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Grundsätze und Versuchungen

»Warum hast du der Walterschen Lisa gesagt, daß wir hier in Unfrieden leben?« fragte Grand'maman, und Robert antwortete: »Weil es wahr ist.«

»So ... Weil es wahr ist ... Willst du mir gefälligst sagen, wo du hier Unfrieden bemerkst? Heute? ... Gestern? ... Bitte, mein Junge ... Vorgestern? Sollen wir bis zu deiner Geburt zurückgehn?«

Robert schwieg. Die Großmutter hatte ihren Gerichtstag wieder einmal gut gewählt, aller Vorteil lag greifbar auf ihrer Seite. Es waren die Tage, da sie sich in der Dankbarkeit der ganzen Familie sonnte. Marie-Louise war heimgekehrt, die üblichen Festlichkeiten hatten gestern ihren Abschluß gefunden, für heute war Aschermittwoch befohlen, aber Große und Kleine fühlten sich vom lauen Atem des Friedens umweht und hegten nur einen Wunsch, den seltenen Gast möglichst lange bei sich zu behalten.

Der Junge versuchte, sich aus der Schlinge zu ziehen, indem er feststellte: »Es ist auch schon lange her, daß ich das zu Lisa gesagt habe.«

Eigentlich war Grand'maman entrüstet, daß er gar nicht zu leugnen versuchte.

»Du sprichst von einer Unwahrheit, von einer Handlung also, die eine niedrige Gesinnung verrät, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt und das Datum allein, wann du sie begangen, von einiger Wichtigkeit. Und das deiner Großmutter mitten ins Gesicht!«

»Soll ich dich beschwindeln?« meinte Robert, »ich sage, wie es ist.«

»Jetzt handelt es sich nicht darum, ob du mich beschwindeln sollst (was für ein ordinärer Ausdruck!) oder ob du angeblich sagst, wie es ist, sondern darum, daß du deine Großmutter verleumdet und die ganze Stadt angelogen hast.«

Robert riß die Augen auf: »Die ganze Stadt?«

Es waren die warmen, tiefgründigen Augen Marie-Louises, deren Harmlosigkeit Grand'maman neugierig und kampflustig stimmten. Sie verglich sie mit einem Wasser, in dem einer lautlos ertrinken kann, ohne daß man es der Oberfläche ansieht: ›Die spiegelt nach wie vor den Himmel, gewiß doch, die stillen Wässerlein haben das so an sich‹.

»Jawohl, mein Junge«, erklärte sie, »die ganze Stadt. Was du einer Walterschen vorlügst, lügt sie weiter, bis die Stadt es weiß. Vorher gibt es keine Ruhe.«

»Verzeihung, Grand'maman! Lisa ist verschwiegen wie das Grab«, behauptete Robert.

»So. Wie das Grab ... Vielleicht wenn sie drinliegt. Keine Minute früher.«

Gespannt beobachtete sie die Wirkung des Streiches, den sie ihm versetzt hatte. Er war für seine Freunde empfindlicher als für sich selbst, zumal wenn es um Lisa ging, in die er genau so blödsinnig verliebt war wie der arme Edouard in Marie-Louise, und die es sich auch gefallen ließ – nur daß die junge Waltersche die Krallen hervorkehrte, statt sie in ihre Samtpfoten einzuziehn. Und das gerade reizte den Jungen – Grand'maman verstand es nur zu gut.

Sie sah, wie Robert erbleichte und die Hände ballte: ein kleiner Edouard, über den der Jähzorn kommt. Freilich wurde er neuerdings blaß statt rot, und zwar, seitdem er mannbar geworden war, ein Umstand, der sie mit einer seltsamen, ihr selbst wohl unverständlichen Befriedigung erfüllte.

Sie fand es vornehmer zu erbleichen, als zu erröten – auch tapferer. Denn wer rot anläuft wie ein Krebs, geht auch rückwärts wie ein Krebs, während der andre gefährlich werden kann in seiner Blässe.

Grand'maman, die gleichsam im Fleisch der Familie knetete und arbeitete, beobachtete ihn genießerisch und nicht ohne Stolz, wußte sie doch, daß der Junge sich, darin dem Vater ungleich, in der Gewalt behalten würde, und in dieser Selbstbeherrschung erblickte sie geradezu die Krönung ihrer Erziehungskunst: den unbequemsten Erbfehler der Familie Schmittlin hatte sie im Enkel ausgerottet.

