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Die Riesen

Das Kind fand sich leichter mit dem Zorn der Erwachsenen ab als mit ihrem Kummer. Wenn der Vater schimpfte, fühlte Robert sich ihm schmerzhaft mit allen Fasern verbunden, der Vater riß ihn gewissermaßen an sich, das Gefühl der Geborgenheit ging nicht verloren, es nahm nur wilde Gestalt an. Ja, der Zorn übte auf ihn eine Anziehung aus, die mehr als Neugier, die ein grausig stilles Verlangen nach Erschütterung war. Traurigkeit hingegen schnitt jede Verbindung ab, man stand wie vor einem großen, fremden Wald, kein Kind konnte ihn betreten.

Obwohl man den düster geschwellten Lippen, die das Gesicht des Vaters beherrschten, den Unterschied nicht ansah und die Äußerungen der Unlust die gleichen schienen, lernte Robert früh verstehn, wann es Ärger und Zorn waren, die ihn verfinsterten, oder die rätselhaften ›Sorgen‹. Er unterschied es, lange bevor der Mutter einmal die Worte entschlüpften: »Dein Vater ist der beste Mensch, Robby – und ich mache ihm lauter Sorgen!«

Sie sprach so, als sie von einer ihrer geheimen Reisen zurückgekehrt war, während deren Robby mehr unter der Fremdheit des Vaters litt als unter der Abwesenheit der Mutter. Durch das Bekenntnis wurde die bedrückende Wehmut des Vaters in Roberts Augen geheiligt. Zugleich entrückte es diesen noch weiter für das kindliche Gemüt, indem es ihn in die Nähe der Heiligen und Märtyrer versetzte.

Mit den Reisen der Mutter aber verhielt es sich so, daß sie eines Tages plötzlich fort war.

Gewöhnlich verschwand sie gegen Abend, nachdem sie die Tage zuvor, ohne das Haus zu den üblichen Besorgungen zu verlassen, in steigender Unruhe herumgegangen war. Der Vater saß bis tief in die Nacht am Telefon, und Robert, der mit wechselndem Erfolg gegen den Schlaf ankämpfte, hörte ihn leise sprechen oder in unheimlicher Stille durch die Wohnung schleichen.

Sooft er durch sein Zimmer kam, stellte Robert sich schlafend. Hinter seinen Lidern wurde es schwarz, da war der Vater zwischen das Nachtlicht und das Bett getreten. Manchmal ging die Finsternis schnell vorüber, manchmal hielt sie länger an, und das Kind vernahm über sich die schweren Atemzüge des Vaters. Wenn er endlich gegangen war und das Nachtlicht auf der Kommode wieder grüngoldne Dämmerung verbreitete, richtete das Kind sich auf, um zu lauschen. Hinter der lautlos geschlossenen Tür begann ein Wispern, im Flur läutete das Telefon, und die Stimme des Vaters rann leise und einschläfernd. Während der ganzen Zeit verließ die Großmutter nicht ihren Platz im Erker. Zuweilen rief ihr der Vater ein Wort zu, und sie antwortete gedämpft. Im Übermaß der Spannung drückte Robert das Gesicht in das Kissen und schluchzte auf.

Eine wonnige Bedrückung lastete auf ihm, ein Schrecken, der beseligend über ihm kreiste, sooft der Docht auf der Ölschicht des Nachtlichtes sich drehte und das Zimmer davon ins Schwanken geriet. Er wußte aus Erfahrung, daß er auf eine Frage keine richtige Antwort bekäme (die Mutter sei bei Verwandten und nicht ganz gesund). Er hätte auch nicht gefragt, wenn eine deutlichere Antwort zu erwarten gewesen wäre. Auf der Suche nach der Mutter verloren sich seine Gedanken in eine unbestimmte Ferne, und doch fühlte er sie ganz nahe – er war nur zu müde, die Fenstervorhänge und den Winkel zwischen Schrank und Türe im Auge zu behalten. In diesen Nächten hatte er oft den Traum vom abziehenden Gewitter.

Zweifellos war bei einem der ersten Gewitter, die er bewußt erlebte, der Eindruck nachträglicher Erlösung und Erquickung stärker gewesen als der vorausgegangene Schrecken. Er empfand keine echte Angst, im Gegensatz zur Mutter, die schwach und elend wurde, sobald sie das Gewitter in der Luft spürte, und nachher viele Stunden brauchte, um sich zu erholen. Während das Unwetter tobte, wartete er in halber Bewußtlosigkeit, bis mit den seltener werdenden Blitzen, mit der zu einem Murmeln herabsinkenden Stimme des Donners jenes andre heimliche Ungestüm einsetzte, für das ein einsam über den aufheiternden Himmel jagendes Wölkchen auf immer das Zeichen blieb. Er lief dann durch die Zimmer, öffnete die Fenster, hielt Gesicht und Hände in die einströmende Luft, war von unbändiger Freude erfüllt.

