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»Jetzt sind die Männer oben«

Der Freudenruf flog als Angstschrei über den Platz wie denn der einzelne Mensch selten so leidenschaftlich schamlos ist, sich von der Freude öffentlich einen Schrei entlocken zu lassen, den die Angst ihm ohne weiteres entreißt – weshalb ein vereinzelter Schrei immer erst als Notsignal aufgefaßt wird.

Auf dem Platz standen nur noch wenige Gruppen von Erwachsenen. Bei Roberts Ruf verstummten ihre Gespräche, und alle guckten sie mit ihren dicken Köpfen zur Ecke der Krämergasse. Auch die Kinder hatte der Schrei in Alarmzustand versetzt.

»Achtung!« sagte Eva.

Von einer Gruppe lösten sich zwei Gestalten und marschierten auf die Ecke los.

»Sie kommen«, meldete Lisa.

In der Entfernung sahen die Riesen verhältnismäßig harmlos aus, doch wußten die Kinder sehr wohl, daß die Sonntagsschuhe, die so sauber und gewinnend an der Sonne glänzten, nur ihren Boden, den Boden der Kinder, zu betreten brauchten, um sich in stoßende und trampelnde Klötze zu verwandeln, zumal, wenn ihre Eigentümer unbeobachtet von andern Erwachsenen arbeiten konnten. Jene Freundlichkeit, die der Bürge der Gesittung ist, übten die Großen nur mit ihresgleichen als Zeugen. Zwar, die Kinder hatten es längst heraus, war die Freundlichkeit verlogen, dennoch ließ sich einigermaßen mit ihr rechnen, und insofern genoß sie als gelegentlicher Schutz ihre Achtung. Auf einen Satz gebracht, hieß dies: zwei und mehr auftretende Riesen sind nur ein halber Riese.

Obwohl demnach die Mädchen mit Genugtuung wahrnahmen, daß da zwei Väter heranmarschierten, trafen sie ohne Zögern die nötigen Vorkehrungen. Hinter den gesitteten Bewegungen der Väter verbargen sich Gewalten, die kein Naturereignis an Bösartigkeit überbot. Vor Blitz und Donner, vor wütendem Regen und Schnee konnte man sich schützen – vor der Zerstörungslust der Großen gab es keinen Schutz. Ihre Wildheit kannte keine Grenzen. Was im Bereich ihres Zugriffes lag, war dem Untergang geweiht. Es gab nur eine Rettung: Flucht nicht indem man davonlief, das half gar nichts, sie holten einen je doch ein, und außerdem saßen sie zu Hause an Tisch und Bett, den Quellen des Lebens. Nein, man mußte in sich selber hineinfliehn, sich in sich verkriechen, sich klein und unscheinbar machen und den also bezogenen Schlupfwinkel mit List verstellen.

Sobald sie nämlich nicht trampeln und zugreifen konnten, wurden die Großen reine Gegenstände – Kleiderpuppen. Ihre Hilflosigkeit forderte zum Lachen heraus, doch unterließ man es besser, um nicht zu verraten, daß man eigentlich gar nicht da war, sondern anderswo, an einem sichern Ort. Schlimmstenfalls bediente man sich der großen Zauberei: Man schloß die Klappen im Innern des Ohres, wodurch das Schimpfen der Erwachsenen zu einer vergleichsweise lautlosen Pantomime wurde. Man hätte ihnen endlos zusehn können, meinte Lisa: falls es möglich gewesen wäre, so lange stillzuhalten.

Ungeheuer wichtig war es, dem Aufmarsch der Riesen zu begegnen. Dann bildete man eine Festung mit soviel Türmen wie Menschen und soviel Schießscharten wie Augen und Münder.

Robert allein merkte weder das Nahen des Feindes noch die Vorbereitungen der Freundinnen, die, unter innern Druck gesetzt, mit jeder Sekunde mehr zu Bildern kindlicher Unschuld wurden. Und der Feind drang durch das unbewachte Tor in die Festung ein. Als Robert von dem Geschrei und Waffenlärm zu sich kam, waren die Riesen bereits über ihm.