So ergriff sie denn seine Hand und sagte beschwichtigend: »Laß nur, mein Junge! Du beherrschst dich wie ein Mann. Du imponierst deiner Großmutter. Die Lisa ist auch nicht die Schlimmste. Sie gefällt mir. Sie ist ein Kerl. Man weiß wenigstens, woran man mit ihr ist.«

Und jetzt sagte sie etwas, das Robert nie von ihr erwartet hätte. Es verursachte ihm eine körperliche Erschütterung, und als der Stoß vorüber war, blieb eine große Verwirrung zurück. Sie sagte es zögernd, mit einem wunderlichen Lächeln. Sie sagte: »Vielleicht kann ich durch Lisa in dein Herz gelangen?«

Sie nahm seinen Kopf in die Hände und sah ihn an. Stella matutina, der Morgenstern ... Ihr Blick strömte wie Himmelsmilch in seine Adern. Et machte sich steif gegen die Milde, die ihn zauberhaft umspann. Er wollte etwas sagen, das den Bann brechen und ihm die Freiheit zurückgeben würde. Er öffnete den Mund, da zog sie ihn an sich, küßte ihn langsam, beinahe feierlich auf die Stirn, die Wangen, die Augen. Er spürte, wie der süßliche Hauch ihres Mundes sich von seinem Gesicht aus über den ganzen Körper verbreitete. Er fühlte ihn auf der Zunge, er schmeckte nach geronnener Milch, nicht mehr süß, sondern sauer. Ihm war, als ob seine Haut vom Kopf zu Füßen wie Milch gerönne. Angewidert drehte er den Kopf weg.

Sie umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Du darfst dich vor deiner Großmutter nicht ekeln, Kind ... du darfst dich nicht ekeln ... Großmütter sind große Mütter. Verstehst du? Große Mütter! ... Nur Großmütter verstehn zu lieben. Glaube mir, Kind! Alles andre heißt Affenliebe – die Engel verhüllen ihr Gesicht davor ... Ich will dich zu einem Mann machen, zu einem großen Mann! Keiner soll dir über den Kopf wachsen! Strahlend sollst du zwischen den Zwergen einhergehn, ein Kreuzfahrer, ein Ritter. Du mußt einer armen, durch Weichheit und Lüge verdorbenen Familie die Ehre wiedergeben ... Wer sollte es denn tun, wenn nicht du! Ich bin zu alt. Ich gebe meine letzte Kraft an dich, sie soll mit dir wachsen – wachsen ...« Sie herzte ihn wie einen Säugling, denn in ihrem Leben hatte sie nie etwas anderes geherzt, und da er ein großer Junge war und beschwerlich zu handhaben, tat sie es mit rührend ungeschickten Bewegungen, die ihm tiefer und tiefer ins Gemüt drangen, ob er sich gleich dagegen sträubte. Vielleicht waren es Erinnerungen aus der frühesten Kindheit, die aufstiegen und ein warmes Dunkel um ihn legten, ihn jeden Gedankens beraubten und ihn nichts andres empfinden ließen als ein ungeheures Wohlsein. Je mehr er in ihren Armen erweichte, um so inbrünstiger wurde ihr Geflüster, sie wiegte sein Herz, und als sie keinen Widerstand mehr wahrnahm, wurde ihr Geflüster zu einem leisen, ganz leisen, zu einem unendlich vorsichtig jubelnden Gesang.

Aber sie war nicht glücklich über die unerwartete Wendung, die ihr erlaubte, sich der Liebe zu dem Enkel zu überlassen. Es war mehr als nur die Liebe zu dem Enkel, alle in der Schöpfung angesammelte Liebe kam mit der Unwiderstehlichkeit eines Dammbruchs über die alte Frau, eine Großmut ohnegleichen hob sie auf den Wellen ihres Atems empor. Aber sie war nicht eine Sekunde lang der Seligkeit gewiß. Sie fühlte sehr stark das Glück, das aus ihr sang, sie besaß es nicht. Sie zitterte vor dem Augenblick, da sie in ihrem Gefühl gestört würde, sie sah sich von einer feindlichen Welt umringt, die darauf lauerte, ihr das Kind aus den Armen und die Freude, in der sie nicht aufgehen konnte, die aber doch in ihr war wie ein Segen, mit einem Ruck aus der Brust zu reißen. Während sie kleine, jubelnde Laute ausstieß, die an ein Schwalbengezwitscher erinnerten, haßte sie, haßte mit einer Kraft, wie nur die Furcht sie kennt, mit einer Gewalt, die stärker war als alle Liebe. Ihr Dasein auf dieser verräterischen Erde, ihr unwahrscheinliches, innerlich so wildes Leben erschien ihr vertan, abgeschieden, gespenstisch, eine krampfhafte Lüge von Anbeginn, sie sang ihr irres Wiegenlied und wäre gern darüber gestorben, damit alles endlich wahr und einfach würde. Und dann verstummte sie.