Dann hatte eines Abends der Blitz in das Nachbarhaus eingeschlagen und den Dachstock entzündet. Angesichts des Feuers, das sich im Fluß und in den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser spiegelte, war ein Entsetzen über ihn gekommen, das sich mit der Vorstellung des Gewitters verband. Seitdem teilte er die Leiden der Mutter, und nur im Traum noch lebte die köstliche Beschwingtheit weiter, wie er sie früher als Gipfel des Entzückens gekannt hatte. Nur im Traum noch, hier aber so mitreißend wie je, segelte die freudige Botschaft des Wölkchens über den aufheiternden Himmel.

Die häufige Wiederkehr des Traumes in dieser Zeit trug dazu bei, daß er die Abwesenheit der Mutter weniger als Ernst empfand denn als schauriges Spiel. Im Grunde war er überzeugt, sie mache Spaß und spüre dabei die gleiche lustvolle Angst wie er selbst, und nur wenn der Vater durchs Zimmer kam, beschlich ihn eine Ahnung, als ob aus dem Spaß plötzlich furchtbarer Ernst werden könnte. Doch erfüllte sich die Befürchtung nie.

Bei ihrer Heimkehr brachte die Mutter, ob sie allein kam oder in Begleitung des Vaters (der sie ›abgeholt‹ hatte), einen Sturm von Wiedersehensfreude und Zärtlichkeit ins Haus, der alles, was sich darin rührte, Verwandte und Freunde, Gerät und Geschirr, wie mit Duft und Licht und Musik durchdrang, und tagelang herrschte festliche Freude.

Für die Kinder war es eine hohe Zeit. Marie-Louise schenkte ihnen das gesamte Anwesen – von der Halle mit der breitgeflügelten Treppe, die sich für feierliche Auftritte eignete, bis zum Speicher im hintersten Quergebäude, wo sich einmal ein Mann wegen Weibergeschichten aufgehängt hatte. Sie überschwemmten die Wohnung und durften, ehrfürchtig verstummend wie in einer Kirche, das Erkerzimmer und die Großmutter aus der Nähe bewundern – der alberne Robby stand hinter der Tür und tat, als reiche er einem jeden beim Eintritt das Weihwasser. Gegen Abend brachte ihnen Vater Schmittlin in den Höfen verwegene Spiele bei, Offenbarungen selbst für die Jungens. Der gute Mann holte nach, was er in der eigenen Kindheit gezwungenermaßen versäumt hatte.

Einmal, an einem Vorfrühlingstag, als Robert das Riesenspielzeug von Chamisso für die Schule auswendig lernte, sandte Marie-Louise Eilboten aus, um die Kinder zu sammeln, und fuhr mit ihnen zum Schauplatz des Gedichtes. Die Nacht zuvor hatte es geregnet, so daß die Ebene sich ihnen als ein einziges Funkeln darbot, worin die Hopfenfelder mit ihren hohen Pfählen oder Spalieren gleich Lichtorgeln emporragten. Das Grün der noch ungleich sprießenden Wintersaat bedeckte die Äcker mit winzigen Leuchtkäfern, die sich in der Sonne zu rühren und übereinanderzupurzeln schienen – ein Eindruck, der durch die Bewegung des Zuges verstärkt wurde. Die Erde darunter war schwarz und locker, und es sah aus, als ob ständig neue Schwärme von Käfern aus der Erde hervorkröchen ... Die Wässerlein, die überall sprangen oder in glatten Bogen über die zur Bewässerung der Wiesen dienenden kleinen Wehre schossen, waren von reinstem Silber und Himmelblau. Etwas unsäglich Kindliches lag schlummernd in der Natur und regte sich mit leisen wie andeutenden Gebärden.

Eva Klein fand die Nebelschleier an den Flanken des bläulichen Gebirges ›außerordentlich kleidsam‹, der letzte, schimmernde Schnee der Gipfel aber brachte Lisa auf einen Gedanken: sie zog sich eilig in das WC zurück und biß ein schönes Stück von dem Talglicht ab, das, in Seidenpapier eingewickelt, als köstliche Schleckerei zuunterst in ihrer Tasche verwahrt lag.

