante Anni aus dem benachbarten Baden. Obwohl sie nur eine Eisenbahnstunde entfernt wohnte, hatte sie die Einreiseerlaubnis nach Frankreich nicht früh genug erhalten, um am Begräbnis ihrer Schwester teilzunehmen. So war sie wenigstens auf den Tag genau zurechtgekommen, um den Schwager zu begraben.

Tante Anni löste den Walterschen Haushalt auf und nahm die Kinder mit sich über den Rhein.

Bonaparte gab ihnen das Geleit bis an die Kehler Brücke. Dabei erfuhr er, daß Evas Vater Oberamtmann in Himmelsburg geworden und Eva das Mädchengymnasium besuche. Tante Anni äußerte, sie sei ein schönes und edles Kind. Von der Revolution und der Wirtschaft der Roten hatte man in Himmelsburg wenig gespürt. Soweit sie Farbe bekannten, waren sie lammfromm, und insofern konnte Evas Vater mit seinem neuen Amt zufrieden sein.

Kurz bevor der Kommissar an der Rheinbrücke die Reisenden entließ, nahm Robert Lisa auf die Seite: »Du wirst Eva von mir grüßen«, befahl er. »Verstanden?«

»Ich werde es mir überlegen«, antwortete sie, und bevor er etwas hinzufügen konnte, wurde sie von Tante Anni, die über die Umständlichkeit der Grenzkontrolle erbost war, ergriffen und mit einem Ruck in eine Kette von bepackten, furchtsam eiligen Menschen geschoben, in der sie sofort verschwand. Der hochgetragene schwarze Hut Tante Annis mit dem Schleier blieb noch eine ganze Weile sichtbar.


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