Als Robert eine Bewegung machte, um sich von ihr loszulösen, hielt sie ihn an den Armen fest und fragte: »Ekelst du dich?«

Bevor er antworten konnte, befahl sie: »Sag' nein! Du sollst nein sagen! Lüge – aber sag' nein!«

»Nein«, stieß er hervor.

»Hast du jetzt gelogen?«

»Nein.«

Sie ließ ihn los, und Großmutter und Enkel blickten aneinander vorbei, glühend vor Scham, als kämen sie aus dunkeln und verbotenen Bezirken.

Er hielt bereits den Türgriff in der Hand, da rief sie ihm nach: »Leben wir hier in Unfrieden?«

»Nein«, rief er in höchster Beklemmung.

»Dann sag es der Lisa, damit sie es der Stadt weitererzählt.«

 

Das Leben des Kindes besteht zur Hälfte aus seinem eigenen, unverfälschten Dasein, zur andern aus einer Parodie der Erwachsenen. Da seine Selbstkontrolle gering ist, vollzieht sich seine Entwicklung sprunghaft, nicht gradlinig. Nach Rückfällen von mehr oder minder langer Dauer in einen Zustand, den man überwunden glaubte, folgen überraschende Aufbrüche, was bisher galt, scheint verworfen: das Kind bewegt sich triebhaft in einer bestimmten Richtung, von der es plötzlich ohne ersichtlichen Grund wiederum abläßt. Das logische Gerüst wird dem Kindesleben erst nachträglich eingebaut, von Erwachsenen, die längst die Unschuld des Wilden verloren haben.

Es ist der ungeheuerliche Reiz der Kindheit, daß sie die Vergangenheit der Menschheit darstellt, in Wesen verkörpert, denen wir notgedrungen auferlegen, für die Gesittung, also gegen sich selbst, im Dienst ihrer eigenen Unterwerfung und Entzauberung zu leben – eine Welt, in der die meisten, kaum daß sie ihr entwachsen sind, sich nicht wiedererkennen. Von keinem fernen Land kommst du so weit zurück wie von deiner Kindheit. Alles echte Gefühl, alle Ursprünglichkeit (das Wort besagt es), die du in die Wüste der Erwachsenen hinüberrettest, stammt aus verschütteten Quellen. Einst war deine Welt im Übermaß mit ihrer Frische gesegnet.

Das Kind wächst nicht auf wie eine Pflanze, nicht einmal wie ein Tier – so glücklich ist es nicht. Sehr früh empfindet es den erbarmungslosen Druck, den die Gesellschaft auf das Stück Wildheit in ihm ausübt, und schützt sich, wie die Schwächeren sich von jeher geschützt haben. Unter den Kindern gibt es reine Genies, alle aber sind tragische Helden, dem sicheren Untergang geweiht. Wieviel Anstrengungen sind nötig, um aus dem einmaligen Fall, dem Ausbund von Einbildungskraft und Erfinderglück, dem Kind, einen Angestellten zu machen! Als Trost läßt sich sagen, daß auch der größte Dummkopf unter uns einmal ein Kind war, und wenn du einem eigenartigen Menschen begegnest, so kannst du gewiß sein, daß er einen großen Sieg errungen hat, der ihn wie ein Glanz aus einer fremden Welt umgibt: es ist der Gesellschaft nicht gelungen, das Kind in ihm zu ermorden.

Ein unglückliches Kind ist eines, das (ob gut oder schlecht veranlagt, ob arm oder reich, ob von Natur schwermütig oder heiter) nicht Kind genug sein darf. Alle andern Bezeichnungen treffen daneben, weil sie den Forderungen und Erfahrungen der Erwachsenen entnommen sind.

Die erste Rebellion des Kindes heißt: die Lüge. Sie hat alle andern Revolutionen im Gefolge.