»Edouard, ich fürchte, dein Sohn ist verrückt geworden«, empfing Frau Hedwig Walter ihren Schwager. »Wenn du ihn nicht sofort wegnimmst, ersticke ich.«

Ein einziger Griff des Vaters in die beiderseitigen Rippen veranlaßte Robert, die Tante loszulassen – er taumelte und streckte beide Arme aus nach einem Halt.

»Sie hat mich geschlagen«, entfuhr es ihm.

Verstört blickte er abwechselnd auf den Vater und den Onkel Doktor, dessen Kneifer nicht verriet, was dahinter vorging. Etwas Gefährliches konnte es nicht sein. Er hatte weiche Züge, langes, dunkles Haar, einen kurzen Spitzbart, er spielte mit der Uhrkette und hielt sich, als ob er seine Umgebung ärztlich beaufsichtige und im besonderen aufpasse, daß seine lebhafte Frau sich nicht gesundheitswidrig übernähme. Er bewegte den Kopf, da spiegelte der Kneifer den Himmel, und im gleichen Augenblick lächelte er. Ohne Zweifel war er der harmloseste der Riesen.

Robert faßte sich, und als Lisa hüstelte und er sie daraufhin ansah, glitt ein schwaches Leuchten über sein Gesicht.

»Ich weiß nichts«, sagte er sehr laut und senkte den Kopf.

»Schau mich an!« befahl der Vater.

»Ich weiß nichts«, wiederholte er unter heftigem Blinzeln.

»Idiot!« murmelte Schmittlin. Es klang weniger zornig als ehrlich bekümmert.

Ein zweites, lauteres Hüsteln Lisas erregte seinen Verdacht, mit einem Ruck wandte er sich um und ließ die Frage auf sie herabsausen, was das für ein Meßbuch sei, das sich vor ihr auf dem Boden herumtreibe. Lisa hob das Buch auf und begann gemütsruhig, es mit der Handtasche abzuwischen. Lucie Schön grinste.

»Weg von hier, wer nicht zur Familie gehört!« befahl Edouard Schmittlin, worauf Lucie und Emma sich nach einem überstürzten Knicks entfernten. Einige Schritte weiter, bei dem Kerzengeschäft, blieben sie stehn und verfolgten, während sie die Auslage prüften, mit verschwiegenen Seitenblicken die Bemühungen der Riesen. Schmittlin betrachtete sie voller Zorn. Emma hielt er für ungefährlich, ihr Vater, Besitzer einer Eisenhandlung in der Langgasse, war ein Sonderling, der die Kunden mit seiner Schweigsamkeit abschreckte. Aber Lucie – la fille unique de l'artiste! Französ. – das einzige Mädchen des Künstlers (Schauspielers)! Auch im Nebenberuf als Neuigkeitskrämer hatte er nicht seinesgleichen. Er kannte alle Leute in der Stadt. Erzählte man sich nicht, er sei den beiden Ertrinkenden, die er gerettet, nur aus Neugier beigesprungen, weil er vom Ufer aus nicht habe erkennen können, wer sie seien! Tatsächlich waren es zwei Fremde gewesen, ein Sachse und ein Pariser.

Schmittlin nahm sich vor, Robert den Umgang mit der Tochter des deutsch-französischen Lebensretters zu verbieten, zog aber den Beschluß mit Rücksicht auf die zu erwartenden Repressalien gleich wieder zurück. Und nun gesellte sich auch noch Lisas Zwillingsbruder Ferdinand zu den Ausgestoßenen – niemand wußte, wo er plötzlich herkam. In der Kirche hatte man ihn nicht gesehn.