Auf dem Weg von der Endstation zur Ruine sangen die Kinder in allen Tonarten:

»Burg Niedeck ist im Elsaß der Sage wohlbekannt,
Die Höhe, wo vor Zeiten die Burg der Riesen stand.
Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer,
Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.«

 

Die Ruine enttäuschte sie – die ›Höhe‹ war gering, zumal im Vergleich mit den Schneegipfeln, und die ›Stätte‹ tatsächlich wüst und leer. Die Riesen jedoch, die fanden sie, ohne danach zu fragen. Sie erkannten sie in jeder Gestalt, die in der Ferne auftauchte, und im Wald wimmelte es von ihnen. Es waren gewaltige, kerzengerade Gestalten, die, kaum, daß man hinsah, tückisch hinter die Bäume zurücktraten. Dieses Ausweichen und Sich-in-den-Hinterhalt-Legen der Riesen regte die Kinder maßlos auf. Jeden Augenblick erwarteten sie, daß eine der unabsehbar hohen Gestalten oder mehrere zugleich aus dem Wald, der unter der Sonne wie eine Waschküche dampfte, mit einem ungeheuren Sprung auf den Pfad setzte, und dann –. Sie sprachen so lange darüber, was dann geschehen würde, bis Lisa sie in Reih und Glied aufstellte und befahl, geschlossen vorzustoßen, um ›das Gesindel zu verjagen‹. Sie selber stellte sich an die Spitze des Trupps.

Zögernd folgte die Schar der Anführerin, die mehr hinter sich auf die Gefolgschaft als vor sich in den kochenden Wald blickte, während Marie-Louise mit den Kleinsten auf dem Pfad blieb und zu ihrer Beruhigung von Zeit zu Zeit »Hallo!« rief. Wenige Minuten später kamen sie schreiend zurück: sie hatten ein Reh aufgescheucht.

»Es ist ja auch Unsinn, solchen haushohen Kerlen unbewaffnet entgegenzutreten«, bemerkte Eva, als sie sich, dicht an Marie-Louise gedrängt, von ihrem Schrecken erholt hatten. »Was können wir da schon ausrichten mit unsern paar Haarnadeln.«

»Haarnadeln!« höhnte Lisa. »Haarnadeln!«

Sie wandte sich von den törichten Altersgenossen ab und zu Marie-Louise.

»Ich hab' natürlich auf die Jungens gerechnet«, erklärte sie.

»Und die sind natürlich zuerst weggelaufen. Ich wette, es hat nicht einmal einer ein Taschenmesser bei sich.«

»Zwei!« behauptete Emil. »Zwei Dolchmesser und einen Revolver.« Aber er weigerte sich, sie vorzuzeigen, und mußte auf Lisas Anordnung zur Strafe zehn Schritt hinter den andern hergehn, bis er gestand, daß er sein Waffenarsenal zu Hause vergessen habe.

»Na also!« rief Lisa mit einem verächtlichen Blick auf Eva. »Wo sitzt jetzt der Unsinn? Ihr habt mich einfach im Stich gelassen.«

Auf der Heimfahrt sagte Lisa zu Marie-Louise:

»Übrigens, Tante – du bist auch eine Riesin. Eine kleine, aber ausgewachsene Riesin. Wir Kinder sind Menschen, und ihr Erwachsenen seid Riesen.«

»Nein«, versicherte Marie-Louise. »Ich gehöre zu euch. Ich wachse noch.«

»Du willst wirklich ein Mensch sein?« fragte Lisa zweifelnd.

»Ja, das will ich.«

»Na, na! Ich wäre lieber eine Riesin.«

Am Bahnhof erwartete Schmittlin die Ausflügler mit zwei Kutschen. Er trug eine fremdländische, lachsrote Blume im Knopfloch, an der, nach Marie-Louise, alle riechen durften.

Edouards Gesicht, für gewöhnlich das Trauergesicht eines geistvollen Komikers, war in den Jubeltagen ein Himmel, den kein Federwölkchen trübte. Die Lippen bebten von Einfällen, die er nur nicht äußern konnte, weil ihm über der Fülle des Andrangs die Zeit dazu fehlte. Der aufwallende Quell seiner Augen speiste ein Leuchten, das auch seine Gestalt verwandelte, er war leicht, durchlässig, beschwingt, und wenn sich sein Rücken gelegentlich unter einer Last zu beugen schien, so war es der Rücken eines Atlas, der eine glückschwere Erde schaukelt.

Die Blume in seinem Knopfloch, bemerkte Lisa, dufte ›wie Honig mit Pfeffer‹. Als sie zum zweitenmal daran roch, spürte sie das Verlangen, schnell ein Stückchen von ihrer Talgstange abzubeißen, konnte aber trotz Umherspähens keine Gelegenheit entdecken, zu verschwinden.

»Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr«, murmelte sie erbittert. In der Tat sah sie um sich die Welt von lauter Riesen verstellt und unbenutzbar gemacht.

Danach kam der Kinderball.

Eva Klein war bei weitem die Schönste und Eleganteste von allen. Marie-Louise versicherte es ihrem Sohn nicht weniger als drei- oder viermal im Laufe des Abends. Er hörte es ungern, denn Lisa bestrafte ihn für die bezaubernde Erscheinung Evas, indem sie ihm aus dem Wege ging und feurige Blicke versandte, die, gut gezielt, haarscharf an seinem Kopf vorübergingen, wahrscheinlich, um andre Augen hinter ihm zu treffen. Als er sich einmal umdrehte, sah er, daß sie auf die Mauer gezielt hatte.

Bei der Damenwahl tanzte er mit Eva – Lisa war auf Vater Schmittlin geflogen. Der sang daraufhin berauschende Lieder, und Marie-Louise begleitete ihn teils am Klavier, teils mit der Gitarre. Lisa saß dicht vor dem Sänger und gab das Zeichen zum Beifall. Robert sprach den ganzen Abend kein Wort mehr mit ihr, und als die Kinder sich verabschiedeten, war er nicht aufzufinden. Lisa kicherte: »Ich weiß, wo er steckt. Da soll er nur bleiben.«

»Du bist eine Brutale«, flüsterte Eva ihr ins Ohr. »Der Mann, der dich kriegt, kann mir leidtun.«

»Soll er auch«, meinte die andre frech ...

Vor Empörung über Lisas Antwort konnte Eva in dieser Nacht lange nicht einschlafen.

 

Wie aber verhielt sich Grand'maman zu soviel Übermut? Nun, auch sie vermochte anscheinend der Lustbarkeit nicht zu widerstehn und thronte gelassen über einer wunderbar erleichterten Welt.

Auf ihre Weise liebte sie Marie-Louise. Ohne sie war es langweilig in Grand'mamans verödetem Reich. Das Haus mit allem, was es enthielt, schien zu träumen, die Köchin Gudula, die von ihr den Befehl erhalten hatte, versuchsweise auch einmal sparsam zu wirtschaften, stellte halbgares Gemüse auf den Tisch, das Frühstücksei roch nach südlichen Ländern, woher es kam. Grand'maman fühlte sich alt, die Kopfhängerei ihres Sohnes zog sie ins Grab. Deshalb sagte sie (und in den ersten Tagen nach Marie-Louises Heimkehr konnte man ihr auch glauben): »Vergnügt euch, Kinder! Der liebe Gott hat fröhliche Menschen gern.« Ihre Augen schwammen im Frieden der frühen Morgenstunde und Edouard grüßte: » Stella matutina, der Morgenstern...« Es war eine herrliche Zeit. Die Stundenschläge der Kirchen, als letzte und gewichtigste die des Münsters, waren Segenssprüche für das in den Mittelpunkt der Schöpfung gerückte Haus am Schiffleutstaden. Dann, es kam immer wieder überraschend, erfolgte eines Tages die gleichsam polizeiliche Verordnung: »So, Kinder. Morgen machen wir Aschermittwoch, wir kehren zu einem geordneten Lebenswandel zurück. Hoffentlich heißt es nicht wieder: auf bald!«

Und Marie-Louise schickte Eilboten aus, diesmal, um die Kinder vom Hause fernzuhalten.

Nach alledem erklärt es sich zur Genüge, warum Robert in jüngeren Jahren das Verschwinden der Mutter geradezu herbeisehnte. Erst als Lisa ihm eine Bemerkung ihres Vaters hinterbrachte, der zufolge die arme Marie-Louise gar nicht wisse, daß sie fortgewesen sei und erst recht nicht, wo sie sich aufgehalten habe, begann in ihm die Angst vor der ›komischen Krankheit‹ zu überwiegen – bis er sie eines Tages in jäher Erleuchtung mit der ›Familienschande‹ in Zusammenhang brachte, von der er Grand'maman bisweilen hinter der Hand sprechen hörte.

Sobald er in der Folge die dem Verschwinden der Mutter vorangehende Unruhe wahrnahm, wurde er krank – er bekam leichtes Fieber und erbrach. Vielleicht hoffte er, so die Mutter zurückzuhalten, und anfangs beruhigte sie sich auch über seiner Pflege. Kaum aber war er gesund, ging sie ihm in der Dämmerung verloren, als habe die Luft sie geschluckt.

Robert hätte geschworen, er sei ihr nicht von der Seite gewichen.


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