Da ist immer jemand, der auf die Lüge des Kindes lauert, da ist immer noch die Schlange aus dem Garten Eden. Da ist jemand, der weiß, du kannst ohne Lüge nicht leben. Und tatsächlich scheint die Lüge nicht, wie geschrieben steht, der Tod, sondern im Gegenteil das Leben. Während dein Erzieher in dir die Lüge verfolgt, die nur dir allein von Nutzen ist, lehrt er dich die Lüge, die der Sippe, der Gemeinschaft nützt. Er lehrt dich die Gemeinschaft, er lehrt dich das Leben, er lehrt dich die gute Lüge. Dein mangelndes Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse bereitet ihm Qualen. Denn es ist nicht dein ›Gut‹, dein ›Böse‹, das er dir einbläut. Es kommt auf die Härte deines Schädels an, wie lange du brauchst, um das Gesetz zu begreifen. Den Umfang der Vergewaltigung ermißt du aber erst, wenn du selbst so weit bist, daß du Kinder erziehst. Und dann hältst du es mehr oder weniger, wie man es in deiner Kindheit mit dir gehalten hat. Wir lernen ebensowenig von unsrer Kindheit wie die Völker aus ihrer Geschichte. Was tun? Wenn wir das Kind von der Familie befreien, überliefern wir es noch viel gefährlicheren Mächten. Großmutter Schmittlin war eine kluge Frau und wußte auch darüber ziemlich Bescheid. Sollte sie deshalb ruhig zusehn, wie ihr Enkel die Grundpfeiler der menschlichen Gesittung bedrohte? Natürlich fürchtete sie weniger für die Gesittung als für den Enkel, der sich dagegen empörte. In der zivilisierten Welt ist ein Wilder verloren. Die Welt wird nicht ruhen, ehe sie ihm; nicht die Knochen im Leib zerbrochen hat. Der Gedanke an den blutigen Kürassiersäbel verließ sie nicht mehr, so lange es her war, daß Amanda ihn triumphierend vorgezeigt hatte. Mit Schaudern malte sie sich die Schlacht aus, an deren grausigem Spiel sich die Kinder im Speicher ergötzt hatten, die zerschmetterten Weinflaschen klangen ihr noch immer in den Ohren. Über den Vermögensverlust, den die Trümmer darstellten, hatten erbitterte Auseinandersetzungen mit Edouard stattgefunden. Auch dies vergaß sie nicht, denn dabei hatte sich der Leichtsinn des Sohnes, dem ihr Vermögen anvertraut war, in haarsträubender Weise erwiesen. Er hatte ihr einfach ins Gesicht gelacht! In ihren Träumen sah sie ihn dastehn und lachen ...

Zu diesen Bildern trat jetzt noch ein andres hinzu: der grausame Zug in Roberts Gesicht, mit dem er auf ihre Frage, ob er sich vor ihr ekle, nein gesagt hatte und auf die folgenden Fragen immer nur: nein, kurz und heftig, als ob er sie sich mit einem verächtlichen Stoß vom Leibe halte. Gleichzeitig gefiel ihr der Anflug von Gewalttätigkeit an ihm, sie empfand ihn als männlich, und nur die Richtung, in der sich der Wille bewegte, schien ihr verkehrt. Wenn er nicht umkehrt, dachte sie, endet er auf der Barrikade oder auf dem Schafott. Sie wünschte ihm eine bürgerliche Laufbahn.

Während Grand'maman solchermaßen die Überlegenheit des geborenen Feldherrn wiederfand und auf ihrem Platz im Erker damit beschäftigt war, die zersprengten Truppen neu zu ordnen, suchte Robert die beiden Höfe nach den Schlupfwinkeln ab, in denen die Kinder früher Versteck gespielt hatten. Er wußte nicht recht, wollte er sich selbst verstecken oder andre aus ihren Verstecken heraustreiben. In diesem und jenem dunkeln Loch verweilte er länger und versenkte sich in die Erinnerung an die Umarmung der Großmutter. Die alte Frau, dunkel gegen die hellen Fenster des Erkers, wurde größer und größer, sie wuchs wie ein Schattenbild, dessen Gegenstand näher kommt. Eine Riesin, viel größer als der Erker, der sie nicht mehr faßte, hob ihn mit einer schwarz durch das Zimmer fegenden Armbewegung empor und steckte ihn in ihre Schürze. Eine Weile, er hielt atemlos still, streichelte sie ihn – ähnlich wie sie manchmal Gudulas Katze, die sie für gewöhnlich verabscheute, auf ihren Schoß nahm und mit steifen Fingern durch ihr Haar strich, bis es knisterte.