Grand'maman hatte recht: die Walterschen waren nie, wo sie hätten sein sollen – sie kamen gewohnheitsmäßig zu früh oder zu spät. Und in der Zwischenzeit dachten sie darüber nach, womit sie ihre Mitmenschen ärgern könnten ... Gleich machten sich die Mädchen mit rasenden Schnäbeln über Ferdinand her, der Junge feixte. Dabei legten sie ein gewissermaßen schreiendes Anstandsgefühl an den Tag, indem sie ihre Augen überall umherschickten, nur nicht zum Schauplatz ihres Berichtes. Und diese Kanaillen heißen ,wohlerzogene Kinder', stellte Edouard für sich fest ... Erbittert über die beleidigenden Verstrickungen des Lebens, drehte er den Klatschbasen am Kerzengeschäft den Rücken und sah sich Eva gegenüber, die nach wie vor neben Lisa stand und seinem Blick mit jener Würde begegnete, wie Unschuld und Bewußtsein des gesellschaftlichen Ranges sie verleihen.

»Gehörst du zu unsrer Familie?« fragte er etwas unsicher.

»Leider nicht«, versetzte Eva, und Lisa bemerkte: »Oh! Was das anlangt – ich tausche gern mit ihr. Bitte sehr!« Dabei trat sie einen Schritt zurück.

Schmittlin warf ihrem Vater einen Blick zu, der nur ein Wort enthielt, dieses jedoch in Lebensgröße: »Ohrfeige!« Der Doktor verbarg sich hinter Haar und Kneifer – taten die Walterschen je, was sich gehörte?

Selten trat die dem Geschlecht der Riesen eigentümliche Plumpheit so deutlich zutage wie jetzt. Indes die Luft um die Häupter der Großen mit Gewalttätigkeit geladen war und sie mit schweren, hängenden Armen und gleichsam im Boden verwurzelten Beinen dastanden, glitt Eva leicht wie Luft an die Seite Roberts und ergriff seine Hand.

»Wie gern gehörte ich zu Ihrer Familie, Herr Schmittlin!« sagte sie. »Ich habe keinen Bruder.«

Der Riese rührte verlegen die Trauerlippen – Goliath war an den Kopf geschlagen. Grazie vermag mit der Macht des Blitzes zu wirken – nicht umsonst hielt Grand'maman ihren Edouard für eine ›verboten empfindsame Natur‹. »Was alles erklärt – lieber Gott, alles. Alles!«

»Gewonnen!« meldete Lisa, ohne die Lippen zu bewegen.

Sie irrte. Gewonnen war lediglich Hedwig Walter, die Eva gewaltigen Anlaufs in die Arme schloß und irgendwo in ihr Gesicht zwei Knallküsse springen ließ. Schmittlin hingegen äußerte verdrießlich, um ein so scheinheiliges Fräulein gedenke er seine Familie nicht zu bereichern.

Die Absage hinderte nicht, daß ihm über der leichtfüßigen Anmut Evas mit einmal die Sturheit seines Sohnes aufstieß, und er überfiel ihn mit der Frage: »Wer hat dich Elefantenküken denn geschlagen?«

»Niemand«, versetzte Robert sofort.

»Niemand?«

»Nein, Papa.«

»Da habe ich wohl vorhin falsch gehört?«

»Das kann ich bestätigen«, beteuerte Lisa, als Schmittlin erstaunt um sich blickte.

»Was kannst du bestätigen?«

»Daß du falsch gehört hast.«

»Jawohl«, bestätigte Robert. »Falsch gehört. Mich hat niemand geschlagen.«

Die drei Kinder blickten Schmittlin fest in die Augen, und obwohl er eines nach dem andern in steigender Empörung anblitzte, behielt ihr Blick unverändert den Ausdruck klarer Bestimmtheit.

»Ich muß es am besten wissen«, trug Robert nach.

Schmittlin nahm eine drohende Haltung an.

»Was mußt du am besten wissen?«

Robert, der die Ohrfeige in der Luft hängen fühlte, zog sich, ohne den Vater aus dem Auge zu lassen, langsam auf die Mädchen zurück: »Was ich gesagt habe oder nicht«, versetzte er.