Als er es im Geiste knistern hörte, schüttelte er sich angewidert, sprang auf, lief weiter. Die Gestalt hörte nicht auf zu wachsen, sie büßte die menschlichen Züge ein und wurde zu einem Ungeheuer, das finster und unbeweglich vor der untergehenden Sonne hockte.

Auf der Treppe zum oberen Speicher begegnete er Emils Vater, einem älteren, etwas fetten Männchen. Der Polier kam großartig die Treppe herunter, als Vorturner der Arbeiterriege Vorwärts, der er vor zehn Jahren gewesen war – Robert hatte ihn noch nie in diesem Aufzug gesehn. Er trug weiße Hosen und Turnschuhe, Hose wie Schuhe waren sichtlich zu eng, aber seine Schritte federten, auf jeder Stufe schien er zum Absprung anzusetzen, als wollte er die Treppe hinunterfliegen. Ein Lederriemen hielt die Hosen auf den prallen Hüften fest, und die Schnalle blitzte.

Erst dachte Robert: Er wird droben ein bißchen geturnt haben.

Gleich darauf kam ihm ein andrer Gedanke. Der Zimmermann blieb zögernd stehn, und als Robert sich wortlos an ihm vorbeidrückte, hüstelte er und sagte sehr laut: »Guten Tag, Robert!« Der Junge warf einen Blick zurück auf das ergrauende Haar, das der Polier sauber und gebrauchsfertig als Schuhbürste trug, trat einen Schritt in den Speicher hinein und wartete, bis die Schritte verklungen waren.

Auf den Fußspitzen schlich er weiter. Ein Sonnenstrahl, der durch eine der Dachluken fiel, bildete eine Wand aus flimmerndem Goldstaub. Sie reichte vom Boden bis unter das Dach. Offenbar hatte der Wind sich damit vergnügt, die draußen herumfliegenden Pollen der Weidenkätzchen zu sammeln, um an einem stillen Ort eine Mauer daraus zu machen, und Robert, in einem Vorgefühl von Grauen und Wonne, schritt wie durch ein Tor zum geahnten Geheimnis.

Er entdeckte sie hinter den Kulissen des Theaters. Die alten Säcke, die einst zur naturgetreuen Nachahmung einer Pyramide gedient hatten, bildeten ein Lager, und dem Jungen leuchtete plötzlich ein, was das rätselhafte Wort ›Lotterbett‹ bedeutete. Auf dem Lotterbett lag Amanda. Als sie ihn erblickte, richtete sie sich auf und zog hastig den Rock über die Knie.

 

Nach dem Abendessen ließ Grand'maman ihn zu sich ans Bett kommen und legte ihm folgendes dar: »Selbst, wenn es wahr wäre, daß wir in Unfrieden leben, dürftest du es nicht sagen. Du blamierst deine Familie, du gibst sie dem Gespött und der üblen Nachrede preis. Du hast zu deiner Familie zu halten. Und damit basta. Sie ist dein einziger, wirklicher Freund, der einzige, auf den du dich verlassen kannst, wenn es schiefgeht. Alle andern lauern darauf, dir zu schaden. Jede Familie muß sehn, ihre eigenen Angehörigen vorwärtszubringen, nicht die einer andern Familie, denn die stehn den eigenen Leuten im Weg. So viel Platz gibt es nicht auf der Welt, daß es allen gut gehn könnte. Mein armes Kind, das Leben ist eine einzige Rauferei, jeder will es gut haben, hörst du? Jeder, und jeder guckt jeden einzig und allein darauf an, ob er ihm zur Erreichung seines Zieles behilflich sein kann. Es kommt darauf an, wer den andern ausnutzt. Und in dem Handgemenge, mein Kind, gibt es nur eine sichere Stütze für dich, das ist deine Familie. Wenn du deine Familie verrätst, verrätst du dich.«

»Verrate ich meine Familie, wenn ich die Wahrheit sage?« fragte Robert.

»Jawohl, das tust du. Du schadest uns und damit dir. Verstehst du das nicht?«

»Nein, Grand'maman. Eine Lüge ist eine Lüge.«

»Und ein Dummkopf ist ein Dummkopf. Mach gefälligst, daß du fortkommst.«

Es war hoffnungslos.

Das Waltersche Blut hatte die Rasse verdorben.


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