Nun hielten die Kinder dort, wo sie gleich zu Beginn der Auseinandersetzung hätten halten sollen und auch gehalten hätten, falls Robert nicht überrumpelt worden wäre. Es gab nichts, was ihren Widerstand hätte brechen können, auch die Anwendung von Gewalt wäre vergeblich gewesen. Der große Augenblick war gekommen, da der Riese vor Empörung über die Frechheit der Zwerge erstarrte, um dann die wiedergefundenen Geisteskräfte ausschließlich darauf zu richten, das Riesengesicht mit Anstand aus dem Gefecht zu ziehen. Oh! Wie konnten die Großen zu rührenden Lämmchen werden, die ruckweise die steifen Beinchen hoben, ›mähmäh‹ machten und nicht wußten, wohin mit ihren kleinen, erschrockenen Sprüngen ...

»Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr«, raunte Lisa dem vor ihr stehenden Robert in den Nacken. Schmittlins Kopf füllte sich mit stürmischem Blut.

»Es ist lange her, daß du nicht logst – was? Darüber werde ich noch zu Hause mit dir sprechen.«

»Ja, aber wir sind Zeugen«, rief Lisa.

»Zeugen«, betonte Eva.

Alle drei blickten sie mit lächelnder Zuversicht zu Herrn und Frau Walter empor, und die Mädchen nickten noch obendrein. Es schien ihnen geradesogut, als hätten sie es bei der Polizei zu Protokoll gegeben.

Der Doktor schmunzelte und sah mit verliebten Augen von Eva auf seine Frau und von dieser auf Eva, die sein Wohlwollen weitherzig erwiderte. Die feurige Lisa, ihrerseits nunmehr mit Schmittlin beschäftigt, erreichte schnell jenen Zustand höchster Glut, von der Lucie behauptete, er bringe Menschen, Hunde, Katzen und den kleinen Robert zum Schmelzen. Als Lisa ihren Mund versuchsweise zu einem. Kußmäulchen vorschob, guckte Schmittlin zwar verdrießlich weg, konnte aber ein freundliches Kräuseln seiner Lippen nicht verheimlichen. Was folgte, war nur noch Musik.

»Sagt dir dein Beichtvater nicht, daß du dich nicht mit Jungens abgeben sollst?« fragte er gewaltig aufheiternd über die Achsel.

Vor Staunen konnte Lisa erst einmal nicht antworten. Wie merkwürdig! Immer verfügten Erwachsene über geheime Nachrichten, und immer blieb deren Ursprung dunkel ... Auch bewegte sich die Auseinandersetzung gerade noch in der Zwischenzone, wo es nicht feststand, ob man wieder die Wahrheit sagen durfte oder lieber noch damit abwartete. Sie beschloß, die Frage wahrheitsgemäß zu bejahen.

»Na und?« stieß Vater Schmittlin nach und gab mit einer Handbewegung zu verstehen, daß die Kinder ihre vorschriftsmäßige Spaziergangstellung zwei Schritte vor den Großen einnehmen sollten.

»Kommt bei mir nicht in Frage«, erwiderte Lisa. »Ich hab schon im Mutterleib mit einem Jungen zusammengehockt.«

»Hast du das deinem Beichtvater gesagt?« fragte Schmittlin entzückt.

»Gewiß doch«, versicherte Lisa.

Während sie sich, auf zwei Reihen ausgerichtet, in Bewegung setzten, vernahmen die Kinder in ihrem Rücken ein Munkeln und Kichern, das die völlige Entwaffnung der Riesen anzeigte.

Und als sich kurz vor den Gewerbslauben der Junge, mit dem Lisa schon im Mutterleib zusammengehockt hatte, zu ihnen gesellte, erhielt er den Bescheid: »Krach gehabt. Erledigt.«

Ferdinand schien es nicht zu hören. Er sah Robert durchdringend an, errötete und verschwand. Keiner wunderte sich – sie wußten, was dieses ›Erscheinen des Engels‹ bedeutete. Ferdinand fand es verächtlich, daß Robert ›sich an Mädchen verkaufte‹, und gab ihm seine Mißbilligung zu verstehn, indem er plötzlich wie das leibhaftige Gewissen vor ihm auftauchte.

»Der dumme Kerl ist noch immer in dich verschossen«, meinte Lisa. »Ich möchte nur wissen, was sie alle an dir finden.« Sie wandte ein wenig den Kopf zu Eva.

Statt errötend wegzublicken, wie Eva, die selbst errötete, bestimmt erwartet hatte, hob der Junge das Kinn und sagte: »Genau, was du an mir findest.«

Rasch fügte Eva hinzu: »Wer weiß – vielleicht ist Ferdinand der bessere Teil von euch Zwillingen.«

»Sicher ist er das«, bekräftigte Robert, und Eva mußte an sich halten, um den der Nebenbuhlerin, wie es schien, endgültig abgerungenen Boden nicht mit einem Tänzlein in Besitz zu nehmen.

Lisa lachte auf, aber es klang unecht, und Robert äußerte nur: »Na ja!«

Am Kléberplatz wurden Emma und Lucie gesichtet. Einem Wink Lisas folgend, huschten sie heran und reihten sich ein.

Hier pflegte sich Vater Schmittlin von den andern Riesen zu verabschieden und seinen Weg, nachdem er in der Konditorei den Nachtisch eingekauft, allein mit seinem Sohne fortzusetzen. Statt stehnzubleiben, verlangsamten die Kinder heute den Schritt und legten die Ohren zurück.

Es erfolgte kein Einspruch – ja, die bekannten Stimmen verschwanden spurlos unter fremden. Eva, leicht wie Luft, drehte sich rasch einmal um sich selbst und meldete unter einem Freudensprung, von den Riesen sei nichts mehr zu sehn, die Stätte sei öd und leer. Sie gingen schneller und liefen schließlich als ungeordneter Haufen in eine Nebengasse.

Den Befehl dazu hatte Robert gegeben. Nicht einmal Lisa hatte gezögert, ihn zu befolgen. Vor einer Stunde noch hätte sie widersprochen. Es war ein kühner Befehl – zum erstenmal rissen sie den Großen wortlos aus. Sie schritten schweigend und überlegten für sich, ob Lisa den Mut gehabt hätte, einen solchen Befehl zu erteilen, und die Kühnheit Roberts beschäftigte sie stärker als der Gedanke, wie einige von ihnen danach zu Hause empfangen würden.

In der Goldschmiedegasse trafen sie Emil, den Sohn des Zimmermanns, der im Schmittlinschen Hinterhaus wohnte. Er stand barhäuptig, die Hände in den Hosentaschen, vor einem Laden und bewunderte die vielfarbigen Würste, Pasteten und Salate.

»Wohin?« piepste er. Emil befand sich im Stimmbruch.

»Hände aus den Hosentaschen«, befahl Robert.

Der Junge zog die Hände heraus und sah verwundert erst auf Robert, dann auf Lisa.

»So. Spazieren«, sagte sie verlegen.

»Ich schenke dir meine Mütze«, eröffnete ihm Robert. Er reichte die rote Kappe dem Jungen, der sie aufsetzte und an das Schaufenster ging, um sich darin zu spiegeln. Robert machte es nicht das geringste aus, daß die freigelegten Locken eine Schwäche enthüllten, die mit Ausnahme Grand'mamans alle Welt bestritt und demnach vermutlich gar nicht wahrnahm. Die Mädchen betrachteten sein Haupt mit Wohlgefallen. Die früher stets als unangebrachte Tröstung aufgenommene Bemerkung Evas, Achill sei als Mädchen unter Mädchen aufgewachsen, fiel ihm ein und enthüllte den Vorsprung, den er zu allen Zeiten vor jenem Helden gehabt hatte. Er war nicht mit Mädchen aufgewachsen, sondern unter einer Großmutter, die für sich allein gefährlicher war als das ganze Volk der Trojaner.

»Prima-prima«, rief Emil und nickte sich im Schaufenster zu. »Da wird jemand gucken.«

»Dein Mädchen?« fragte Lucie.

»Mein Mädchen«, bestätigte er schlicht.

Sie platzten aus. Es war ein großes Ärgernis, daß niemand von ihnen das Mädchen kannte, obwohl er sie gern mit der Redensart ›Jetzt muß ich zu meinem Mädchen‹ plagte.

Er wurde sofort gezüchtigt.

»Wie machst du es bloß«, fragte Eva, »um Löcher in das Oberleder deiner Schuhe zu bekommen?«

»Ich habe sie alt gekriegt«, erklärte er. »Der Herr Vorgänger wird sie mit dem Absatz gekratzt haben.«

Lisa ihrerseits behauptete: »Mit der Kappe siehst du aus wie verkleidet. Und vorhin hast du schon wieder gepiepst, du armer Junge! Und so was spricht von seinem Mädchen!«

Emil räusperte sich und rief mit rauher Stimme: »Ihr Weiber piepst ja euer ganzes Leben lang! Was wollt ihr denn eigentlich? Ihr kommt aus dem Stimmbruch überhaupt nicht heraus. Und du – du hast hier überhaupt nichts mehr zu sagen. Das merkt ein Blinder.« Er reckte sich und musterte Lisa.

Emil spielte gern den erwachsenen Arbeiter. Wenn man ihn so ansah, wie er die Schultern im Gelenk bewegte und den Kopf drehte, hätte man ihn fast für einen ausgewachsenen Zimmermann gehalten. Früher spuckte er dazu, aber das hatte Lisa ihm abgewöhnt. »Ich schenke dir Schokolade«, sagte Lisa mit einem Blick auf die rote Mütze.

Emil grinste und antwortete im Weggehn: »Hilft nichts. Jetzt sind die Männer oben. Und von Mädchen nehme ich überhaupt nichts.« Er drehte sich um: »Außer Liebe, versteht sich.«

»Du bist ein Simpel«, rief Lisa und, zu Robert gewandt: »Ich möchte nicht dabeisein, wenn Grand'maman herausbekommt, daß du deine Mütze verschenkt hast. Und sie bekommt es heraus, mein Lieber!«

»Ich werde auch mit Grand'maman fertig«, verkündete Robert.

»Mit Grand'maman?« rief sie voll strahlenden Unglaubens, und ohne Übergang schlug sie vor, die Eltern zu suchen und sich unbemerkt an sie heranzuschleichen. »Wenn einer sich verlaufen hat, so sind sie's, nicht wir – verstanden?«

»Falsch«, sagte Robert. »Falsch und feige. Wir gehn nach Hause, und wenn sie kommen, sind wir längst schon da.«

»Wieso ist das tapferer?« erkundigte sich Lisa.

»Na, weißt du!« kreischte Lucie. »Das ist doch klar.« Emma Hämmerle, sonst die dienende Demut selbst, erkühnte sich zu einem Hohngelächter. Und Eva sprach ehrlich erstaunt: »Ich hätte nie gedacht, Lisa, daß du so dumm bist.«

»Abgemacht«, sagte Robert. »Wir warten.«

Nunmehr ergriff Lisa die einzige Maßregel, von der sie sich angesichts der Rebellen einen Erfolg versprechen konnte. Sie warf Robert einen schmerzlich empörten Blick zu und entfernte sich stumm. Langsam folgten die andern.

»Du mußt laufen, Robby«, brach Eva das Schweigen. »Sonst ist dein Vater vor dir zu Hause.«

Der Rat war gut und kam ihm gelegen.

Er rief »Auf Wiedersehn!« und setzte sich in Trab. Ein Stückchen lief Eva neben ihm her, um ihm zu sagen: »Sei nicht traurig, Robby. Sie kommt wieder.«

»Bah!« machte er.

Sie ließ sich nicht täuschen, lief noch ein Stückchen: »Sie läßt dich nicht fahren.« Eva atmete tief. »Sonst hole ich sie.« Sie blieb stehn und bog, ohne zu den beiden Mädchen zurückzukehren, in die Kinderspielgasse ein.


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